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VII

Bandler hatte es übernommen, meinen Brief Kluge zu überbringen, und die Sache war beigelegt. Aber im ganzen Städtchen sprach man von dem vereitelten Duell. Ich war lächerlich geworden. Ich mied den Klub, erschien nicht am Stammtisch und wäre auch nicht mehr in den »Goldenen Engel« zum Mittagessen gegangen, wenn nicht Kluge mir zuvorgekommen und in Lindes Gasthof übergesiedelt wäre. Auch ihm hatte die dumme Geschichte nur geschadet. Ich empfand immer mehr Scham, je länger ich über alles nachdachte und verlebte böse Tage.

Die Rede des Alten in den Wolken hatte mich auch getroffen; vielleicht war sie schon das Vorspiel zu einer Kündigung.

Der Alte hatte recht: ich mußte einmal weiter, mich anderswo umsehen, möglichst viel neues kennen lernen.

Von Martha würde mir der Abschied schwer werden. Jetzt, da ich an die Möglichkeit des Scheidens dachte, kam es mir zum Bewußtsein, daß sich zwischen uns ein feines und starkes Band angeknüpft hatte, von Herz zu Herz. Ja, sie war die einzige gewesen, die wirklich um mich gebangt hatte, als sie von der albernen Schießerei hörte. Wie herzlich erfreut hatte sie mich empfangen, als ich mich etwas beschämt und kleinlaut wieder bei ihr einfand. Kein Wort des Vorwurfs, kein Spott, kein Scherz, nur eine stille Freude, daß ich da sei. Ihr sollte jetzt meine Zeit gehören, solange ich noch hier verweilen durfte.

Im Geschäft bemühte ich mich, meinen Platz nach besten Kräften auszufüllen; man schien das auch anzuerkennen, denn ein Tadel wurde nicht laut, und Herr Nutzsche und gelegentlich auch der Chef kamen mir mit größerer Freundlichkeit entgegen. Nach einigen Wochen hatte ich mich schon wieder in die Gewißheit eingewiegt, daß eine beabsichtigte Kündigung nur in meiner Einbildung lebte, und daß es nur von mir abhängen würde, wann ich mein Bündel schnüren wolle, vorausgesetzt, daß ich in der Erfüllung meiner Pflichten nicht nachließe.

Ich mied möglichst alle überflüssigen Zerstreuungen und suchte mit der wachsenden Jahreszeit meine Erholung immer mehr in der Natur, wobei mir die einsamsten Spaziergänge die liebsten waren. Auf dem Wege innerer Einkehr hatten meine Gedanken auch häufiger die Richtung in die Heimat und in das Elternhaus genommen. Die Nachrichten von dort waren keineswegs geeignet, mich fröhlich zu stimmen, vielmehr erfuhr ich viel Trübes, Niederschlagendes. Daß der Maskenball und seine albernen Folgen mich ganz die Not der Mutter hatten vergessen lassen können, machte ich mir allmählich zum Vorwurf. War ich denn ganz verflacht und verroht, war jedes tiefere, edlere Gefühl in dem Meer von Nichtigkeiten, in dem ich hier plätscherte, untergegangen? Was ich nie gespürt hatte, überfiel mich jetzt mit Gewalt, das Heimweh. Es war mir, als könnte ich hier zwischen den Hügeln und Wäldern nicht mehr frei atmen. Wie eng war hier alles. Nur bis zur nächsten Wegbiegung konnte der Blick reichen. Ich hungerte nach Weite, nach der Heide meiner nordischen Heimat, nach ihrem unendlichen Himmel, nach Feld und Knick. Als ich nach einer längeren Wanderung auf eine lichte Waldhöhe hinaustrat, zu deren Füßen sich ein langgestrecktes Tal eröffnete, ergriff mich dieser Anblick mit Gewalt. Ich breitete die Arme aus und mir war, als müßte ich fliegen können, als wüchsen mir Flügel. Wie ich mich an jenem Abend körperlich eins mit dem silbernen Licht des Mondes gefühlt hatte, so war mir jetzt, als müsse ich mit dem leisen Wind, der durch das Tal wehte, dahinschweben können, losgelöst von aller irdischen Schwere. Ein Birkenbäumchen, das neben mir sein weißes Stämmchen erhob, schwankte mit seiner zierlichen Krone leis im Winde; es neigte sich zu mir, ein Flüstern schien durch sein helles Laub zu gehen, und es war mir, als spräche es zu mir. Ich schlang meinen Arm um das Bäumchen und legte meine Wange an seine kühle Rinde. »Die große Sehnsucht, die in allem lebt,« sagte ich halblaut, »sie lebt auch in dir. Hier stehst du, über dir den Himmel und die Winde, unter dir das Tal und vor dir die silbrige Ferne. Da wächst du, wächst immer hoher vor lauter Sehnsucht. Aber die Sterne stehen so hoch, daß niemand sie erreicht, und der größte Baum hat immer noch seine Sehnsucht hinauf, hinauf, über sich hinaus.«

