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Erstes Buch

I

In Lübeck bin ich geboren, im Schatten von Sankt Marien. Es war in meinem achten Jahre, als sich meiner kindlichen Seele die Vaterstadt in einem unauslöschlichen Bilde einprägte, und immer leuchtender wurden mit der Zeit seine Farben, so daß es über ein bloßes Abbild meiner irdischen Geburtsstätte weit hinauswuchs und zum Symbol einer himmlischen Heimat erblühte, der mein Sehnen und Suchen galt.

Unser Hausdiener, ein kleiner, freundlicher Mann, der sich später als Gärtner selbständig machte, war ein großer Freund der Natur. Ob wir nicht einmal die Sonne aufgehen sehen möchten, fragte er eines Tages mich und meinen um ein Jahr jüngeren Bruder; das sei das Herrlichste, was man sehen könne. Und da die Mutter es erlaubte, weckte er uns am Pfingstsonntag vor Tagesanbruch und führte uns auf den Stadtwall hinauf. Uns fror, und wir zitterten an der Hand des guten Mannes, der uns mit allerlei Geschichten zu unterhalten und zu erwärmen suchte und uns von Zeit zu Zeit zum Laufen und Springen ermunterte, worauf wir denn wie zwei junge Böcklein ein paarmal auf und nieder hüpften. Auch auf den Gesang der Vögel ließ er uns lauschen, die nach und nach ihre Stimmen erhoben und den Tag einsangen. Aber alles das machte uns nicht warm, erst der Anruf: »Jetzt! Jetzt kommt sie!« ließ uns alles vergessen und richtete unsere großen Kinderaugen auf die Himmelstür, aus der die Königin in ihrem goldenen Kleide nun heraustreten sollte.

Noch lagen die Dächer und Türme der Stadt, wie auch die wenigen Masten in ihrem stillen Hafen, in einem kalten Zwielicht. Hier und da stieg schon ein Rauch aus den Schornsteinen, der uns anzeigte, daß wir nicht die einzigen Frühaufsteher waren, und uns zugleich an den Morgenkaffee erinnerte, der uns mit seinem Festkuchen noch bevorstand.

Da öffnete sich der Himmel, die hohe Fürstin war im Anzuge, und ein Saum ihres Gewandes wurde sichtbar. Wir sagten kein Wörtchen zu ihrer Begrüßung, sondern verstummten in großer Ergriffenheit. Franz aber zog uns in diesem Augenblick fester an sich, und mich will heute bedünken, als hätte er sich ebensosehr an unserer Freude als an dem himmlischen Schauspiel geweidet. Und nun trat langsam, in immer größerer Glorie, die Sonne hervor und schüttete ihre flammenden Rosen über die erwachende Stadt aus. Zuerst erglühten die schlanken Türme von St. Jakobi in einem märchenhaften Rot, aber blitzgleich folgten St. Marien und St. Ägidien und die ernsten Türme des Domes; und das schimmernde Licht lief an ihnen hernieder und über die hohen Dächer hin. Die spitzen Giebel der Häuser erglänzten, und wir suchten neben St. Marien unser väterliches Dach und waren erfreut, daß es gleichfalls wie eitel Gold funkelte; aus dem Hafen aber wiesen die Masten wie feurige Finger in den aufgetanen Himmel.

Als hätten die Vögel bisher nur zaghaft ihre kleinen Kehlen gestimmt und wollten sich jetzt mit dem himmlischen Gloria messen, hub ein vermehrtes Trillern und Flöten an; und daß auch die Büsche und Bäume in der allgemeinen Morgenmusik nicht zurückstanden, erwachte ein Säuseln und Rauschen in allen Zweigen und Kronen.

Wie nun alles so recht in heiligem Eifer war, nahm Franz uns sacht an der Hand und führte uns den grünen Wall hinab, durch lauter Morgenglanz und -klang, der harrenden Mutter wieder zu.

Als dann aber nachher von allen Türmen die Pfingstglocken ihre frommen und frohen Stimmen erschallen ließen, so daß die ganze Luft über der nunmehr erwachten Stadt von ihrem Klingen erschüttert war, wie fühlte sich da mein Gemüt, in heiliger Frühe köstlich vorbereitet, auf das innigste ergriffen!

In der Nacht aber baute sich das feurige Morgenbild noch einmal vor mir auf. Mir träumte, ich ginge in den Straßen der himmlischen Stadt spazieren, barfuß, in meinem weißen Hemdchen, alle Leute waren wie ich gekleidet, und wir wandelten fromm und friedlich miteinander in all dem Glanz umher; und von den goldenen Türmen sangen die Glocken.

