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Viertes Buch

I

Die Trennung von der Mutter war der einzige Schatten, der auf mein junges Glück fiel. Alle die langen Jahre hatten wir Tag für Tag miteinander gelebt, nun wurde es ihr schwer, sich zu bescheiden, und wenn ich bei aller Liebe zu ihr aus meinem Glück keinen Hehl machte, konnte sie manchmal eine leise Eifersucht nicht unterdrücken.

Ich aber fühlte mich nun endlich im Hafen. Mein Leben hatte Halt und Ziel bekommen, die Last des Berufes trug sich leichter, da ich für etwas Liebes sorgte, und meine Bestimmung schien mir erreicht. Nun hieß es, in treuer Arbeit das Erreichte zu befestigen.

Wir waren auf das allergenügsamste eingerichtet. Jede der Mütter hatte hergegeben, was sie entbehren konnte, und für das Fehlende hatte ich selbst sorgen müssen. Da zeigte sich mit der Zeit, daß dieses und jenes noch nötig sei und daß gerechnet und gespart werden mußte, um es herbeischaffen zu können. Doch wir hatten beide gelernt, mit wenigem glücklich zu sein.

Ein Abend in der Woche gehörte Georg, und da seine Mutter in der letzten Zeit angefangen zu kränkeln, und er sie ungern verließ, so ging ich zu ihm und ließ meine Frau bei einer Handarbeit und einem Roman zurück. Als nun aber die alte Frau kränker wurde, sahen wir uns immer seltener und hatten uns einmal fast während eines Vierteljahres nicht mehr als flüchtig gesehen und nur durch kurze Kartengrüße voneinander gehört. Dann rief er mich zu sich, seine Mutter sei gestorben.

Ich fand ihn sehr blaß, sehr einsilbig, aber äußerlich gefaßt. Als wir nach dem Begräbnis davon sprachen, wie er sich jetzt einrichten wolle, konnte er zu keinem Entschluß kommen.

»Heirate,« riet ich.

Er sah mich einen Augenblick mit seinen schwarzen Augen groß an und sagte dann leichthin: »Das ist jetzt zu spät.«

Ich meinte, er dächte an die verlorene Braut und rief: »Keineswegs! Es gibt der Mädchen mehr, und du bist noch nicht zu alt.«

Da machte er mir ein erschütterndes Geständnis.

Sein Vater, den er übrigens kaum gekannt habe, sei im Irrenhaus gestorben. Er habe das erst spät erfahren, und zwar damals, als die Untreue seiner Braut ihn niedergeworfen; die Familie des Mädchens habe irgendwoher die Krankheit des Vaters in Erfahrung gebracht, und dann sei es zu einer Aussprache zwischen ihm und der Mutter gekommen.

»Und ich sollte heiraten, ich dürfte heiraten!« rief er erregter werdend.

Ich versuchte, ihm den Vererbungsgedanken auszureden, natürlich ohne Erfolg, da ich ihm heimlich zustimmen mußte.

»Nein, nein,« rief er. »Reden wir nie wieder davon, ich bitte dich darum.«

Erschüttert verließ ich ihn. Doppelt grausam erschien mir sein Geschick, da ich in meinem jungen Eheglück saß.

Vom Irrsinn bedroht, an der Grenze der Vernunft hin nachtwandelnd, ein geringster Anstoß, und die Nacht verschlang ihn. Und er wußte das seit Jahren. Und dabei dieser Gleichmut, diese gelassene Heiterkeit.

Der Tod seiner Mutter aber hatte auch für mich eine wunderliche Folge, die uns zuerst noch näher zusammenbrachte, um dann später die Ursache unserer Entfremdung zu werden.

Ich hatte am Abend der Beerdigung, von der stillen Innigkeit seines Schmerzes gerührt, ein paar Verse aufs Papier geworfen, von denen ich glaubte, daß sie ihm Freude machen könnten.

Nach dem Begräbnis.

Eine alte kranke Frau
Haben heute wir begraben,
Ob sie nun wird Frieden haben?
Ach wir wissens nicht genau.

