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II

Es war eine wunderliche kleine Gesellschaft, die nach der Pfeife meiner Mutter hatte tanzen lernen sollen; ein Elefant, ein paar Bären, ein widerspenstiges Böcklein und, als besonderes Schaustück, zwei gelehrige Pudel. Wie mochte die Ärmste sich mit diesen Schülerinnen abgequält und was mochte es sie gekostet haben, ihnen wenigstens die Kunststücke beizubringen, die sie zuletzt machen konnten.

Ganz unerfahren im Unterrichten, suchte ich nun meist durch größere Energie die Faulen aufzurütteln, und sie fühlten denn auch bald die festere Hand. Die Eltern merkten den neuen Wind, der wehte, auch, und ich sah zufriedene Gesichter. Am meisten war meine Mutter erfreut, daß alles so gut ging, und daß die Kinder nun doch noch einen tüchtigen Lehrer hatten.

»Mutter,« rief ich lachend. »Ich verstehe nicht mehr davon als du. Ich muß das Unterrichten erst lernen. Die armen Bälger sind meine Versuchskaninchen. So meine ich denn, wenn ich es fortsetzen soll, ich muß erst selbst wieder Unterricht nehmen: denn wie soll ich lehren, wenn ich nichts gelernt habe?«

Sie sah das ein, und, wie sie war, dachte sie sogleich an Rat. Sie hatte denn auch schon nach einigen Tagen von der Frau unseres Hauswirtes eine Empfehlung an einen vielbeschäftigten Musikpädagogen in der Tasche, der bestimmt werden sollte, mich für ein billiges zu unterrichten. Nicht ohne Herzklopfen ging ich zu ihm; er empfing mich jedoch sehr freundlich: er wolle sehen, was er für mich tun könne. Er nötigte mich sogleich an den Flügel, fragte, wie weit ich es denn schon gebracht hätte, und legte mir Mozarts Sonate facile aufs Pult. Ich hatte die Sonate zwar seit meiner Kindheit nicht mehr gespielt, glaubte aber, gut damit bestehen zu können. Die Angst fuhr mir aber doch nach den ersten Takten in die Finger, und das Passagenwerk, das gerade bei Mozart die größte Fazilität erfordert, geriet recht holprig, so daß ich am Ende mit einem roten Kopf dasaß. Der Professor schien aber nicht unzufrieden zu sein. »Gut,« sagte er, »es wird gehen; zuerst dürfen Sie natürlich nur technische Übungen spielen. Wie ist es mit den Tonleitern?«

Ich war nur froh, daß er mich nicht gleich abgewiesen hatte, und spielte meine Leitern so gut, wie ich es eben vermochte.

»Nun, es wird sich schon machen,« meinte er. »Kommen Sie morgen wieder. Paßt es Ihnen von sieben bis acht Uhr?«

»Von sieben bis acht Uhr habe ich zu unterrichten,« sagte ich kleinlaut, denn ich schämte mich, daß ich Stümperlein schon andere etwas lehren wollte.

»So früh schon?« fragte er verwundert, was ich abermals auf meine Überhebung bezog.

Er hatte es aber anders gemeint: ich sollte schon des Morgens um sieben Uhr bei ihm antreten. »Ist es Ihnen zu früh?« fragte er.

»Nein, gewiß nicht,« versicherte ich und fragte schüchtern: »Und wie hoch ist das Honorar?«

»Mein niedrigster Preis ist sechs Mark für die Stunde,« war die niederschlagende Antwort. »Aber wie ich höre, können Sie soviel nicht zahlen. So will ich es Ihnen auf die Hälfte ermäßigen. Drei Mark sechzig, ist Ihnen das recht?«

Ich wunderte mich, daß die Hälfte von sechs Mark drei Mark sechzig sein sollte, wagte aber nichts einzuwenden, überschlug schnell, daß ich es eben würde aufbringen können und sagte: »Ja, ich danke Ihnen sehr.«

Die Mutter war entsetzt über das viele Geld, das ich zahlen sollte. Ich beruhigte sie aber. Je mehr ich gelernt hätte, je höhere Preise könnte ich dann selbst fordern.