*

Unser Vaterhaus lag so recht im Mittelpunkt der Stadt; St. Marien sandte ihm stündlich ihre nachbarlichen Grüße, und die schwarzen Giebel und Türmchen des alten, ehrwürdigen Rathauses sahen ihm in die Fenster. Es war ein altes Kaufmannshaus mit festen, breiten Mauern und schien für die Ewigkeit gebaut. Es war ein Eckhaus. Die Mutter betrieb darin mit Hilfe eines Geschäftsführers eine Manufakturwarenhandlung: Seiden-, Leinen- und Wollzeuge.

Der Vater war früh gestorben, ich erinnere mich seiner kaum. Er hatte die Seinigen in einem behäbigen Wohlstande zurückgelassen, denn er war ein tüchtiger Kaufmann gewesen, der sein Detailgeschäft zu einer respektablen Höhe gebracht und in der Handelswelt meiner Vaterstadt eine geachtete Stellung eingenommen hatte. Von seinem guten Herzen und seiner Liebe zu uns Kindern erzählte die Mutter oft genug, so daß wir wohl glauben durften, den besten Vater gehabt zu haben.

Er war in Ratzeburg geboren, wo unser Großvater die Posthalterei innehatte. Da hat er sich mit seinen sieben oder acht Brüdern in den schönen Wäldern um den See herum weidlich getummelt, im Sommer barfuß; denn es mag dem Großpapa Posthalter nicht immer leicht geworden sein, für die reichliche Nachkommenschaft Strümpfe und Stiefel in genügender Anzahl herbeizuschaffen. Es sind aber aus den Barfüßern hernach meist tüchtige, angesehene Leute geworden, von denen einige es zu leidlichem Wohlstand gebracht, wie mein Vater, andere sogar in gelehrten Berufen sich ausgezeichnet haben, so daß ich mich dieser nächsten barfüßigen Vorfahren nicht zu schämen brauche.

Lübeck war in meinen Kinderjahren eine stille Stadt, und die Straßen mit den alten, meist schmalfrontigen Giebelhäusern boten uns Raum genug für unsere Spiele.

Aber lieber noch als die Straße suchten wir unseren Hausboden auf. Unter dem schrägen Dach mit seinen roten Ziegeln, welch eine glückliche Kinderwelt baute sich hier auf! Durch die zwei oder drei kleinen, runden Fenster fiel das Tageslicht mit einem märchenhaften Glanz; von einem silbernen Staubmantel umgeben, stellte es goldene Teller auf den Fußboden, von denen die unsichtbaren Schutzgeister dieses wundersamen Reiches speisten. Waren wir im Spieleifer, so achteten wir des güldenen Gedeckes natürlich nicht, sondern sprangen mutwillig über so edles Geschirr hin und her, als wäre es nichts als ein paar Sonnenflecken; waren wir doch Buben, und stand doch unser Schlachtroß hier, ein lebensgroßes, ausgestopftes, fuchsfarbenes Füllen. Auf diesem Schaukelpferd galoppierten wir um die halbe Welt oder sprengten mit viel Geschrei in den Kampf. Ziemlich arg durften wir es schon treiben, bevor man unten im Hause etwas davon spürte. Manchmal aber erschien doch das Haupt eines Abgesandten in der Lukenöffnung, der je nach Temperament und Auftrag schalt oder bat; dann wurde die Lust ein wenig gedämpft.

Auf der geräumigen Hausdiele durften wir wegen der Nähe des Ladens nicht lärmen. Wir trieben wohl manchmal auf den bunten Fliesen unseren Kreisel oder spielten Marmel oder »Picker«, wie wir es nannten; doch das Gefühl, nur geduldet zu sein, ließ uns hier nicht recht heimisch werden. Von dieser Diele führte eine verdeckte Treppe in den ersten Stock hinauf; zeisiggelb gestrichen, machte ihre sonst schmucklose, glatte Verschalung, in der sich ein viereckiges Ausguckfenster befand, einen lustigen Eindruck.

