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Früh schon fing ich an, auf dem Klavier herumzufingern. Eine alte Tante der Mutter, die einst zu den gesuchtesten Klavierlehrerinnen gehört hatte, erbot sich, uns den ersten Unterricht zu geben, und bald hockte ich stolz und glücklich vor den Tasten und lernte unter ihrer Anleitung Noten lesen, und erste Melodien hervorbringen.
Ich hatte die alte Tante sehr lieb und war ein lernbegieriger Schüler. Alle Notenhefte, die mir in die Hände kamen, blätterte ich durch und tat wie ein gelehrter Kapellmeister. Ungeduldig harrte ich der Zeit, wo ich alle diese krausen Zeichen enträtseln können würde. Noch waren sie stumm für mich, aber ich wußte, ich würde sie einst zum Sprechen bringen, zum Singen und Klingen. O, wie wollte ich fleißig sein, um bald die schöne Kunst zu lernen! Wie glücklich war ich über jedes Lob der Tante und wie unglücklich über ihre Unzufriedenheit. Mein Fleiß spornte auch meinen Bruder an, und wir waren bald in regem Wetteifer. Die Tante wußte diesen Eifer auf kluge Weise zu nähren: wenn wir besonders fleißig gewesen waren, durften wir sie besuchen und konnten uns unsere Lieblingsspeise ausbitten. Ich wählte dann immer Milchreis mit recht viel Zucker und Zimmet, mein Bruder zog arme Ritter vor.
In der Vorschule lernte ich lesen und schreiben. Sie befand sich in dem Hinterflügel eines alten Kaufmannshauses, dessen dämmrige, geräumige Fliesendiele uns anheimelte. Fässer und Ballen lagen hier aufgestapelt und füllten die Luft mit ihren wunderlichen Gerüchen, Gerüche, wie sie uns wohlvertraut waren, da sie überall aus den dunklen Dielen und Kellern auf die engen Straßen herausströmten, die wir täglich passierten.
In unser Schulzimmer aber blickten die blauen Dolden blühenden Flieders und die weißen Kugeln des Schneeballs herein, und die liebe Sonne streichelte unsere Köpfe und vergoldete uns mitleidig Schiefertafel und Fibel. Es waren drei freundliche Schwestern, die den kleinen Abcschützen den ersten Unterricht erteilten, und wir lernten eifrig. Traten wir morgens in das Schulzimmer, begrüßte uns das Brodeln des Teekessels, der über einer Spritflamme hing, denn wir bekamen in der ersten Pause heiße Milch und Semmeln. Das Summen und Singen der bläulichen Flamme, das leise Klappern des Deckels auf dem Kessel, ein freundliches Frauengesicht und viel Sonnenschein – das ist mein erstes Schuljahr.
»Wir werden nicht recht klug aus ihm, er geht still seine Wege.« Das war das Urteil des Schulvorstehers über mich, als ihn meine Mutter über meine Fortschritte befragte. In den höheren Klassen aber hatte ich immer einen ersten Platz und ließ die Lehrer nicht länger über meine Fähigkeiten in Zweifel. Und fast will mir scheinen, als ob ich alles, was ich von der Schule mit ins Leben genommen habe, dieser Vorschule verdanke. Es war ein frisches, fröhliches Lernen unter freundlichen, tüchtigen Lehrern.
Dann aber hieß es sich entscheiden, ob ich in die Lateinklassen oder in die Realabteilung des Katharineums, der altehrwürdigen Gelehrtenschule meiner Vaterstadt übergehen wollte.
Um diese Zeit heiratete die Mutter wieder. Wir durften bei der Hochzeit sein, Pasteten schlecken, Eis schmausen und waren des neuen Vaters von Herzen froh. Als ich nun aber die Vorschule verlassen sollte, machte er sogleich seine Autorität geltend und entschied gegen meinen Wunsch, daß ich nicht das Gymnasium, sondern das Realgymnasium zu besuchen habe. Er machte Gründe geltend, die ich selbst zu prüfen noch nicht imstande war, und bei denen ich mich daher beruhigen mußte.