Ich ging nun wöchentlich zweimal in frühester Morgenstunde zu meinem Professor, und die Mutter mußte an diesen Tagen etwas von ihrer Nachtruhe opfern, denn sie wollte es sich nicht nehmen lassen, mir meinen Kaffee zu bereiten und zu sorgen, daß ich warm und gesättigt auf die noch dunkle und kalte Straße hinauskäme.

Mein Lehrer war ein Frühaufsteher und ein fleißiger Arbeiter. Ich fand ihn schon regelmäßig an seinem Pult und beim Schein einer Lampe schreiben, die mit einem großen, grünen Schirm abgeblendet war. Er war auf dem einen Auge fast erblindet, und es sah komisch aus, wenn er beim Spielen das bebrillte Gesicht so dicht über die Notenreihen hinführte, als sollte die Nase ihm beim Entziffern der schwarzen Zeichen helfen. Er trank in dieser frühen Morgenstunde seinen Tee und bot auch mir immer freundlich eine Tasse des wärmenden Trankes an; den schlürfte ich dann mit Behagen und wärmte mir dabei an der heißen Tasse die Finger. Er hatte die Musikkritik für eine größere Tageszeitung zu schreiben, und da er auch komponierte und edierte, hatte seine fleißige Feder immer Arbeit genug. Ging es nach dem genossenen Morgentee ins Musikzimmer an den Flügel, so war er sofort ganz bei der Sache. Er war ein erfahrener, tüchtiger Pädagoge, und ich merkte bald, daß ich für mich kaum einen besseren Lehrer hätte finden können. Er ließ mich ganz wieder von vorne beginnen, mit den einfachsten mechanischen Übungen, und führte mich ganz langsam auf sicheren Wegen zu einer anständigen Technik, bevor er mir erlaubte, »Stücke« zu spielen. Ich übte täglich vier Stunden unverdrossen und bedauerte die arme Mutter, die es jedoch geduldig anhörte.

So sollte ich also doch noch ein Künstler werden?

Ich sah jetzt wie in ein schönes Morgenrot, das einen strahlenden Tag verkündet; freilich war es noch gar früh an der Zeit, und dem Sonnenwanderer fröstelte in seinem dünnen Röckchen, das kaum seine Blößen verbarg. Aber die lichtfrohen Augen tranken den ersten Glanz des Tages und meine Seele war voll Hoffnung.

Doch es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Man hatte mich an eine neue »Kundschaft« empfohlen, und ich machte mich auf den Weg, sie aufzusuchen. Die Adresse, die ich mir notiert hatte, führte mich in ein altes Gebäude, das abseits der Straße in einem Hof lag. Eine Wendeltreppe, der ein Strick als Geländer diente, führte, immer dämmriger werdend, ins Dunkel hinauf; nur ab und zu zeigten sich die Umrisse einer Tür. Es war ein sogenannter Saal, und je höher ich stieg, je dunkler wurde es, und je schwerer fiel es mir aufs Gemüt, daß ich mir auf solchen Wegen mein Brot suchen mußte. Im dritten Stock, wo die Witwe wohnen sollte, der ich empfohlen war, tastete ich nach der Tür, hinter der ich ein fröhliches Singen vernahm. Ich klopfte an, worauf denn das Singen verstummte, schnelle Schritte sich näherten und die Tür mit einem kurzen Ruck geöffnet wurde. Ich trat in einen lichten, freundlichen Raum, wo drei junge Frauenspersonen an einem Bügelbrett beschäftigt waren. Ein Haufen weißer Wäsche lag herum und erfüllte das ganze Zimmer, das halb Vorplatz, halb Wohnraum war, mit seinem frischen Geruch. Die mich hereingelassen hatte, eröffnete mir alsbald, daß die gesuchte Witwe hier nicht wohne, warf einen dreisten Blick in mein Notizbuch und lachte.

»Achtundachtzig, da sind Sie freilich ganz recht. Aber es ist doch verkehrt, denn wohin Sie wollen ist hundertachtundachtzig.«

»Das ist wohl noch weit?« fragte ich.