Hier saßen wir nach Feierabend oft im Halbdunkel auf der obersten Stufe und ließen uns von Franz Geschichten erzählen. Das verstand er vortrefflich. Seine Vorliebe galt den alten Sagen und Geschichten unserer Vaterstadt, die er alle auswendig wußte. So hörten wir denn früh aus seinem Munde von »Papedöhne«, einem anderen Ritter Blaubart, und seiner Mordhöhle, von »Habundus und der weißen Sterberose«, von »Herrn Nikolaus Bardewiek, dem Trunkfesten« und derlei mehr.

Die Mutter störte eine solche Sagenwelt nicht, sondern mahnte wohl nur einmal: »Quält den Franz nicht zu arg.« Wir aber waren uns nicht bewußt, ihn zu quälen, saßen vielmehr regungslos und sahen mit klopfendem Herzen den bösen »Papedöhne« die Frauen in sein Versteck schleppen und waren voller Grauen und Empörung.

Franz genoß das vollste Vertrauen unserer Mutter. Er, war ein bewegliches Männchen mit einem großen Kopf und einem gutmütigen, bartlosen Gesicht, das älter aussah, als es eigentlich war, ein greisenhaftes Kindergesicht. Seine Stimme war hoch und hell, und er hatte in allem etwas Weibisches. Er liebte die Vögel und die Blumen und machte sich durch aufmerksame Pflege unseres Kanarienvogels und der Blumenfenster sehr verdient; ihm wurde darin völlig freie Hand gelassen, und wir sahen denn auch immer einen Flor blühender Töpfe hinter unseren Scheiben.

Er hatte noch eine Mutter, eine hochbetagte Frau, die wir von Zeit zu Zeit mit ihm besuchen durften. Sie wohnte in der Nähe des Domes, »An der Mauer«, der alten Stadtmauer, die teilweise noch erhalten war. Hier lebte sie in einem jener kleinen Stifte, deren es in meiner Vaterstadt viele gab und deren Wohltat alten, hilfsbedürftigen Männern und Frauen zugute kam; meistens den Frauen, wie denn das schwache Geschlecht sich überall einer größeren Rücksichtnahme erfreut. Dieses Stift bestand aus sechs kleinen, einstöckigen Wohnungen, die sich, je drei und drei unter einem Dach, gegenüber lagen, da denn die einen in meiner Erinnerung beständig in heller Sonne leuchten, während die anderen in einem kühlen Schatten gebettet bleiben. Sie bildeten zusammen einen kleinen, hübschen Hof, zu dem man von der Straße aus durch einen schlanken, anmutigen Torbogen gelangte, den der Steinmetz mit Fruchtgirlanden und Rokokoschnörkeln auf das reichste geschmückt hatte. Hinten schloß ihn ein Gärtchen ab, das sich an eine weinumsponnene Mauer anlehnte; aber die wenigen Trauben waren sauer und schienen nie zu reifen, und nur das bunte Laub erfüllte als leuchtender Schmuck einen schönen Zweck.

Schon die enge Straße, die sich mit ihren alten und schmalen Giebelhäusern hinter der Mauer hinzog, war eine andere Welt für uns. Vollends war es uns wie am Anfang eines Märchens zumute, wenn wir in den Schatten des Torbogens eintraten und dann nach einigen Schritten auf dem stillen Hof standen und von beiden Seiten die kleinen Fenster der Pfefferkuchenhäuschen wie ebensoviel Augen auf uns gerichtet sahen. Meist herrschte ein wunderliches Schweigen hier, so daß wir über unsere eigenen Schritte auf dem holperigen Steinpflaster schier erschraken; kamen wir aber einmal in einer Spätstunde, so saßen die guten Stiftlerinnen auf den weißen Bänken vor ihren Türen beisammen, jede mit einem Strickzeug in den alten Händen, und wir hatten rechts und links Grüße auszuteilen. Wir kannten sie alle bei Namen, wie sie uns, und wir galten etwas Rechtes bei ihnen; waren wir doch die einzigen Kinder aus besserer Familie, die hier einmal einsahen. Sie fühlten sich alle ein wenig geschmeichelt und beneideten Frau Heydenreich, Franzens Mutter. Diese war eine große, schwerfällige Frau mit einer tiefen, klagenden Stimme. Sie war auch wirklich leidend, denn das Reißen plagte sie, doch ließ sie sich nicht gehen, blieb tätig und beschränkte sich darauf, von Zeit zu Zeit zu jammern, wie wenig sie noch auf Gottes Welt zu brauchen wäre.