Das Katharineum war an die alte Kirche des Katharinenklosters angebaut. Ein Teil der Klassen hatte in ehemaligen Kapellen und Zellen Unterschlupf gefunden, deren hohe, gewölbte Decken einst von den Gebeten der Mönche widerhallten, jetzt aber die Übungen lateinischer Abcschützen anhören mußten. Aus dem Klassenzimmer traten wir in den alten Klostergang hinaus, wo denn unsere Füße laut genug über die verschlissenen Steinplatten und ihre unleserlich gewordenen Inschriften hintrabten, an alten, aufgerichteten Grabsteinen vorüber, die uns nicht kümmerten, denn wir strebten nur immer, in die Sonne des Spielhofes zu kommen, den der moderne Vorderbau einschloß, und blieben von ehrwürdigen Schauern der Vergangenheit unberührt.
Der Unterricht verlief in einem hergebrachten Trott, wie es derzeit überall nicht anders war, wo nicht überragende Lehrerpersönlichkeiten die Zwangsjacke des Systems zerrissen. Lernen, lernen, lernen. Vokabeln, Namen, Jahreszahlen. Von den herrlichsten alten Baudenkmälern umgeben, auf dem Boden einer ruhmreichen Vergangenheit, lebten wir ohne Führung und Anregung dahin. Heimatkunde war ein unbekannter Begriff. Lübeck? Deutschland? Gab es damals ein Deutschland? Ja, es gab ein Deutschland; zweimal in der Woche in der Geographiestunde: Flüsse, Städte, Berge, Einwohnerzahl. Und in der Geschichte gab es ein Deutschland: die Namen der deutschen Kaiser und ihre Jahreszahlen; vor- und rückwärts. »Setz' dich einen rauf, setz' dich einen runter!«
Zwei Kriege bewegten diese Zeit. 1864 füllten fremde Truppen die Stadt. Preußen und Österreicher waren auf dem Marsch gegen Dänemark. Wir saßen abends mit der Mutter um einen runden Tisch und zupften Scharpie. Die Siegesnachrichten trafen ein, und wir sangen und spielten den »Düppelstürmer«.
Nachher kam Königgratz. Aber hinter den Schulmauern merkte man nicht viel von dem, was draußen vor sich ging; hier tobten noch immer die punischen Kriege. Was ging uns der König von Preußen an?
Nur einmal ein Lichtblick: Ein neuer, junger Lehrer der Naturwissenschaft kam zu uns; Professor Küstermann. Das war einer von denen, die nicht auswendig lernen ließen, sondern lehrten, zeigten, lebendig machten. Mit offenem Munde drängten wir uns um ihn und tranken, was er bot: Leben, nicht totes Wissen. Und einmal eine flüchtige Sonnenstunde, die uns zeigte, wie trübe eigentlich der Himmel war, unter dem wir sonst dahinlebten:
Unser Ordinarius, bei dem wir Deutsch haben sollten, fehlte, und der Direktor vertrat ihn.
Deutsch? Was war das? Das war Aufsatz und Grammatik und wieder Aufsatz und Grammatik. Subjekt, Objekt und Prädikat.
Nun sollten wir von dem »Alten« selbst Deutsch haben. Ich sehe den, würdigen, grauköpfigen Schulregenten, sonst eine seltene Erscheinung in den Realklassen, noch heute, wie er, ein Buch unterm Arm, ins Zimmer trat, uns mit einem wohlwollenden Blick überflog und dann schmunzelnd aufs Katheder stieg. Hier schlug er sein Buch auf, sah uns noch einmal freundlich an und fragte: »Kennt ihr den ›Siebzigsten Geburtstag‹ von Johann Heinrich Voß?«
Verlegenes Schweigen. »Wer war Voß?«
Zwei, drei Finger kamen zaghaft zum Vorschein. »Er hat ein langes Gedicht gemacht, das heißt ›Luise‹.
»Gut. Was wißt ihr weiter?«
Schweigen.
»Nun hört aufmerksam zu. Er hat neben der ›Luise‹ auch noch anderes gedichtet und hat als Erster eine herrliche Übersetzung des Homer geliefert. Und nun lese ich euch den ›Siebzigsten Geburtstag‹.«
So ungefähr redete er mit uns und las uns dann das Gedicht:
»Auf die Postille gebückt...«
Wie andächtig hörten wir zu, lebten die schlichte Idylle mit, fühlten uns gemütlich bereichert und zugleich an unserer bescheidenen Bildung gewachsen. Und nun, als das Gedicht beendet war, hieß es: »Jetzt wollen wir einmal Hexameter machen. Versuch' es ein jeder, so gut er es kann.«
Er sagte ein paar Worte der Erklärung, und dann hub ein lautloses Verseschmieden an. Wir hatten nie so etwas getrieben, und der Alte mochte uns mit seinen Primanern verwechselt haben, und wenn man will, kann man es belächeln. Aber wieviel Unsinn auch zusammengeschrieben wurde, wir bekamen dabei ein lebendiges Gefühl des eben gehörten Verses. Zu den paar leidlich gelungenen Hexametern gehörten auch meine. Weniger wollte es mir bei unserem Ordinarius, dem Mathematikprofessor, mit einem dichterischen Versuch glücken, auf den ich mir etwas einbildete, weil er der Mutter und den Geschwistern viel Spaß gemacht hatte. Wie konnte ich aber ahnen, daß gerade diese Verse die Ursache meiner ersten öffentlichen Niederlage werden sollten?