»Nicht so weit, aber schwer zu finden. Wissen Sie Meyers Gang?«

»Ja, den weiß ich.«

»Nun, darüber hinaus –«

»Und dann links und dann rechts und dann drei Treppen hoch und vier herunter,« fiel ihr eins der anderen Mädchen ins Wort. »So findet der Herr sich auch nicht hin. Haben Sie aber Zeit, kann ich es Ihnen zeigen. Ich bringe gleich die Wäsche hin, fünf Minuten noch.«

Ich nahm es dankbar an, setzte mich dieweil auf einen Stuhl, den sie mir freundlich zuschob, und sah sie das Bügeleisen wieder über die Wäsche führen. Sie fing unbefangen an, zu ihrer fleißigen Arbeit ein Lied zu singen. Ihre Stimme war von reinstem Klang, und ich bedauerte, als sie ihr Eisen beiseite stellte und erklärte, es sei nun Zeit zu gehen. Sie verschwand im Nebenraum und hatte ein kleines, buntes Tuch über ihre Schultern geschlagen, als sie wieder zurückkehrte. Mit ein paar schnellen Griffen packte sie die Wäsche in den Korb und winkte mir, ihr zu folgen.

»Sie sind wohl Musikant?« fragte sie unterwegs. »Ich sehe es an den Noten, die Sie unterm Arm tragen. Die Lene soll wohl nun Klavierstunde haben?«

»Ja,« sagte ich verwundert und belustigt, »kennen Sie Lene?«

»Ich hab' einen Bruder, der ist auch Musikant,« sagte sie, ohne auf meine Frage einzugehen.

»So,« sagte ich.

»Ja, er arbeitet bei Ludofsky in der Kakesfabrik. Aber Sonntags spielt er zu Tanz.«

»Klavier?«

»O nein, Trompete,« sagte sie überlegen. »Das ist aber erst schwer. Aber er verdient sich 'nen netten Schilling damit. Spielen Sie auch zu Tanz?«

Als ich es lachend verneinte, sah sie mich unsicher an. Aber nicht sie, sondern ich wurde verlegen, denn ich sah, wie ihre Augen schnell an mir herunterliefen, und ich dachte: ›Du siehst gewiß so ärmlich aus, daß sie dich nicht anders, als für einen Tanzbodenmusikanten einschätzen kann.‹ Und mir fiel ein, daß ich ein Loch im Unterfutter hatte; sie konnte es freilich nicht sehen, aber ich empfand es doch peinlich, und ich schämte mich meiner Ärmlichkeit, die mich gleichsam auf du und du mit ihr stellte.

Wir waren inzwischen durch einen Torweg in einen Gang eingebogen.

»Da wären wir,« sagte sie. »Gehen Sie nur den Gang hinunter, das letzte Haus links; ich muß hier vorn hinein.«

Ich war töricht genug, mich durch dieses kleine Abenteuer gedemütigt zu fühlen. Ich gab noch am selben Abend der Mutter meinen Rock zum Flicken. Doch was half's, ich mochte trotz der sauberen Reparatur immer noch wie ein Tanzbodenspieler aussehen, und ich dachte: ›Wenn der schäbige Rock und die verwaschene Wäsche den Künstler machen, wirst du bald einer der ersten.‹

Aber ich sah keine Möglichkeit, mich eleganter zu kleiden. Ein abgegriffener, brauner Filz, dessen Ränder ins Gelbliche spielten, deckte nach wie vor mein Künstlerhaupt und mahnte mich mehrmals am Tage an die Niedrigkeit und Armseligkeit meiner Lebensstellung; drückte ich mich hastig von der Straße in einen jener Gänge am Hafen hinein, um einem polkalustigen Seemannskinde den Takt einzuklopfen, so glaubte ich oft die helle Stimme der munteren Wäscherin zu hören: ›Spielen Sie auch zu Tanz?‹

*

Inzwischen war es Sommer geworden. Mich lockte es, in der ersten Frühe aufzustehen, um in der erquicklichen Morgenluft zu meinem Professor zu pilgern, meist auf einem kleinen Umwege, der mich an die Alster führte. Dankbar genoß ich das liebliche Morgenbild des besonnten jenseitigen Ufers. Mein Weg lag noch im Schatten, aber das steigende Licht warf seinen frühen Glanz schon über die breite Wasserfläche, auf der einzelne Dampfer der Stadt zueilten und verschlafene Schwäne sich wiegten.