Eins nur wissen wir, ein Stück
Nahm sie von des Sohnes Herzen
Mit ins Grab und ließ in Schmerzen
Nun ihr Liebstes hier zurück.

Wenn die Klage auch verstummt
Und die Tränen auch versiegen,
Schmerz schleicht doch auf allen Stiegen,
Hockt in jeder Eck' vermummt.

Wenn du gar nicht sein gedacht,
Kommt er, dir die Hand zu reichen,
Sanft den Scheitel dir zu streichen,
Wie's die Mutter hat gemacht.

Er war gerührt. Vielleicht wäre er zu anderer Zeit kritischer gewesen, aber sein Herz weinte noch, und er fand das Gedicht schön. Er wunderte sich, daß ich ihm nie von meinen Versen gezeigt hatte, denn daß diese die ersten seien, würde ich ihm nicht einreden können. So kam ich denn mit den wenigen Versuchen, die ich aus der letzten Zeit besaß und die größtenteils an meine Braut gerichtet waren, heraus, und fand auch mit den meisten vor ihm Gnade.

»Du bist ja ein Dichter,« sagte er verwundert.

Ich aber wollte einen so hohen Titel nicht ohne Widerrede annehmen und meinte, sein Urteil allein wäre mir doch nicht maßgebend, worauf er mir riet einige Gedichte zur Prüfung an irgendeine Redaktion einzuschicken.

Ich erinnerte mich aus meiner Buchhändlerzeit der »Deutschen Dichtung« von Karl Emil Franzos und der »Romanzeitung«, die Otto von Leixner leitete. Nach einigem Zögern entschloß ich mich denn, das Gedicht auf den Tod der Mutter meines Freundes an Franzos zu schicken. Natürlich abonnierte ich auf sein Blatt und verfolgte nun mit Spannung Nummer für Nummer. Und siehe, mehr als ich erwartet hatte: das Gedicht war im Hauptteil des Blattes abgedruckt und hinten im Briefkasten standen einige ermunternde Worte.

»Siehst du!« rief Georg triumphierend. »Sage nun noch, ich verstünde nichts von diesen Sachen.«

Freilich mußte er selbst ein paar Tage später meinen Stolz dämpfen, indem er mir die neueste Nummer des »Kladderadatsch« brachte, in dessen Briefkasten mein schönes Gedicht dem Spott verfallen war. Alte kranke Frauen so ohne weiteres zu begraben, hieß es da, wäre eigentlich bisher nicht gestattet worden, und wäre auch reichlich grausam. Aber vielleicht hätten wir so lange gewartet, bis die alte kranke Frau auch tot gewesen wäre.

Wir lachten und schalten auf den Philister, der etwas Selbstverständliches noch wollte erwähnt haben, und deckten uns mit dem blanken Schild der »Deutschen Dichtung«, die gewiß keinem schlechten Gedicht ihre Spalten geöffnet haben würde.

Als nun Franzos von einer zweiten Sendung wieder ein Gedicht annahm, war das ein wenig wankend gewordene Selbstvertrauen wieder völlig hergestellt, und ich sah mich schon in die Reihe der deutschen Dichter glorreich aufgenommen.

Doch hätte eine so ruhmvoll begonnene Laufbahn leicht ein frühzeitig Ende nehmen können. Georg, einer kleinen Ausspannung bedürftig, hatte mich überredet, ihn nach Büsum zu begleiten. Es war Pfingsten, das Wetter günstig, und wir gingen im schönsten Sonnenschein auf dem langen grünen Deich spazieren, an den das leichtbewegte Meer seine Wellen warf.

Georg, der leidenschaftliche Wassermensch, konnte alsbald der Lust nicht widerstehen, ein erfrischendes Bad zu nehmen, und ich ließ mich verlocken, auch die Kleider abzuwerfen. Wie wohlig umfing mich die Flut! Der Freund war mit ein paar Schlägen schon weit draußen, während ich mich vorsichtiger in der Nähe des Ufers zu halten gedachte. Als ich nun aber den Rückweg antreten wollte, bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß ich gegen einen heftigen Strom anzukämpfen hatte, und zugleich schoß es mir durch den Kopf: Du kämpfst gegen die Ebbe.