In unserem Schlafzimmer hing ein farbiges Bild: Ein alter Schäfer hält eine kranke Ente im Arm und erteilt der besorgten Bäuerin Ratschläge. »Der Dorfarzt« betitelt sich dieses Kunstwerk, das, wenn ich nicht irre, Düsseldorfer Herkunft war. Ich hatte es besungen, und die Mutter hatte dies rührsame Gedicht unserem Arbeitlehrer gezeigt. Der gute, wohlwollende Mann aber mochte es im Lehrerkollegium kolportiert haben, denn wie erschrak ich, als ich in einer Mathematikstunde vom Katheder herab angeherrscht wurde: »Enten kannst du besingen, aber rechnen kannst du nicht.« Ich glaubte vor Scham in die Erde sinken zu sollen. Alle Augen richteten sich auf mich, verwundert, fragend, spöttisch. Wie sollten sie das auch verstehen? Seit jener Stunde trug ich, der für seine Jahre schon recht lang aufgeschossen war, den Spitznamen »die lange Ente«. Glücklicherweise hatte ich Humor genug, mir den neuen Namen gefallen zu lassen, und da ich im ganzen bei meinen Mitschülern wohlgelitten war, so stellten sie allmählich auch die Neckerei ein.
Dem alten Herrn aber trug ich es nicht nach; er war ein lieber, freundlicher Mann, der es gut mit seinen Schülern meinte. Auch war ich mir wohl bewußt, daß ich wenig Ansprüche auf sein Wohlwollen hatte, denn ich war in der Mathematikstunde unbestritten sein größter Esel.
*
Für das öde Einerlei des Unterrichts, das nur durch einzelne Lichtblicke erhellt wurde, suchten wir uns außerhalb der Schule nach Kräften zu entschädigen. Der Sommer rief uns natürlich vors Tor, im Winter aber warfen wir uns auf allerlei häusliche Beschäftigungen, wie sie Kinder gern betreiben. Auch die Musik nahm uns sehr in Anspruch. Wir hatten, schnelle Fortschritte gemacht, konnten uns schon an die Symphonien unserer Klassiker wagen, und selbst der Vater verschmähte es nicht, sich ein Stündchen in die Sofaecke zu setzen und unserem vierhändigen Spiel zuzuhören. Vor allem war es Haydn, den wir liebten; seine Anmut, seine Sonnigkeit, sein Humor waren so recht für unsere jungen Knabenherzen. Ich hatte auch Mozart besonders lieb. Aus einem alten, vergilbten Heft lernte ich zuerst die A-dur-Sonate mit dem lieblichen Andantethema und dem Finale a la Turca kennen. Mozart! Ich konnte förmlich mit dem Namen auf dem Titelblatt liebäugeln, und noch heute wenn ich die Sonate spiele und höre, sehe ich dieses alte, stockfleckige Mozartheft vor mir.
*
Das ist die Melodie meiner Kindheit, die Zauberformel, mit der ich sie in ihrer ganzen Unschuld und in ihrem sonnigen Glanze wieder wachrufen kann.
Neben der Musik trieben wir noch andere Künste: Wir zeichneten und tuschten Bilderbögen, die sich jährlich mit neuen Farbkästen auf dem Weihnachtstisch einstellten, und auch das Ausschneiden fand seine Liebhaber. Namentlich ich zog eine Zeitlang das Arbeiten mit der Silhouettenschere dem Kolorieren der Neu-Ruppiner Kunsterzeugnisse vor; sauber in ein Schreibheft geklebt, machten diese zierlichen schwarzen Bilder mir und anderen viel Freude.