Eines Tages redete mich auf meinem Morgengange ein junger Mann an. »Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr?« fragte er. Ich betrachtete ihn genauer und sann nach, wo ich ihm schon begegnet sein mochte, konnte mich dessen aber nicht entsinnen. Er nannte den Namen einer mir völlig fremden Familie, in der er mich schon einmal getroffen haben wollte: ich habe dort Klavier gespielt, von einem Geiger begleitet, dessen mir ebenfalls fremden Namen er nannte.

»Nun,« meinte er, »es muß schon so sein, mein Gedächtnis kann mich nicht so täuschen. Aber sei dem, wie ihm wolle; jedenfalls bin ich Ihnen schon um' diese Morgenstunde mehrfach begegnet, ohne daß Sie mich beachtet haben. Immer aber sind Sie mir aufgefallen, und ich habe schon manchmal den Wunsch gehegt, Ihnen näher zu treten.«

»Seltsam,« sagte ich, »und was erweckt diesen Wunsch in Ihnen?«

»Sie müssen sehr viel Energie besitzen,« antwortete er. Ich lächelte, seine Antwort überraschte und amüsierte mich.

»Warum meinen Sie das?«

»Ich sehe es an Ihrem Gesicht. Ich habe selten ein so energisches Gesicht gesehen. Stehen Sie immer so früh auf?«

»Regelmäßig,« sagte ich lachend. »Das kostet mich keine besondere Überwindung.«

»Und Sie arbeiten viel? Studieren Sie Musik?«

Er schien mir aufdringlich, und ich sagte etwas kurz: »Ja, aber warum fragen Sie nach allem?«

Er wurde plötzlich rot und entschuldigte sich.

»Ich muß Ihnen sehr taktlos und aufdringlich erscheinen. Das Interesse, das mir Ihre Persönlichkeit eingeflößt hat, muß mich entschuldigen. Würden Sie mir die Ehre einer näheren Bekanntschaft gönnen?«

›Wunderlicher Mensch,‹ dachte ich. ›Wer bist du? Was willst du von mir?‹

Er zog seine Karte, überreichte sie mir förmlich und sagte: »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Ich muß Ihnen schon sonderbar genug vorkommen. Aber hier haben Sie meine Adresse. Vielleicht habe ich das Glück, von Ihnen zu hören. Sonst entschuldigen Sie, bitte, wenn ich Sie belästigt habe.«

Er lüftete den Hut, verneigte sich kurz und entfernte sich mit langen, hastigen Schritten.

Welch ein seltsames Abenteuer! Ich hielt die Karte in der Hand, sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Ich hielt ihn für einen Narren, obgleich sein Äußeres mir wohl gefallen hatte und durchaus nichts Gestörtes zeigte; ein langes, feingeschnittenes Gesicht mit schöner Nase und ein Paar blauen, klugen Augen, das ein paar Blatternarben nur wenig entstellten.

Natürlich beschäftigte mich die sonderbare Begegnung noch lange, und ich ging mit mir zu Rate, wie ich mich dem Fremden gegenüber wohl am besten verhielte. Ich schalt mich, daß ich nicht einmal gefragt hatte, was er denn sei und was er triebe. Vielleicht war er auch Musiker, und seine Bekanntschaft konnte mir von Vorteil sein.

Meine Mutter war durchaus nicht so überrascht von meiner Erzählung wie ich erwartete: es schien ihr Freude zu machen, daß mein Charakter eine so gute Note, wenn auch von ganz unbekannter Seite, bekommen hatte, und sie schloß sogleich, es müsse gewiß ein guter und kluger Mensch sein, der sich so geäußert habe. Auch überredete sie mich, ihn aufzusuchen und eine Bekanntschaft anzubahnen.