Es war mir so natürlich, daß ich mich mit dem Bäumchen unterhielt. Was war denn dieses Gefühl anders, das mich jetzt in das Gras niederzwang, das mich die zarten Halme durch meine Finger gleiten und das Ohr fest an die grüne Erde drücken ließ, als könnte ich auch von dort Stimmen vernehmen, zarte, geheimnisvolle und doch so vertraute Stimmen – was war es anders als das lebendige Gefühl des Einsseins mit aller Kreatur.

*

Eines Tages führte mich mein Weg wieder ins Freie. Ich war ein halbes Stündchen gewandert, als ich aus dem weichen Moos des steigenden Wegrandes ein weißes Hügelchen emporsteigen sah, das ich aber alsbald als ein mit einer Sommerweste bekleidetes Bäuchlein erkannte, zu dem auch ohne Zweifel die zwei kurzen Stümpfe gehörten, die halb in den Weg hineinragten und sich als grobbeschuhte Menschenfüße erwiesen.

»Ah, Herr Musikdirektor, ein Mittagschläfchen?« fragte ich.

Das Wurstmännchen, aus seiner Beschaulichkeit aufgestört, erhob sich zu sitzender Stellung, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte: »Wo kommen Sie denn her?«

»Ich gehe spazieren,« erklärte ich.

»Leben's denn noch?«

»Wie Sie sehen.«

»Nun, ich meint, Sie hätten sich wollen totschießen lassen,« lachte er.

»Diese dumme Geschichte,« sagte ich ärgerlich. »Bitte, lassen Sie das ruhen.«

»Na, na, nur nichts krumm genommen. Hab' auch solche Dummheiten früher gemacht.«

»Sie?« rief ich verwundert.

»Wohin gehen's,« fragte er zurück. »Ich geh' ein Stückchen mit, oder wollen Sie allein sein?«

Ich lud ihn ein, mich zu begleiten, und er wölterte sich aus der sitzenden Stellung auf seine kurzen Beine, wobei ich ihm behilflich war. Er schlug sich die Grashälmchen vom Rock, trocknete sich noch einmal mit dem roten Taschentuch das Gesicht und stülpte einen breitrandigen, nicht mehr ganz sauberen Strohhut nachlässig auf den dicken Schädel.

Er ging ganz lustig mit seinen dicken Beinen neben mir her und hielt Schritt.

»Ja, ja,« setzte er gleich die Unterhaltung fort. »In der Jugend ist man eben oft ein Esel, hat auch ein Recht dazu. Hahaha! Hahaha! Haben Sie sich also ausgesöhnt? Hahaha!«

Ich ärgerte mich, daß er wieder auf die Geschichte zurückkam.

»Warum haben denn Sie sich schießen wollen?« fragte ich.

»Wollen? Geschossen ist worden.«

»Im Ernst?«

»Sie traun's mir wohl nicht zu?« fragte er belustigt. »Damals war ich noch nicht so dick und war eine schlechte Zielscheibe, nicht einmal so dick wie Sie heute.«

»Und wie lief's denn ab?« fragte ich, neugierig geworden.

»Für mich gut, wie Sie sehen, der andere aber hatte den kleinen Finger seiner Schießhand dabei geopfert. Aus der Hand hab' ich ihm die Pistole geschossen. Wie ich's gemacht hab', weiß ich heut noch nicht.«

»Und warum haben Sie sich geschossen?«

»Ich hatte ihn geohrfeigt.«

»Oho!«

»Ja, regelrecht geohrfeigt. Ich war ein rabiates Kerlchen damals auf der Akademie. Er wollte mir den Wagner nicht gelten lassen. So ein windiges Flötenpusterchen, wie er war. Wir gerieten uns arg in die Haare. Und als er mir die Meistersinger eine Schmiererei nannte und den Meister einen Faxenmacher und Dilettanten schalt, haute ich ihm schlankweg eine runter, daß er fast umgekugelt wäre. Und da es in einem öffentlichen Lokal war, in einem Café – kennen Sie Berlin?«

»Nein.«

»Na, ist ja auch gleichgültig.«

»Glaubt er denn jetzt an Wagner?« fragte ich lachend.