Mehr als alle diese Handfertigkeiten nahm uns das Theaterspielen in Anspruch. Die Anregung dazu gab ein Puppentheater mit einem reichen Marionettenvorrat, wovon mir besonders die Figuren zum Freischütz im Gedächtnis geblieben sind; so der grasgrüne Max mit wallenden blonden Locken, und die lange Figur des schwarzen Kasper mit roter Feder auf dem Hut. Mächtig regte die Wolfsschlucht unsere kindliche Phantasie an. Ich als der Geschickteste zu solchen Künsten, mußte meistenteils mit diesen pappenen Helden agieren, und übte mich dabei im Erfinden der schönsten Ritter- und Räuberkomödien. Wir Brüder hatten damals im ersten Stock ein langes, schmales Zimmer, dessen eines Fenster nach dem Hof hinausging, als Schlaf- und Arbeitsraum inne. Hier war in dem schmalen Türrahmen der gegebene Platz für das Theater. Ein Vorhang war leicht hergestellt, eine alte Tischglocke zur Hand, und eine Reihe von Stühlen, auf dem Korridor aufgestellt, harrte eines kunstbegeisterten Publikums.
Fielen nun bei dem Puppentheater alle Aufgaben mir zu, und ebenso bei dem Kasperletheater, womit uns einmal der Weihnachtsmann überraschte, so stellte sich bei so mannigfacher Anregung bald die Lust bei mir ein, statt mit Drahtpuppen und Kasperlefiguren, in eigener Person zu agieren, und mich so erst recht als König, Räuberhauptmann oder Teufel zu fühlen.
Bisher Direktor, Dichter und Dramaturg in einer Person, hatte ich auch jetzt die Aufgabe, meinen lebendigen Schauspielern Stücke mit glänzenden und möglichst dankbaren Rollen zu verschaffen, und in solchen Lagen pflegt die Not den Meister zu machen. Nun hatte sich aber der Not eine ebenso kräftige als holde Verbündete zugesellt. Unter dem Stammpublikum meines Marionettentheaters befand sich ein Mädchen, das mir mit seinem schwarzen Haar und seinen großen tiefbraunen Augen der Inbegriff aller Lieblichkeit zu sein schien, obgleich sonst meine Vorliebe den Blondinen galt. Diese junge Schöne genoß als einziges Töchterchen eines der reichsten Weinhändler unserer Stadt das Ansehen einer kleinen Prinzessin. Sie hatte in der Ruhe etwas ungemein Ernstes, fast Melancholisches, welcher Eindruck von dem Kontrast zwischen ihren nachtdunklen Augen und Haaren und der Blässe ihres Teints, der einen leisen Hauch gelblicher Elfenbeinfarbe hatte, noch erhöht wurde. Anders, wenn sie sich bewegte; da konnte sie die Ausgelassenste beim Spiel sein, und ihre dunklen Augen leuchteten dann wie zwei Frühlingssonnen.
Ich hätte schwerlich sagen können, wie sie mir lieber war, heiter oder ernst. Saß sie vor meinem Puppentheater, spielte ich eigentlich nur für sie, und manches feurige und gefühlvolle Wort aus pappenem Mund war nur an sie gerichtet. Jetzt sollte sie aus dem Parkett auf die Bühne steigen und durch keine noch so papierne Rampe gehemmt mit mir in lebendige Berührung treten; denn dafür zu sorgen, war die erste und heiligste Pflicht, die ich als Dichter empfand. Man verlangte durchaus etwas Lustiges von mir, und ich versprach alles, damit nur überhaupt etwas zustande käme. Tagelang lief ich umher und zerbrach mir den Kopf, und kam mir in dieser sorgenvollen Existenz höchst wichtig vor. »Weißt du schon etwas?« fragte mich Bruder und Schwester jeden neuen Tag, und in dem Ton ihrer Frage lag unbegrenzte Hochachtung vor meinem dichterischen Genie und das felsenfeste Vertrauen, daß mir schon etwas Gutes einfallen würde. Endlich glaubte ich denn auch eine herrliche Idee gefunden zu haben. »Ich hab's! Ich hab's!« rief ich, hüllte mich aber den Fragern gegenüber in geheimnisvolles Schweigen; erst müsse ich das Stück ganz fertig haben, früher könne ich nicht darüber sprechen. Mein Stück betitelte sich, und soviel verriet ich schon vorher: »Der lustige Postillon.