So setzte ich mich denn einige Tage später hin und schrieb dem Fremden ein Billett; ich hätte die Absicht, auf seine Einladung einzugehen, ob ihm mein Besuch noch erwünscht sei. Eine ganze Weile ließ er mich auf Antwort warten; endlich kam ein Brief, worin er mich mit Ausdrücken des Dankes und der Freude bat, zu kommen und mir eine Abendstunde angab, wann ich ihn treffen würde. Er habe mit der Antwort solange gezögert, weil er sich seines Überfalles von damals nachträglich geschämt hätte. Er wisse selbst nicht, wie er den Mut dazu gefunden habe, und bäte mich auch jetzt noch, ihn zu vergessen, wenn ich nur das geringste Mißtrauen in seine Person setze. Wenn ich aber käme, würde ich ihn glücklich machen, und er würde seine Dreistigkeit als eine Eingebung seines guten Genius segnen, denn er glaube ein guter Menschenkenner zu sein und fürchte nicht, sich in meiner Person getäuscht zu haben.

Das alles war so bescheiden und liebenswürdig gesagt und in einer so gebildeten und charaktervollen Handschrift zu Papier gebracht, daß alles Mißtrauen schwand und ich mich zu ihm auf den Weg machte.

Er wohnte in einer guten Gegend, im dritten Stock eines modernen Mietshauses. Er öffnete mir selbst die Tür, empfing mich mit großer Liebenswürdigkeit und führte mich sogleich in ein behagliches Wohnzimmer, wo eine große, starke Dame im Sofa saß und strickte. Er stellte sie mir als seine Mutter vor, und ich reichte der alten Frau, die mich durch zwei große Brillengläser forschend ansah, die Hand.

»Mein Sohn freut sich sehr, daß Sie gekommen sind. Er hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«

Wie konnte er viel erzählt haben, er kannte mich ja noch gar nicht. Er fügte aber den Worten seiner Mutter sogleich hinzu: »Viel zu wenig, denn so recht weiß ich ja eigentlich nichts von Ihnen, als nur, daß Sie mir gefallen haben.« Er errötete dabei wie ein junges Mädchen.

»Mein Sohn hat einen sehr scharfen Blick für Menschen,« bedeutete die alte Frau.

Er lächelte.

»Ich bilde mir das wenigstens ein; ich habe mich auch selten getäuscht. Und warum soll man nicht, wie man sich bemüht, eine schöne Pflanze, einen seltenen Stein oder ein hübsches Bild in seinen Besitz zu bekommen, warum soll man nicht auch trachten, die Bekanntschaft eines Menschen zu machen, der einem gefällt?«

Er sah mich fragend an, und ich gab ihm recht.

»Mein Sohn ist immer so allein,« sagte die alte Frau, »und jeden mag er nicht. Und wenn der Mensch immer so für sich allein ist, das tut nicht gut.«

Ich war ein wenig verlegen. Was wollte man von mir? Was waren es für Leute, die mich gleichsam mit Gewalt von der Straße weg in ihren Kreis zogen?

»Ich bin Ihnen erst mal eine kurze Erklärung schuldig,« nahm der Sohn wieder das Wort. »Vor allem das Geständnis, daß ich mich von meinem Irrtum überzeugt habe und daß nicht Sie es waren, den ich in jener Gesellschaft getroffen habe; aber das tut nichts mehr zur Sache. Sie sind es doch, dessen Bekanntschaft ich suchte; so ist schon alles recht. Doch ich muß Ihnen nun über meine Person Aufschluß geben, damit Sie wissen, mit wem Sie es eigentlich zu tun haben. Ich bin Kaufmann sehr wider meinen Willen, aber ich bin es nun einmal und finde mich damit ab. In meinen Mußestunden aber suche ich nach einem Ausgleich. Für die Musik, so sehr ich sie liebe, fehlt mir jede Begabung. Aber meine Bibliothek enthält eine Menge guter Bücher, die ich mir zur Belehrung und Unterhaltung nach und nach angeschafft habe. Ein wenig beschäftige ich mich auch mit Naturwissenschaft, und ich habe allerlei Sammlungen, die Ihnen vielleicht Teilnahme abnötigen. Aber das alles sind tote Schätze, wenn man nicht jemanden hat, mit dem man sie genießen, dem man sie mitteilen kann. Unter den jungen Leuten meines Berufes, mit denen mich die Verhältnisse zusammengeführt haben, ist keiner, der meine Liebhaberei teilt, und ich bin nun einmal für Bier, Skat und Sport nicht geboren, das heißt Sport, wie er vereinsmäßig betrieben wird. Ich bin kein Vereinsmensch und hasse alles Statuten- und Paragraphenwesen, ohne das es vielleicht nicht abgehen kann. Für mich allein aber betreibe ich allerlei; ich bade und schwimme, ich segle und rudere, habe auch ein kleines Boot auf der Alster – bin also durchaus kein Stubenhocker und Philister.«