»Gott, der arme Kerl ist längst tot, war sowieso schwindsüchtig. Ein paar Jahre hat er noch die Becken und die Trommel geschlagen, da er ja mit seiner verstümmelten Hand die Flöte nicht mehr traktieren konnte. Es war eine Eselei von uns beiden und keinen kleinen Finger wert.«

So erzählte er, indem er seine Rede durch ein gewohnheitsmäßiges, halb gutmütiges, halb ironisches Lachen von Zeit zu Zeit unterbrach. Im nächsten Dorf machten wir in einer kleinen Wirtslaube Rast, und ich erfuhr bei einem Glas Apfelweins noch einiges aus seinem Leben. Ein Künstlerleben, wie es unzählige leben. Mit vollen Segeln hinaus und auf halber Fahrt Kehrt und still mit gerefften Segeln in irgendeinen kleinen Hafen sich zurückschleppen lassen. Er hatte auch komponiert: Kammermusik, eine Sinfonie, Lieder, meistens aber Klaviersachen, die unter klingendem Titel das Entzücken der klavierspielenden höheren Töchter geworden waren, wie er, sich selbst verspottend, hinzufügte. Dann war er hier als Musikdirektor und Chordirigent gelandet und hatte, da er unvermählt geblieben war, ein gutes Auskommen gehabt.

»Die Künstlerlaufbahn ist gewiß recht schwer,« sagte ich, als er einen Augenblick schwieg. Er schien nachzudenken, was er mir darüber sagen sollte. Dann fuhr es ihm fast polternd heraus:

»Ich hatte auch Talent, am Klavier. Und wenn's auch mit dem Lorbeer nichts geworden ist, ich war ein guter und ehrlicher Musikant. Aber die Narren, die sich ohne Talent in die Tempel drängen. Natürlich, sie sind alle fest davon überzeugt, daß sie sehr begabt sind. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß die achtzehn, neunzehn Jahre ein kritisches Alter für Menschen von latenter künstlerischer Veranlagung sind; da gärt alles, meistens nebulös, oft absurd, da herrscht ein Gefühlsüberschwang, der sich mit Vorliebe in die wehmütigen Seiten des Lebens vertieft; die Wertherstimmung, die Goethe von jedem deutschen Jüngling verlangt. Kommt dazu noch eine mehr oder weniger tiefe Leidenschaft, so fließt der Kelch über, das heißt, bei derartig veranlagten Personen offenbart sich eine Empfänglichkeit für alles was mit Kunst zusammenhängt, und diese Empfänglichkeit wird in neunzig von hundert Fällen leider mit Schöpferkraft verwechselt. Da heißt es denn, sich immer wieder auf Herz und Nieren prüfen. Der Zweifel in der Brust muß sein. Aber es muß immer wieder überwunden werden, dann ist es gut. Äußere Hemmnisse schaden dann nicht, bei passiven Naturen bewirken sie manchmal geradezu, daß der Betreffende alles aus sich herausholt, und sich auf sich selbst besinnt. Jedenfalls ist eine grenzenlose Hingabe nötig, um etwas zu erreichen, und man muß manche bittere Pille hinunterschlucken, bis man so weit ist. Aber das sagen Sie so einem armen Tropf; er glüht in rührendem Eifer und hält sich für einen der Auserwählten.«

Er hatte sich ganz erregt und sogar eine Zeitlang ohne sein kurzes Dazwischenlachen gesprochen. Jetzt stieß er ein helles Gelächter aus.

»Da haben Sie den alten Kerl mal in Eifer gesehen! Was predige ich Ihnen das alles? Sie wollen ja keine Sinfonien komponieren. Daß Sie so ein bißchen Klavier spielen, weiß ich ja. Hab's neulich mal beim Pfälzer gehört. Haben's denn zu Hause auch ein Instrument?«

Ich erzählte ihm, daß ich mit Prätorius häufig zusammen musiziere.