Ich verdoppelte meine Anstrengungen, aber meine Kräfte verließen mich, als ich mich gerade über einem tiefen Priel befand. Ich war indes dem Ufer nah genug, so daß ein Mann, der auf dem Deich an einem Netz flickte, mich sehen konnte. Ich rief und winkte, aber er nahm für Lust und Übermut, was Not und Angst war, und winkte mir fröhlich zurück. Endlich begriff er die Sache und sprang, als ich schon der Erschöpfung nahe war, mit Stiefeln und Kleidern ins Wasser; aber auch er konnte gegen die Gewalt des ebbenden Stromes nicht an, und begann zu rufen und zu winken, worauf denn ein Boot, ich weiß nicht woher, eilig herangerudert kam und uns aufnahm.

*

Eines Tages fand ich bei meinen Buchhändlern ein Heft der von Bleibtreu und Conrad herausgegebenen »Gesellschaft«. Es enthielt einen Aufsatz über den mir bisher unbekannten Dichter Detlev von Liliencron, sein Bild und einige Gedichte von ihm. Der Aufsatz, von Iven Kruse geschrieben, führte in das Heim des Dichters ein, das unweit Hamburgs im holsteinischen Städtchen Kellinghusen sich befand, machte mit seiner Persönlichkeit bekannt und äußerte sich begeistert über seine neue und eigenartige Poesie, die aus der Heimatscholle aufblühe, wie die Blume des Feldes. Die Gedichtproben schienen mir dem Schreiber recht zu geben, mehr noch fesselte mich eine längere Prosaskizze des Dichters »In der Mergelgrube«, die mir die Natur direkt in meine vier Wände zauberte und zugleich eine so originelle Art zu sehen, zu empfinden, sich auszudrücken offenbarte, daß ich freudig erregt und eines Erlebnisses mir bewußt war.

Dieses Heft der »Gesellschaft« brachte auch eine Anzeige der Gedichtsammlung des Dichters, »Die Adjutantenritte«. Ein paar Tage später hielt ich das schmale Bändchen in Händen, und las und las, während mir die Backen brannten. Immer wieder sprang ich auf und lief durchs Zimmer, ging wieder zum Buch und war in einem Rausch, wie damals in meinem Thüringer Stübchen, als mir Goethes Lyrik zum erstenmal die Seele mit ihrem goldenen Licht durchsonnte.

Wie das sprudelte, wie das stürmte, unbekümmert im Ausdruck, wie es schien, und immer treffend. Und wie plastisch alles hingestellt war! Ich sah, ich konnte mit Händen greifen, der Dichter riß mich hinein in seine Welt; ein Bild, eine Stimmung, und immer war ich bezwungen.

Ich lief zwischen Schreibtisch und Küche hin und her, um meine Frau an meiner Begeisterung teilnehmen zu lassen, und ich war gekränkt, wenn sie sich nicht sogleich von ihren Kochtöpfen hinweg in die Einsamkeit der erikageschmückten Heide wollte versetzen lassen.

»Ich finde es ja auch sehr hübsch,« sagte sie. »Aber begreife doch, daß Kochlöffel und Lyrik sich nicht in jeden Augenblick miteinander verbinden lassen.«

»Aber das muß dich doch packen! Höre nun mal!

Tiefeinsamkeit spannt weit die schönen Flügel,
Weit über stille Felder aus.
Wie ferne Küsten grenzen graue Hügel,
Sie schützen vor dem Menschengraus.

Im Frühling stiegt in mitternächt'ger Stunde
Die Wildgans hoch im raschen Flug.
Das alte Gaukelspiel: in weiter Runde
Hör' ich Gesang im Wolkenzug.

Verschlafen sinkt der Mond in schwarze Gründe,
Beglänzt noch einmal Schilf und Rohr.
Gelangweilt ob so mancher holden Sünde,
Verläßt er Garten, Wald und Moor.«

Sie hatte geduldig zugehört, aber dann schob sie mich rasch aus der Küche.