Er hatte das alles halblaut, sich oft unterbrechend und besinnend, auf mich eingesprochen, und sah mich nun an, als wollte er sagen: ›Jetzt ist an dir die Reihe.‹

Ich dankte ihm für sein Vertrauen und sagte ihm, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn wir zusammen harmonierten; denn es ginge mir wie ihm: ich fühlte mich gleichfalls allein, lebte nur mit meiner alten Mutter zusammen und entbehre, wie er, den Umgang mit einem gleichgestimmten Freund.

»So lassen Sie es uns miteinander versuchen,« sagte er und hielt mir die Hand hin, in die ich ohne Besinnen einschlug. Er führte mich nun in ein anderes Zimmer und zeigte mir seine Sammlungen. An den Wänden hingen zwei kleinere Kästen mit aufgespießten Schmetterlingen; ein größerer, unter dessen Glas eine wahre Orgie von Farben leuchtete, stand auf einem Pult vor dem einen Fenster, ein Aquarium vor dem anderen, etwas abseits davon ein Terrarium. Alles aufs beste ausgestattet und aufs reichste bevölkert. Als ich näher treten wollte, hielt er mich zurück. Eine Schildkröte kroch langsam durchs Zimmer, und ich hätte sie beinahe getreten.

»Sie hätte es zwar nicht gefühlt, aber sich doch erschrocken,« bemerkte er mit ernster Miene; »sie ist übrigens ganz zahm.« Er rief sie »Peter!«, worauf sie indes nicht zu hören schien, so daß er sie aufnahm und auf sie einredete. Sie streckte ihren langen Hals aus dem Panzer heraus und sah ihn an, als ob sie ihn verstünde, wobei sie langsam den feinen Kopf hin und her bewegte. Plötzlich setzte er sie schnell hin und rief: »Ah, da ist sie!« Er stürzte in eine Ecke des Zimmers und kam mit einer Schlange zurück, die sich ihm um den Arm ringelte und sich vergeblich bemühte, sich zu befreien. Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Keine Angst,« beruhigte er mich. »Ich hab' ihr die Giftzähne ausgebrochen. Sie ist mir gestern entwischt, und ich suchte sie vergeblich.«

Er setzte sie ins Terrarium zurück, schalt sie »Schlingel« und »Ausreißer« und lachte, als sie sich eiligst in eine Höhlung des Tropfsteines verbarg. »Verkriech dich nur! Schäm' dich!«

Er schien zu allem diesem Wurmzeug ein persönliches Verhältnis zu haben. Molche und Salamander lagen auf dem Stein und zwischen den Schlinggewächsen, bewegten leise das zierliche Schwänzchen und schoben sich träge weiter. Er nannte mir die Namen aller dieser Geschöpfe, erzählte, wann und wo er sie gefangen und belehrte mich dann gleicherweise vor dem Aquarium, wo allerlei Wassergetier sich durcheinander bewegte und in beständiger Jagd aufeinander zu sein schien. An einem Haken in der Nähe der Tür hing eine große, grüne Botanisiertrommel, Ketscher verschiedener Größe standen in einer Ecke, und ich wunderte mich nicht, nun auch noch einen Glaskasten an der Wand zu gewahren, in dem ein ausgestopfter Pinguin in philosophischer Beschaulichkeit saß und aussah wie ein brütender Mönch.