»Der?« fragte er gutmütig, »ja, der ist nun ein Dilettant. Aber was schadet das? Er hat sein Vergnügen, und will nichts sein damit, und spart manchen Grog dadurch.«

»Der arme Kerl dauert mich immer,« sagte ich.

»Armer Kerl, wieso? Der steht doch nichts aus.«

»Nun, die kranke Schwester!«

»Ja, so. Sagen Sie mal, die ist wohl 'n bißchen verschroben? Betschwester, was?«

Da fuhr ich aber auf, und er sah mich ganz erschrocken an und wurde fast bescheiden.

»So, so,« sagte er, »da will ich nichts gesagt haben. Vor wahrer Frömmigkeit hab' ich den größten Respekt. Nur vor diesem Pastorenchristentum, wissen Sie, hab' ich eine höllische Abneigung. Indem sie uns Gottes Wort bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit morgens, mittags und abends mit ihrem salbungsvollen Mundwerk vorgekaut, haben sie uns die kernige Speise zu einem widerlichen Brei gemacht, der uns endlich widersteht. Sie müssen mich aber für keinen Heiden halten. Ich alter Kerl spreche noch heute mein Abendgebet, wie's mich die Mutter lehrte und – das Leben.«

War dieser alte, prächtige Mensch unser Wurstmännchen, über das ich mich immer im stillen belustigt hatte? Warum mußte ich so spät seine Bekanntschaft machen? Wie viele Leute seines Schlages mochten noch in unserem Städtchen wohnen, und ich wußte nichts von ihnen. Statt dessen hatte ich mich unter jungem unbedeutendem Volk herumgetrieben und hatte meine Zeit vergeudet. Doch das hatte ja nun aufgehört. Der Alte lud mich ein, ihn doch einmal zu besuchen, und ich versprach es.

Ganz fröhlich kehrte ich von diesem Spaziergang heim. Am meisten freute mich, daß ich Gelegenheit gehabt hatte, für Martha ins Feuer zu gehen. Recht wie ein Ritter für seine Dame, so hatte ich für sie gestritten. Und hatte den Alten aus dem Sattel gehoben, daß er ihr im Staube Abbitte tun mußte. Das machte mich ganz glücklich.

Ein neues Lebensgefühl begann mich zu beseelen; ich fühlte mich wie ein Schwimmer, der aus einem trüben und verkrauteten Wasser in einen tiefen, klaren Strom sich durchgearbeitet hat und wohlig die Muskeln spannt zum spielenden Kampf mit dem reinen Element. Aber die immer häufiger werdenden Briefe aus der Heimat ließen es zu einem reinen Glücksgefühl nicht kommen. Die Eltern waren in Konkurs geraten, das Haus meiner Kindheit war in fremde Hände übergegangen, der Vater siech im Krankenhaus und meine Mutter mit den Geschwistern nach Hamburg übergesiedelt, um sich da von ihrer Hände Arbeit zu ernähren.

Und zuletzt kam von dort eine Hiobspost, die sollte mich mit allen Würzelchen und Fäserchen wie eine schwanke Efeuranke aus diesem liebgewordenen Boden reißen. Das arme, vom Leben nur gepeinigte Schwesterchen war gestorben. Und nicht genug, daß dieses Lieblings- und Schmerzenskind die Mutter verließ, auch mein Bruder, dem durch Vermittelung eines guten Freundes eine aussichtsreiche, verlockende Anstellung in der Südsee angeboten worden war, wollte auf und davon gehen. Ihm war kein Vorwurf zu machen. Er kam auf diese Weise aus der einfachen Schlosserwerkstatt in das weite Getriebe einer großen Plantagengesellschaft, wo sich ihm die Möglichkeit bot, sich über das Niveau, auf das ihn der Wille des Stiefvaters niedergedrückt hatte, zu erheben, wozu ihn alle Fähigkeiten und die genossene Erziehung berechtigten. Die arme Mutter aber sollte, dann fast aller ihrer Kinder beraubt, mit der einen ältesten Tochter allein zurückbleiben. Da hatte sie das sehnliche Verlangen, mich, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte, einmal wieder zu umarmen, um sich meines Besitzes versichern zu können. Ja, sie schlug mir vor, ganz nach Hamburg zu kommen; dort gäbe es doch auch Buchhandlungen, wo ich mein Brot finden könne. Auch müßte ich doch dem Bruder, bevor er, vielleicht auf Nimmerwiederkehr, die lange Reise über den Ozean anträte, noch einmal sehen. Ihr Brief wurde zum Schluß zu einem heißen Flehen, sie nicht allein zu lassen, und Tränen hatten die Unterschrift unleserlich gemacht.