« Mir standen nur vier Akteurs zur Verfügung, zwei männliche und zwei weibliche. Nun war die Titelrolle natürlich in den Augen der anderen die Hauptrolle, mir aber war es darum zu tun, sei es in welcher Rolle, der Heldin, der hübschen Alma, einen Kuß zu geben, den zu dulden sie nach den Gesetzen der Bühne meiner Meinung nach ohne Widerrede verpflichtet war. So überließ ich denn gerne meinem Bruder, schon um jedem Verdacht des Eigennutzes zu begegnen, die Rolle des lustigen Postillons, und begnügte mich mit der des Grafen, mich zugleich an dem vornehmen Titel schadlos haltend. Der Plan meines Stückchens aber war der: die Gräfin gedenkt ihres abwesenden Mannes, als die Kammerzofe den Postillon anmeldet, der durchaus einen Brief eigenhändig an die Frau Gräfin abzugeben den Auftrag haben will. Der Postillon wird vorgelassen, benimmt sich höchst albern, und will den Brief nur gegen einen Kuß abliefern. Die Aufschrift verrät die Hand des Grafen, und Gräfin Alma brennt darauf, den Inhalt zu erfahren. Aber kein Befehlen, Drohen, Bitten hilft, der Frechling will den geforderten Brief nur gegen den gewünschten Lohn ausliefern. Das Kammerkätzchen erbietet sich höflich, ihn einzulösen, aber der Flegel besteht auf einen »herrschaftlichen« Kuß. Was bleibt da zu tun übrig? Ohne männliche Hilfe, dem Aufdringlichen gegenüber wehrlos, voll Sehnsucht, den Brief des Gemahls zu lesen, gibt die schöne Gräfin nach, und die Zofe muß sich als Anstandschirm zwischen sie und das Publikum stellen. In diesem Augenblick aber erscheint der Gemahl selbst, den heiße Sehnsucht seinem Briefe auf dem Fuße hat folgen lassen. Den frechen Flegel ohrfeigen und zum Tempel hinauswerfen ist das erste, leidenschaftliche Vorwürfe sind das zweite. Aber das Kammerkätzchen entlastet die weinende Gräfin, und der Graf schließt seine Gemahlin mit einem Kuß in die Arme, worüber dann schnell der Vorhang zu fallen hat.
Ich glaubte, meine Sache meisterlich gemacht zu haben, und war ebenso verwundert als siegesgewiß, als keiner der Beteiligten sich gegen meine Rolle auflehnte, und fand es, wenn auch ärgerlich, doch auch wieder natürlich, daß Alma sich in den Proben gegen den Kuß sträubte und ihn nur markierte. »Aber bei den Aufführungen muß alles nach Vorschrift gehen,« sagte ich und nahm ihr Schweigen für Zustimmung. Dennoch war ich den ganzen Tag fast krank vor Aufregung und Zweifel, ob ich nun wohl meinen Kuß bekommen würde; und so flott ich in der Probe gespielt hatte, als nun am Abend sich der Vorhang hob, das heißt die beiden Flügeltüren, die die Verbindung zwischen dem roten und dem grünen Zimmer herstellten, sich auftaten, überfiel mich vierfache Angst: die des Dichters, des Theaterdirektors, des Schauspielers und des Liebhabers. Unser Publikum bestand meist aus Erwachsenen, dem Elternpaar und einigen weiblichen Gästen. Es hieß also, sich zusammennehmen und das Beste geben. Jene vierfache Angst aber ließ mich eine ziemlich hölzerne Figur machen, wohingegen der Schlingel von Postillon all sein Pulver für den Abend aufbewahrt zu haben schien. Denn als nun der große Augenblick gekommen war, sprang er mit einem übermütigen Satz aus der vorgeschriebenen Rolle und küßte Alma unter dem schallenden Gelächter des Publikums herzhaft auf den Mund. Erbost langte ich aus, ihm die vorgeschriebene Ohrfeige nun auch recht kräftig zu geben; allein er verstand es, gewandt auszuweichen. Ich, aus der Rolle fallend, mache mich hinter ihm her und jage ihn einmal um die Bühne, ohne zu meinem Zweck zu gelangen. Der Zuschauer, die dieses alles als zum Stück gehörig nahmen, bemächtigte sich gesteigerte Heiterkeit, die sich zuletzt auch auf meine Mitspieler übertrug. Sollte