»Man muß sich beschränken,« sagte mein Freund, als er bemerkte, daß ich nach weiterem Gevögel Umschau hielt. »Ich interessiere mich eigentlich nur noch für das Terrarium. Den Vogel habe ich übrigens geschenkt bekommen, ich habe nie Vögel gesammelt. Ich mag das Tote, Ausgestopfte nicht. Eine lebendige Hecke hätte ich freilich gern, aber da heißt es pflegen und aufpassen, und die Zeit reicht dazu nicht aus. Aber darf ich Ihnen jetzt meine Bibliothek zeigen?«

Ich folgte ihm in ein drittes Zimmer, in dem ein großer Schreibtisch stand. Drei Regale an den Wänden waren mit Büchern besetzt, die alle einfach aber gediegen gebunden waren und wie nach der Schnur in Reih und Glied standen; fachweise schienen sie sogar pedantisch nach der Größe geordnet zu sein. Schon in dem Zimmer, das seine Sammlung beherbergte, hatte ich eine peinliche Ordnung und Sauberkeit bemerkt, die mir hier noch mehr auffiel. Auch ein Blick auf den Schreibtisch bestärkte mich in der Vermutung, daß er von einer gewissen Pedanterie nicht frei war, wie sie Sammlern wohl eignet und nötig und nützlich ist.

Er führte mich die Reihe seiner Bücher entlang, nahm hie und da ein Buch heraus und zeigte es mir mit einer gewissen Zärtlichkeit. Zu diesen seinen Lieblingen gehörten sowohl Dantes Göttliche Komödie, als Kellers Grüner Heinrich. Sein Geschmack nötigte mir Respekt ab; neben Goethe und Schiller standen Scott und Dickens und ein paar französische Romane, neben Schlossers Weltgeschichte und Vilmars Literaturgeschichte eine ganze Reihe naturwissenschaftlicher und geographischer Werke.

»Sie sind Kaufmann?« rief ich aus.

Er schien meine Verwunderung nicht gleich zu verstehen.

»Muß man denn als Kaufmann gerade ein Banause sein?« fragte er dann zurück.

Ich schämte mich und schwieg, und er führte mich wieder ins Wohnzimmer zurück, wo die alte Frau noch immer in der Sofaecke saß und strickte.

»Nun,« sagte sie, »hat er Ihnen seine alten ekligen Würmer und Schlangen gezeigt? Haben Sie auch soviel übrig für die alten Dinger?«

»Mutter möchte sie am liebsten alle vergiften,« sagte er. »Sie traut sich nur nicht heran.«

Sie schüttelte sich. »So ein kaltes, schleimiges Wurmzeug! Aber mein Sohn geht ja ganz darin auf, und wo hat er das nur her? Sein Vater hatte einen rechten Abscheu vor allen Würmern und Fröschen. Nur Metten, da wußte er nichts davon, die konnte er ruhig anfassen; er war nämlich ein leidenschaftlicher Angler, müssen Sie wissen.« »War Ihr Herr Vater auch Kaufmann?« fragte ich ihn.

»Beamter,« antwortete er, und ich erklärte mir aus der Erbschaft dieses angelnden Beamten seine Vorliebe für Aquarien und Terrarien und seine pedantische Ordnungsliebe.

Meine Zeit war abgelaufen, und ich bat, mich verabschieden zu dürfen.

»Nicht wahr, Sie lassen sich wieder sehen?« Ich versprach es, und die Mutter schien gleicherweise erfreut.

»Wollen Sie am Sonntag mit mir rudern?« fragte er.

»Gern, aber ich bin jedes Wassersportes unkundig.«

»Ohne Sorge,« sagte er, »Sie können sich mir ruhig anvertrauen.«

Das war mein erster Besuch bei ihm und der Anfang unserer Freundschaft.