Ich sah mein Schwesterchen ausgestreckt, wie sie die längsten Jahre ihres jungen Lebens gelegen hatte, auf dem Totenbett, gedachte der Zeit, wo sie als Vierjährige mit ihren kurzen Beinchen fröhlich über den Rasen sprang, hörte ihr süßes Stimmchen die ersten Liederchen singen:

Ein Schäfermädchen weidete
Ein Lämmchen weiß wie Schnee –

Das ganze Glück unserer Kindheit stand wieder auf, die lieben alten Räume des Vaterhauses, darin nun fremde Menschen hausten, und es war mir, als sei das alles jetzt erst mit dem Schwesterchen tot. Der schwarze Sargdeckel legte sich darüber und ich konnte nicht einmal einen Kranz darauf legen.

Und doch, ich konnte es. Jetzt hieß es Mann sein, Sohnespflicht erfüllen und arbeiten und streben, der Mutter ihren Lebensabend zu vergolden, wie sie es an unserem Morgen getan hatte. Das sollte der Kranz sein, den ich auf den Sarg meines Schwesterchens, auf das Grab meiner Jugend legte.

*

Der Chef und Herr Nutzsche billigten meine Entscheidung und stellten mir frei, früher zu reisen, wenn sie so zeitig Ersatz für mich finden könnten. Dieser Plan hätte nun noch gestört werden können, wenn ich nicht in dieser Zeit der Sorge um meine Militärpflicht enthoben worden wäre, indem man mich vorläufig auf ein Jahr zurückstellte. Das war für mich, der ich mir immer nur um den nächsten Tag Gedanken zu machen pflegte, eine lange Zeit.

So richtete ich mich ein, jederzeit bereit zu sein. Zum alten Musikdirektor, den zu besuchen ich immer noch aufgeschoben hatte, kam ich nun nicht mehr. Was sollte mir noch die Anknüpfung neuer Beziehungen? Martha, die von meinem Schwesterchen wußte, daß sie in gleicher Weise ans Bett gefesselt war wie sie, war schmerzlich bewegt. Ich hatte gemeint, ihr den Tod verheimlichen zu sollen, aber Prätorius war mir in einer seltsamen Rücksichtslosigkeit, der er sich manchmal schuldig machte, zuvorgekommen. Ich mußte Martha von der Verstorbenen erzählen, tat es unter möglichster Schonung ihres eigenen Zustandes und erlebte einen traurig-schönen Abend an ihrem Krankenbette. Die Fenster standen offen, die laue Sommerluft strömte ungehindert hinein, und die sinkende Sonne gab ihren roten Schimmer über das weiße Linnen der Decke und über Marthas weiße Hände.

Prätorius machte mir ein stummes Zeichen, ich würde ihr mit etwas Musik jetzt wohltun. Sie hatte es bemerkt und rief vorwurfsvoll: »Aber Alwin! In solcher Stimmung!«

»Doch, doch,« rief ich, »ich spiele.« Und schon saß ich am Klavier, und nur eine Sekunde lang ließ ich die Finger auf den Tasten ruhen, als sie von selbst Chopins Trauermarsch zu spielen anfingen. Die Monotonie der immer wiederkehrenden tiefen B-Akkorde wirkte wunderbar beruhigend auf mich, ja, ich rang mich aus meinem Schmerz immer mehr zu einer trotzigen Gefaßtheit durch, die mir wohltat, die mich befreite. So konnte ich das himmlische, wie von Engelstimmen gesungene Trio mit einem freien Ausdruck spielen, beseligt und getröstet. Als ich wieder in die Monotonie des Trauermarsches einleiten wollte, gab mir Prätorius ein Zeichen aufzuhören. Über sein großes, rotes Gesicht ging ein wunderliches Zucken.

»Es hat sie doch angegriffen,« sagte er, kaum verständlich, mit gepreßter Stimme.