das ganze Stück nicht in die Brüche gehen, mußte ich mich fassen, die verdrießliche Jagd aufgeben, und meine Rolle vorschriftsmäßig weiter spielen. Mit vor Erregung zitternder Stimme hielt ich meine vorwurfsvolle Strafpredigt, die ehrlich genug geklungen haben mag, und wartete auf den Augenblick, wo ich die gerechtfertigte Gattin versöhnt in die Arme schließen und nun auch meinerseits einen Kuß auf ihren Lippen anbringen konnte. Aber auch hier verlor ich das Spiel. Wohl warf sie sich an meine Brust, so daß ich einen Augenblick das hübsche Wesen warm und weich in meinen Armen fühlte, aber den Kopf wegwendend, machte sie es mir unmöglich, sie zu küssen; ein kurzes Ringen entstand, wobei sie mir entschlüpfte, und abermals war ich dem Gelächter ausgesetzt. Was blieb mir anders übrig, als mit einzustimmen, wollte ich mich nicht, den Gekränkten spielend, nun wirklich lächerlich machen; so aber kam ich noch billig davon, und das alberne Stück errang wenigstens ehrlich einen Heiterkeitserfolg, wenn auch auf ungewollte Weise. Ich erholte mich schnell von meiner Niederlage, und redete mir ein, daß meine Neigung zu der dunklen Alma gar nicht so groß sei, ja, gar nicht sein könne, da meine Vorliebe doch immer den Blonden gegolten habe, und nur eine solche könne es sein, die mein Herz wirklich auf die Dauer gewönne. Der Trost, den mir diese Sophisterei gewährte, hielt zwar nicht lange vor. Doch versuchte ich nicht ein zweites Mal, mich dem Mädchen vertraulich zu nähern; eine nochmalige Abweisung hätte ich nicht verwunden. Wir spielten noch oft Theater, aber nie hat Alma sich wieder herbeigelassen, mitzuspielen. Sie wuchs zu einer stadtbekannten jungen Schönheit heran, heiratete später einen Offizier und hat es, wenn ich nicht irre, bis zur Generalin gebracht.
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Galt ich auch nicht mit Unrecht für einen Stillen, der keineswegs überall mit dabei zu sein brauchte, so war doch meine Phantasie rege genug, um auch an den Sioux- und Comanchesspielen Freude zu finden. Chingachkook, der große Delaware, stellte alle Helden der Weltgeschichte in den Schatten, und jeder einzelne von uns war überzeugt, daß er ihm gleich kam an Haltung, Gebärde, Tapferkeit und Edelmut.
Ich zählte zu seinen Kriegern und diente ihm mit Eifer als Treuster der Getreuen, der am Lagerfeuer neben ihm lag, zuerst die Friedenspfeife aus seinem Munde empfing, und den Becher nach ihm an die Lippen führen durfte. Und nie wieder im Leben habe ich das beseligende Gefühl hingebender Freundschaft so kennen gelernt. Er war ein schöner, starker, blonder Junge mit lachenden Augen. Hatte ich ihn einmal einen Tag lang nicht gesehen, so war ich unglücklich; doch da er mit mir in derselben Klasse war, so kam das selten vor. Auch trafen wir uns beim Baden, wo er denn wieder in seiner jungen Knabenschönheit alle anderen überstrahlte. Es war mehr als Freundschaft, es war Liebe, die mich seine Nähe beglückend empfinden ließ. Natürlich verbarg ich diese Neigung auf das sorgfältigste. Um so überraschter war ich, als eines Tages mein Bruder mich mit der Frage überfiel: »Magst du Kurt S. auch so gerne leiden?« Wir stiegen zusammen um die Mittagsstunde die Treppenleiter in unser Bodenparadies hinauf, ich voran. Ich erschrak, als diese Frage hinter meinem Rücken laut wurde. Ich fühlte, wie ich errötete, und antwortete ohne mich umzusehen mit einem ebenso verlegenen als verwunderten Ja.
»Ich auch, ich liebe ihn,« erwiderte mein Bruder.
Seit jenem Augenblick war der Zauber gestört, wir unterhielten uns über unseren Freund, er trat damit in die Reihen der anderen zurück, und der Himmel einer ersten, scheuen, reinen Knabenliebe war entgöttert.