*

Tiefeinsamkeit, es schlingt um deine Pforte
Die Erika das rote Band.
Von Menschen fern, was braucht er noch der Worte,
Sei mir gegrüßt du stilles Land.

Ich forderte vom Buchhändler, was sonst noch von Gedichten Liliencrons erschienen sei, und er sandte mir einen neuen Band: »Gedichte«.

Du, den ich nicht kenne,
Wenn ich dich wüßte!
Der du am Boden liegst verzweifelnd, verzweifelt,
Dem kleinliche Menschen und Pharisäer
Hochmütig den Rücken drehn,
Weil du den Scheitel nicht trägst wie sie,
Weil du das Schuhband anders bindest wie sie,
Weil du nicht denkst wie sie.
Den sie hungern lassen aus Ärger,
Weil du heißeren Drang hast als sie,
Vom Alltagsgeleise abbiegst
In unbekannten Pfad.
Den sie für einen Narren wähnen.
Weil du den Pfennig nicht umwendest wie sie,
Nicht rechnen kannst wie sie.
Den sie für wahnsinnig halten,
Weil du mit ausgebreiteten Armen
Dem sinkenden Tagesgestirn nachschaust.
Und nachschauend ausrufst:
Auch mir, auch mir die Sonne!

Du, den ich nicht kenne,
Von dem ich weiß, daß du ein Dichter bist!
Daß deine Schmerzen schlimmer,
Deine Freuden größer sind
Als dein Nachbar sie fühlt, sie ahnt.
Wenn ich dich wüßte!

Du, den ich nicht kenne, wenn ich dich wüßte!
Komm an mein Herz, sorge nicht mehr!
Wie ein Ruf an mich war es mir.

Und dann las ich:

Mit Trommeln und Pfeifen bin ich oft marschiert,
Neben Trommeln und Pfeifen hab' ich oft präsentiert,
Vor Trommeln und Pfeifen bin ich oft avanciert
In den Feind, Hurra!

Die Trommeln und Pfeifen wohl hör' ich nicht mehr,
Und Trommeln und Pfeifen, rückten sie her,
Hinter Trommeln und Pfeifen stelzte zu schwer
Mein Holzbein, o weh.

Wenn Trommeln und Pfeifen mir kämen in Sicht,
Gegen Trommeln und Pfeifen mein Ohr hielt ich dicht,
Die Trommeln und Pfeifen ertrüg' ich nicht,
Mir bräche das Herz.

Und Trommeln und Pfeifen, das war mein Klang,
Und Trommeln und Pfeifen, Soldatengesang,
Ihr Trommeln und Pfeifen, mein Leben lang
Hoch Kaiser und Heer!

Ging das nicht bis in die Zehenspitzen, warf die Beine, daß ich hätte auf- und abmarschieren mögen in meinem kleinen Zimmer? Und ich tat es auch, und trommelte die Verse noch einmal laut durch den Raum.

»Höre, höre, wie das wirbelt!« rief ich, als meine Frau hinzukam. Aber sie nahm mir das Buch aus der Hand und meinte: »Das muß ich selber lesen. So kann ich's nicht verstehen, wie du es herunterbellst.« Das ärgerte mich. Ich glaubte es, trotz einem Tambour gut gemacht zu haben. Aber natürlich gab ich ihr Recht, um das Gedicht zu retten. Doch das war nicht nötig, es hatte sich schon selbst in Respekt gesetzt, und sein Rhythmus schien meiner Frau in den Kochlöffel gefahren zu sein, so rumorte sie hernach in ihren Töpfen herum.

Ich freute mich auf den ersten Abend, wo ich Georg mit meinem Dichter bekannt machen würde; was sollte der für Augen machen. Aber wie war ich enttäuscht, als er nicht in meine Begeisterung einstimmte, sich mit lauer Zustimmung zu einigen Gedichten begnügte, zuletzt aber von meinem Dichter nichts wissen wollte.