Leise erhob ich mich; da lag die Kranke mit geschlossenen Augen, bleicher als sonst, und über ihre schmalen Wangen liefen unaufhaltsam die großen Tränen.

Jetzt erst wurde sie gewahr, daß ich nicht mehr spielte. Sie öffnete die Augen, sah mich mit einem wehen Lächeln an und schlug dann schnell die Hände vors Gesicht, als schäme sie sich ihrer Tränen.

»Wie schön, wie himmlisch schön war das,« sagte sie leise.

»Ich komme morgen wieder,« flüsterte ich Prätorius zu. »Einen schönen Gruß.« Und auf den Zehen eilte ich zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.

War ich wahnsinnig? Was ließ mich denn diesen Trauermarsch spielen! Aber ich hatte es ja nicht gewollt, es war wie unter einem Zwang gekommen, ohne mein Zutun, strömte aus dem Innersten meiner Seele, als ihr natürlicher melodischer Atem.

Ich sollte Martha nicht wiedersehen. Sie war ein paar Tage darauf in eine schwere Krankheit verfallen. Eine zu tiefe seelische Erschütterung hätte wahrscheinlich ihr schwaches Nervensystem in Unordnung gebracht, meinte der Arzt.

Als ich im September meinen Koffer packte, war sie in der Genesung, durfte aber noch keinen Besuch empfangen. Tief erschüttert nahm ich von Prätorius Abschied, trug ihm Grüße an die Schwester auf und versprach aus Hamburg zu schreiben.

»Sie hat Sie sehr geliebt,« sagte er. »Vergessen Sie sie nicht.«

Bandler brachte mich an den Bahnhof. Es war ein erster, vorzeitiger Herbsttag, der sich vorauseilend in unser Tal verirrt haben mochte, wo sonst bis in den Oktober hinein noch eine milde Spätsommerwitterung zu herrschen pflegte. Das Laub prangte auch noch in den herrlichsten Farben an den Ästen und Zweigen, aber ein fast kalter Wind warf diese hin und her und trieb uns den Staub entgegen, als wir die stille, menschenleere Straße zum Städtchen hinausschritten. Über dem Hügel, von dem ich damals zuerst in dieses schöne Land hineingesehen hatte, das Herz voller Frühlingshoffnung, zogen die schnellen, schwarzen Schatten der Wolken, die vor dem Winde hineilten. Mich fröstelte. Auch vor mir stiegen Schatten auf, schwärzer, drohender als die, die jetzt das Städtchen hinter meinem Rücken übeldunkelten. Aber von Zeit zu Zeit drang eine liebe, schöne Sonne durch das Gewölk: das Bild der Mutter.

Es waren nur wenige Reisende auf dem Bahnhof; der Zug, ein Schnellzug, hielt nicht lange. Um so besser. Ein kurzer Abschied und dann der Zukunft entgegen. Ein letzter Händedruck, ein letztes Winken, und ich sah auch den Freund nicht mehr.

In die Ecke geschmiegt, war ich allein mit meinen Gedanken in dem traurigen, harten Coupé. Mir war bang und beklommen zumute. Auch die Gedanken an die Heimat hellten mein Gemüt nicht auf. Ach, es war ja nicht mehr die alte Heimat, die ich einst als halbes Kind verließ.

Sieben Jahre waren seitdem vergangen. Was hatten sie mir gebracht? Ich kam mir vor wie einer, der nach Schätzen ausgezogen war und mit leeren Händen nach Hause kommt. Je weiter der Zug mich entführte, je mehr wollte mir alles, was ich nun hinter mir gelassen hatte, wie ein Traum erscheinen. Nur eines blieb Wirklichkeit: das blasse, tränenüberströmte Gesicht auf dem Leidensbett. Annas Lärvchen wollte sich dazwischendrängen, aber ich schob es beiseite.

Martha, du stille Dulderin. ›Sie hat Sie sehr geliebt, vergessen Sie sie nicht,‹ klang es in mir nach.

Nie, nie werde ich dich vergessen!

Draußen flogen Hügel und Wälder vorbei, jetzt in dunkle Schatten gehüllt, jetzt von einem Streifen Sonnenlicht blitzartig überhellt. Unaufhaltsam ging es der Heimat zu, einer ungewissen Zukunft entgegen. Nur eines wußte ich: sie würde Arbeit sein, ernste, männliche Arbeit.


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