Ich hatte aber in jener Zeit noch einen zweiten Freund. Er besuchte eine andere Schule, wohnte aber in unserer Straße, wo wir schon früh beim Pferdespiel Bekanntschaft schlossen. Auch er war ein hübscher Junge mit krausem Blondhaar, und sein sympathisches Äußere sprach gewiß mit, daß ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Mehr aber waren es die gleichen Interessen, die uns verbanden. Er hieß Fritz und war der Sohn eines kleinen Beamten, der in einem mäßigen Wohlstande lebte. Er war klug, lebhaft und für alles Schöne begeistert. Er hatte einen Hang zum Philosophieren, und wir redeten über Gott und die Welt mit heißen Herzen und heißen Köpfen und dachten wunder was von unserer Tertianerweisheit.
»Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele?« fragte er mich eines Tages.
»Gewiß, glaube ich daran,« antwortete ich. »Alle großen Geister haben daran geglaubt. Goethe und Schiller und alle. Natürlich denke ich es mir nicht so, wie die Pastoren es predigen.«
»Ach die Pfaffen!« rief er verächtlich.
»Ja, diese Pfaffen,« pflichtete ich emphatisch bei.
Die Stirn runzelnd starrten wir beide ins Leere, als ob wir uns schwere Sorgen machten, was aus der Welt unter den Händen dieser hassenswerten Pfaffen noch werden sollte.
In Wahrheit lag uns das sehr wenig am Herzen. Wir waren zufrieden, uns an großen Worten berauschen zu können. So war auch die Unsterblichkeit nur ein Klang, der meine Seele bewegte. Im übrigen war ich des Lebens froh, genoß den Tag und ließ das Jenseits Jenseits sein. Daß es einen Gott gäbe, galt mir für bewiesen und allen Zweifeln entrückt. Ja, ich war im Grunde eine ganz fromme Seele, die sich ohne ihn gar nicht hätte zurechtfinden können. Ich betete in allen Stunden, wo mich etwas bedrückte und beängstigte, zu ihm, und war voll kindlichen Vertrauens. Ein Bild machte ich mir nicht von ihm; irgendwie und irgendwo würde er schon sein, und seiner Macht wäre nicht zu entrinnen.
Von diesen unreifen Schwärmereien, worin sich jedoch ein erstes Ahnen und Begehren, die Welt zu begreifen, regte, zog uns glücklicherweise ein anderes ab, das uns zu praktischer Betätigung zwang.
Da Fritz sich trotz seiner schöngeistigen Neigungen für den Kaufmannsstand vorbereitete, weil der Vater nicht die Mittel hatte, ihn studieren zu lassen, so trieb er, durchaus dafür begabt, fleißig fremdsprachliche Studien, darunter auch in der für Lübecks Handel so wichtigen schwedischen Sprache. Zu Schweden hatten nun auch wir einige Beziehungen, als unser Stiefvater während einiger Jahre Kompagnon des schwedischen Konsuls war. So sahen wir manchen schwedischen Besuch in unserem Hause und hatten an dem Wohllaut der Sprache unsere Freude. Daß wir sie nicht beherrschten, bedauerten wir nie lebhafter, als da wir eines Tages am Hafen die Bekanntschaft eines kleinen schwedischen Schiffsjungen machten, woraus sich eine Art Freundschaft entspann. Wir wußten genau, wann die »Drothning Luise« wieder im Hafen war, und unser kleiner Freund sah schon nach uns aus und lachte uns über die Reeling erfreut an, wenn er uns am Bollwerk entdeckt hatte. Obgleich wir uns nur mit Zeichen und Mienen verständigen konnten, waren sich unsere jungen Herzen doch einig geworden. Ihm mußte es wohltun, im fremden Hafen Kinder zu wissen, die ihm, dem gar nicht so viel Älteren, zeigten, daß sie ihn gerne hatten. Und er lohnte es uns, indem er uns ein paarmal heimlich ein paar Schiffszwiebäcke zusteckte, woran wir denn unsere Zähne wetzten. Als er uns einmal zu verstehen gegeben hatte, daß er nicht wiederkommen würde, vergossen wir Tränen beim Abschied, und auch er stand länger als sonst und winkte uns zu, während das schöne Schiff langsam die Trave hinunterglitt.
So waren wir denn gern bereit, schwedisch zu lernen, als Freund Fritz sich anbot, uns die Anfangsgründe beizubringen. Die Eltern ließen uns lächelnd gewähren; die nötigen Bücher wurden angeschafft, und wir zogen uns mit unserem Mentor zweimal wöchentlich auf unser Zimmer zurück.