Er holte einen Band Geibel hervor und las mir mit Pathos eins der vollklingenden Gedichte vor.

»Schön, gewiß!« rief ich. »Aber wirbelt's dich empor? Daß du vom Stuhl springst? Das liest man, bewundert man, aber hier, hier ist doch – Kraft, Natur –«

»Meinetwegen, aber keine Kunst!« unterbrach er mich. »Keine durch Kunst gebändigte Natur!«

»Unsinn!« rief ich.

Er langte nach dem Band Liliencron, aber ich rief: »Laß! Du sollst ihn mir nicht gleich verekeln!«

»Wer will das?« lachte er. »Deine Ekstase wird schon von selbst abnehmen und vielleicht – ich kann ja nur nach dem ersten Eindruck urteilen – ich will mich gern mit ihm beschäftigen –«

»Du wirst sehen! Du wirst sehen!« triumphierte ich.

Ich lieh ihm die »Adjutantenritte«, und wir schieden in Frieden. Dafür zankte mich meine Frau aus, daß ich das Buch weggegeben hatte, denn es war ihr ebenso lieb geworden wie mir.

Eines Abends hatte ich mich mit dem neusten Heft der »Gesellschaft« zu ihr aufs Sofa gesetzt, während sie in den Adjudantenritten las, die ich von Georg zurückerbeten und die sie abends fast immer mit Beschlag belegte, als die letzte Post noch einen Brief brachte.

Aus München?

Und ich lachte. Mit Riesenbuchstaben stand auf dem Kuvert mein Name und darunter »Dichter in Hamburg«.

Meine Frau machte auch Augen.

»Aber so öffne doch,« rief sie ungeduldig, denn ich hielt den Brief eine Weile in der Hand und betrachtete ihn von allen Seiten, wie etwas Wunderbares.

»Von irgendeiner Zeitschrift,« sagte ich, riß das Kuvert herunter und sah meiner Gewohnheit nach zuerst auf die Unterschrift: Detlev Freiherr Liliencron.

»Von ihm!« rief ich.

»Von Ihm? Wer ist Ihm?« fragte meine Frau.

»Nun von ihm,« wiederholte ich und hielt ihr den Brief hin. Da hätte sie mir den Brief beinah aus der Hand gerissen. Ich aber wahrte meine Rechte, ließ sie einen Augenblick zappeln, was mir schwer genug wurde, und stillte dann unserer beider Neugier:

»Soeben las der alte herrliche Hauptmann von Reeder uns (uns – d. h. einem kleinen Kreise von Künstlern, Dichtern, Literaten) Ihren ›Gang durchs Fischerdörfchen‹. Und wie las er! Sie hätten es hören sollen! Poet Sie! Das ist ein wundervolles Gedicht!

›Eine dunkelrote Rose.‹ Das hätten Sie hören sollen. Unglaublich schön!

Ich glaube Ihnen eine Freude zu machen, wenn ich Ihnen das sage. Michael Georg Conrad war auch dabei, der Tapfere.

Detlev Freiherr Liliencron.«

Ich sprang auf, den Brief in der Hand. Ich las ihn wieder und wieder und war wie ein Kind.

Das Gedicht, das Liliencron lobte, war eine Erinnerung an meinen Aufenthalt in jenem kleinen ostholsteinischen Bade, war, in unregelmäßigen gereimten Rhythmen, die realistische Schilderung eines solchen Fischerdorfes:

»Fischergerät, Netze und Schnüre,
Vor jeder Türe;
Hin und wieder ein frommer Spruch
Und überall Fischgeruch.«

Am Ausgang des Dorfes aber:

Über die Friedhofmauer hängt,
Die Wurzel zwischen die Quader gezwängt,
Schwarzgrüner Efeu und höher im Hauch
Des Windes, wiegt sich am Strauch
Ganz leise, leise
Eine dunkelrote Rose.

Am liebsten hätte ich mich gleich hingesetzt und einen stürmischen Dankbrief zurückgeschrieben; aber ich schob es bis zum nächsten Morgen auf und entwarf inzwischen im Geiste die überströmendsten Episteln.