*

Georg Seeberg war vier Jahre jünger als ich, aber mir trotz seiner Jugend in allem überlegen. Er war schon ein Jahr in London gewesen und ein halbes drüben in Valparaiso. Er sprach französisch, englisch und ein wenig spanisch. Außerdem besaß er eine gründliche Kenntnis der verschiedenartigsten Handelsartikel, wußte von fremden Völkern und Sitten hübsch zu plaudern während ich dem nichts entgegenzusetzen hatte als meine trivialen Kleinstadterlebnisse. So war er der Gebende und ich der Empfangende. Ja, selbst auf literarischem Gebiete zeigte er sich belesener als ich, der ihm noch das beschämende Geständnis machen mußte, daß ihm die fremden Literaturen wegen der mangelnden Sprachkenntnisse verschlossen waren. Da er mich nun auch noch im Rudern und Schwimmen meisterte, so hätte ich durchaus nicht gewußt, wie ich ihm imponieren sollte, wenn ich nicht meine Musik gehabt hätte. Das genügte ihm aber vollkommen, mich zu bewundern; er konnte ganz still in seinem Stuhle sitzen und mir stundenlang zuhören.

Spielte ich ihm nicht vor, so lasen wir zusammen. Er liebte Mörike und Geibel und hatte oft ein Buch in der Tasche, wenn wir eine sonntägliche Bootsfahrt ins Alstertal hinein machten.

Lagen wir zwischen unseren stillen Wiesen, wo sich das klare Flüßchen in vielerlei Windungen durch das idyllische Tal schlängelte, zog er wohl Strümpfe und Stiefel aus, watete, den Ketscher in der Hand, die Botanisiertrommel an der Seite, bis an die Knie ins Wasser und konnte sich in jeder Weise einer knabenhaften Ungebundenheit überlassen. Ohne irgendeinen Gefangenen blieb das grüne Verlies selten. Er hatte scharfe Augen und erspähte jedes Spinnlein und Käferlein, das sich für seine Glaskästen eignete. Immer wußte er es mit Namen zu benennen und mit ein paar Worten einen kurzen Abriß seiner Geschichte zu geben, welche Belehrungen freilich meistens an mir verschwendet waren; denn ich hatte wohl ein offenes Auge für alle Erscheinungen der Natur, ließ mir aber genügen, mich an Formen und Farben zu erfreuen, ohne nach Art und Namen zu fragen.

Er verstand meine Art sehr wohl und war selbst der reinen ästhetischen Lust an der Buntheit der Welt zugänglich. Ihn entzückte des Himmels Bläue, des Flusses Silberglanz, der Wiesen Grün ebenso wie mich. Er genoß mit inniger Freude das Lied der Vögel und das Rauschen des Windes in Schilf und Laub. Und immer war er es, der zuerst Worte fand, während ich gern still blieb und meiner inneren Bewegung selten den Riegel öffnete.

Wir schwärmten in stillen Mondnächten wie zwei Liebende, badeten zugleich in dem romantischen Licht des Nachtgestirns und der kühlen, alle Sterne und unsere weißen Körper widerspiegelnden Flut. Wir verträumten halbe Nächte draußen und beschwichtigten die besorgten Mütter mit einem feurigen: »Es war zu schön heute!«

Ich pries mich glücklich, einen solchen Freund gefunden zu haben und dankte ihm. Er wies den Dank zurück. Es sei Selbsthilfe gewesen, daß er mich damals angeredet, er wäre sonst in einem unglücklichen, quälerischen Zustand verkommen. Er habe meiner bedurft, wie hätte er sonst wohl den Mut finden können, mich anzusprechen. Getäuschte Liebe, die Treulosigkeit eines Mädchens und der gleichzeitige Tod eines Freundes hätten ihn in eine tiefe Melancholie gestürzt. Er wäre menschenscheu geworden, ja krank, wenn er sich nicht gewaltsam aufgerafft hätte. Und was hätte ihn anders entschädigen können, als eine neue und echte Freundschaft?

»Ich ging suchen, nicht wie Saul, der einen Esel suchte und ein Königreich fand, sondern wie ein bewußter Kronensucher.«

»Und da dein Blick sich genügend an Spinnen und Käfern und dergleichen niederem Getier geschärft hatte, glückte es dir auch bei der zweibeinigen Gesellschaft,« versetzte ich scherzend.

Er lachte und gab mir einen Klaps.


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