Dieses Zimmer war für uns, seitdem die Schwester so weit herangewachsen war, daß sie nicht mehr bei den Eltern schlief, sondern eines Raumes für sich bedurfte, auf dem ersten Bodengeschoß hergerichtet worden. Es war eigentlich nur ein Bretterverschlag, innen aber mit einer hellen, freundlichen Tapete versehen; ein höchst gemütlicher, wohnlicher Raum. Wir schliefen nicht nur hier, sondern machten auch unsere Schularbeiten an einem runden Tisch, der in der Nähe des einzigen Fensters stand. Dieses führte auf das Dach des Nachbarhauses hinaus, wo wir denn in der Dachrinne die Katzen spazieren gehen sahen und leichtiglich von ihnen Besuch erhalten konnten, was aber meines Erinnerns nie vorgekommen ist; aber die Sperlinge, denen wir Brosamen streuten, kamen zutraulich heran, und ab und zu huschte auch wohl mal ein Mäuschen längs der Rinne.
Eigentlich war mir dieser Ausblick auf das hohe, schmale, schräge Ziegeldach des Nachbarhauses ebenso lieb, als ein schönerer auf Gärten und Felder. Denn meine Neigung, mich mit der Phantasie in Fugen und Ritzen und Löcher zu verkriechen, fand hier reichliche Nahrung. Wenn im Winter der Schnee die Rinne füllte, bei Regenwetter der Regen über die rotbraunen Pfannen herunterrauschte und sich in der Rinne zu einem reißenden Strom sammelte und weiterschoß, oder wenn die liebe Sonne die wunderlichsten Lichter auf den roten Steinen entzündete, immer war es eine andere Welt.
Ganz abgeschieden und geborgen waren wir hier in unserem eigensten Reich, Licht und Luft kamen gerade genug herein, und immer war es im Sommer hübsch kühl und im Winter durch die Nähe des Schornsteins für uns nicht allzu empfindlichen Jungen warm genug. Hier saßen wir nun um den runden Tisch, deklinierten »flicka«, das Mädchen, und hüllten uns dabei in mächtige Rauchwolken, denn wir hatten Ort und Zeit für günstig gehalten, wenigstens diese eine unserer indianischen Gepflogenheiten wieder aufzunehmen. Das Fenster wurde vorsorglich geöffnet, damit die verräterischen Tabakwolken alsobald entweichen konnten, und es ging eine ganze Weile so gut, bis das Rauchopfer, das wir der schwedischen Nation und ihrem vokalreichen Idiom brachten, an den Tag kam, anders, als wir es mit dem Öffnen des Fensters beabsichtigten. Dazu gehörte freilich nur die Nase des Mädchens, das morgens unsere Betten machte, denn es fing allmählich alles an, nach unserem billigen, abscheulichen Kraut zu riechen. So tat sich denn eines Tages, als wir drei Schweden eifrig tobakten, die Tür auf, und unser Stiefvater erschien mit einem Lächeln, welches uns anzeigte, daß er als Wissender kam.
»Ich glaube, ihr könnt jetzt genug schwedisch und gebt die Stunde auf.«
Das war alles, was er sagte. Aber wie beschämt waren wir und war vor allem unser Mentor, mein guter Fritz. Er packte seine Bücher zusammen und ließ sich einige Zeit lang nicht in unserem Hause blicken. Das wunderliche Gesicht unseres Stiefvaters aber sehe ich noch vor mir; er mochte ähnlicher Dinge aus seiner Knabenzeit gedacht haben und innerlich mehr belustigt als erzürnt gewesen sein.
So waren die schwedischen Studien vorzeitig beendet, und mir ist aus jenen Stunden nicht einmal die Fähigkeit verblieben, »flicka«, das Mädchen, noch richtig deklinieren zu können. Nur »jag elsker dig«, ich liebe dich, ist als einzige und unvergeßliche Vokabel in meinem Kopfe hängen geblieben.
»Jag elsker dig!« Wie oft, wenn auch völlig gegenstandslos, haben wir es in jenen Tagen ausgerufen. »Jag elsker dig!« und jeder dachte sich ein liebes, himmlischschönes, aber schemenhaftes Wesen dabei. »Jag elsker dig!« Ich könnte die ganze Glut einer nach Zärtlichkeit dürstenden Seele hineinlegen, dabei die Arme ausbreiten und die leere Luft mit Ungestüm an meine Brust drücken. Ich ahnte nicht, daß mein junges Herz bald einen lebendigen Gegenstand für seine Schwärmerei finden sollte.