Ach, wie steif, wie förmlich, wie schüchtern und ungeschickt fiel dann nachher der Brief aus: »Hochzuverehrender Herr Baron!«

›Nun, er wird es schon herausgefühlt haben, wie du dich gefreut hast,‹ dachte ich. Und er hatte es herausgefühlt, denn ein paar Tage später kam ein zweiter Brief; kurze lapidare Sätze, viele Klammern, Einschaltungen, Ausrufungszeichen und Unterstreichungen. Wer ich denn sei? Was ich denn triebe? Ob ich verheiratet sei? »Ein Dichter, ein Künstler darf nie heiraten, n–i–e!!« Ich solle die »Gesellschaft« lesen. Michael Georg Conrad, der Ritter Georg, sei der, der uns aus dem Sumpf herausziehen würde. Und zum Schluß einige kräftige Worte gegen die guten »Teutschen«, die Philister und Skatbrüder. »Aber passen Sie auf, Lieber! Es kommt! Es k–o–m–m–t!!!«

Als ich ihm schrieb, daß ich Musiklehrer sei, fragte er mich, ob ich Hugo Wolff kenne, diesen »unglaublich genialer Liederdichter«, er wolle mir vom Verleger einige Hefte seiner Goethe- und Mörikelieder auswirken.

So kamen wir in einen Briefwechsel. Zwanglos schüttete er sein Herz aus, als ob wir uns schon lange kennten. Wie mußte mich das stolz machen. Wer war ich denn, daß er mir so sein Vertrauen, seine Freundschaft bot?

Du, den ich nicht kenne, wenn ich dich wüßte! Komm an mein Herz, sorge nicht mehr!

Ein paar Tage vor Weihnachten, es war ein Sonntag und ich lag noch im Bett, brachte mir die Morgenpost sein neustes Buch: den »Heidegänger«, vom Verlag übersandt, und einen Brief aus München, worin er mir mitteilte, daß er bald nach Neujahr nach Hamburg kommen würde; auch eine umfangreiche Notenrolle, die Lieder Hugo Wolffs, kam gleichzeitig aus Frankfurt vom Musikverlag Schott Söhne.

Das war eine Sonntagspost!

Ei, sprang ich aus dem Bett! Und bald saß ich am Flügel vor den Liedern, die allerdings nicht so im Fluge zu erhaschen waren. Und dann ging's an den Schreibtisch. Und es wurden Verse, freilich unter vielem Fingern und Silbenzählen.

An Detlev von Liliencron.

Heute hatt' ich einen Festtag, einen Frohtag.
In den Federn lag ich noch, ich Siebenschläfer.
Als erschreckend mich, an meinem Klingelzug schon
Stürmisch riß der brave, schnauz'ge Stephansjünger,
Er, so mancher meistens unverhoffter Freuden
Unbewußter, mürrisch kalter Botenträger.
An die Türe stürz' ich eins, zwei, drei auf Socken,
Stürze, stolpre, rutsche. Durch die schmale Spalte
Eine Handvoll »Post« reicht mir herein der Brave:
Briefe, Bücher, eine lange Notenrolle.
Ei, verflog der Schlaf, der halbwegs mich umfing noch.
Dennoch zog ich schnell zurück ins warme Bett mich.
In des Wintermorgens mattem, trübem Frühlicht
Überflog ich schnell die reiche Stephansspende,
Brach das Brieflein: »Viel zu kalt ist's heute,« schrieb mein
Mütterchen, »für unsre Domfahrt, und ich schone
Lieber mich zum Feste.« – Aus der schlanken Rolle
Zog die ersten fünf ich von den dreiundfünfzig
Mörikegesängen Hugo Wolffs, den unlängst
Du begeistert mir gepriesen und in deinem
Neuesten, prächtigen Versebuch: »Der Heidegänger«
Kräftiglich in deiner kernigen Art besungen.
Und da war er selbst in seinem gelben Kleide,
Kam mit einem gelben Zettelchen, auf welchem
Zier geschrieben: »Mit ergebenster Empfehlung
Vom Verleger überreicht.« Schon hatt' am Abend
Fröhlich ich für ihn das Portemonnaie gezogen
Und mit meinem Federmesser alsogleich ihn
Untersucht nach wahren, echten Dichtergaben.
Zwei der edlen »Gänger« stehen nun im Stall mir,
Bücherstall: so nenn' ich meinen kleinen gelben
Schrank. Einst war es Mutters Wäscheschrank. Jetzt stehen
Drin in Reih und Glied geordnet (Schöne Ordnung!)
Groß und kleine und berühmt und unberühmte
Teutsche Dichter, die ja, wie bekannt, nur schreiben
Tapfer fleißig für ihr Volk, auf daß es schmunzelnd
Sie und stolz als höchste nationale Güter
In den Schrank stellt! Aber Freund, sei ohne Sorge,
Eins von deinen Heidegängerbüchern mag drin
Neben Goethe, Schiller, Platen, Lenau, Reuter,
Neben Bibel und Fürst Bismarck Ruhe pflegen,
Von dem Schreibtisch kommt mir nicht das andre eher,
Bis ich Vers für Vers zu eigen mir gemacht hab'.
Kommst du, wie du ja versprochen, gleich nach Neujahr
Auf die Bude mir, so will für alles Schöne,
Das seit letztem Sommer ich dir danke, herzlich
Beide Hände ich dir drücken. Und dann singst du
– Denn mir ahnt: Du singst, verstehst zu singen – jene
Schönen Lieder mir vom neuen Liederkönig
Hugo Wolff. Vor allem das entzückend lust'ge
Lied vom Knaben mit dem Immlein. Ach, ich selber
Singe nur in Tönen wie ein Nebelhorn, das
Mitternächtig ruft bei trübem, dickem Wetter
Angst und Gram im Herzen wach der Passagiere,
Die mit Zagen denken der Gefahr, davon sie
Einzig nur des Schiffes dünne Planken trennen.
Heute noch dazu quält mich ein Riesenschnupfen:
Schnaufend, niesend, kröchelnd, ächzend schreib' ich diese
Seltsame Epistel an dich nieder, während
Draußen, Omeletten gleich dick überzuckert.
Alle Dächer tragen frischen Winterschmuck, dem
Schon seit frühem Morgen schneit es unaufhörlich
Auf die Dächer, Straßen, Plätze und die grünen
Waldentführten Weihnachtsbäume. Wenige Tage
Noch, und auch in meiner kleinen Klause leuchtet
Solch ein lichtgeschmücktes Bäumchen mir zum ersten
Frohen Christfest an dem eignen Herd. Wie köstlich!

Und du Böser wolltest einst mich sorglich warnen,
Keinem Weib zu fest ins schlaue Garn zu gehen,
Denn die leidigen Ehefesseln brächten wenig
Freude einem teutschen Dichter. Nun, am Ende
Bin ich gar kein Dichter, denn fürs erste schmeckt mir
Noch die Ehe wie ein Honigkuchen, drauf mit
Weißen Mandeln eingelegt ein schönes Herz ist.

Doch, gewiß, ich weiß ja, Ehe ach und Ehe!
Aber daß nun meine Frau so übel gar nicht
Und ein dichterfreundlich Herz hat, zeigt allein schon,
Daß trotz jener Warnung sie nicht schmollt mit dir und
Ihren »Ersten« – wenn das Störchlein nicht vergißt drauf –
Detlev nennen will: Hans Detlev. Heute schickt sie
Dir besondern Gruß und Dank durch mich für deinen
Allerliebsten »Puppenhimmel«. Damit, Bester,
Gott befohlen. Und ein frohes, schönes Christfest.
Gleich nach Neujahr hoff' ich dir die Hand zu drücken.

Das war am 20. Dezember 1890. Vier Tage später brannte das erste Christbäumchen an unserem eigenen Herd, und das Jahr, das mir soviel Glück geschenkt hatte, schickte sich an, mit einem letzten schönen Lächeln zu scheiden.


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