Hatte sie uns umständlich ins Haus und in ihre Stube hineingeschoben, tätschelte sie zuerst meinen Bruder. Er war ihr Liebling, weil er ihrem Franz so ähnlich sähe; gerade so hätte der als kleiner Junge auch in die Welt geguckt. Nun war aber mein Bruder ein hübscher, derber Knabe, und es war keineswegs glaubhaft, daß der Franz auch einmal so gewesen war. Sie hatten zwar alle beide eine tüchtige Nase, alles andere aber stimmte doch herzlich schlecht. Doch mag etwas dagewesen sein, was Mutter Heydenreich an ihren Franz erinnerte und ihre merkliche Bevorzugung meines Bruders begründete. Während sie nun meist mit ihm beschäftigt war, konnte ich mich um so ungestörter mit einem prächtigen Spielzeug vergnügen, das ich in dem kleinen Zimmer entdeckt hatte.

Es war ein Rokokoherrchen in rotem Seidenfrack, mit Dreispitz, Galanteriedegen und Zopf, das unter einer Glaskugel auf der Kommode stand. Es hatte unter sich vier oder fünf Zinnzünglein, vermittels deren man seine Glieder in Bewegung setzen konnte. Da verneigte es sich dann höflich, nahm den Hut ab, hob den Stock auf, drehte den Kopf nach rechts und links, kurz, zeigte sich als ein gehorsames Gliedermännchen. Hatte die gute Frau die Glaskuppel vorsichtig abgehoben und an einen sicheren Platz gestellt, konnte ich eine halbe Stunde lang vor ihm auf den Knien liegen und mir die zierlichsten Verbeugungen machen lassen. Ich erinnere mich, daß ich einmal ganz laut ein kindliches Zwiegespräch mit ihm hielt.

»Guten Tag, mein Herr.«

»Guten Tag.«

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin der Prinz Tausendschön.«

»Und wie geht es Ihrer lieben Frau?«

»Danke, es geht ihr recht gut.«

Dann schreckte ein lautes Gelächter mich auf; ich sah die belustigten Gesichter der anderen, wurde rot, sprang von meinem Stuhl herunter und war durch nichts zu bewegen, wieder hinaufzuklettern. Wie dieses feine Spielzeug in den Besitz der einfachen Frau gekommen, weiß ich nicht; mir war es ein köstliches Kunstwerk, und mein größter Wunsch war, es zu besitzen. Wie freudig war ich daher erstaunt, als der gute Franz mich zu meinem Geburtstage mit dem geliebten Gliedermännchen überraschte. Die Mutter meinte freilich, ich dürfe solch ein Geschenk nicht annehmen, und erst die gewaltsamen Tränen, in die ich ausbrach, und die verlegene Scham des zurückgewiesenen Gebers erzwangen ihre Zustimmung. Seitdem grüßte denn das seine Herrchen mit eleganten Verbeugungen von unserem Sekretär herab und verharrte gleichsam wie fragend in dieser Stellung, bis ich ihm und mir den Willen tat und meiner Mutter die Erlaubnis abschmeichelte, ihn seine gute Erziehung in dem höflichsten Betragen zeigen lassen zu dürfen.

Einmal aber konnte ich doch nicht widerstehen, den Mechanismus, der so Wunderbares ermöglichte, näher zu untersuchen. Ich zog und wackelte ein wenig heftiger an dem Zünglein, beklopfte den tastenartigen Untersatz und zog und wackelte wieder. Knacks sagte es, und der rechte Arm mit dem Dreispitz fiel schlaff herab; das Männchen konnte sich nur noch verbeugen und den Kopf bewegen.

Erschreckt schlich ich aus dem Zimmer. Eine Zeitlang blieb der Schaden unentdeckt. Dann aber mußte ich gestehen, was ich mit möglichst unschuldiger Miene tat. Da das Männchen mein war, hatte ich mir inzwischen auch ein Recht zugesprochen, ihm Arme und Beine zu brechen, wenn es mir belieben würde. Ich erhielt auch weiter keine Strafe, aber meine Freude an dem Spielzeug war dahin. Es behauptete sich in seinem invaliden Zustande noch eine Weile auf seinem Platze; als ihm dann aber auch unter den Fingern meines Bruders der Kopf einmal nach links stehen blieb und in keiner Weise mehr zu bewegen war, sich zu rühren, kam es zuletzt auf den Boden, wo es verstaubte und ich weiß nicht welchem unglücklichen Ende entgegenging.

Wie dieses Männchen, so kam mir auch ein kleines Mädchen, dessen Bekanntschaft ich in demselben Altweiberspittel machte, als etwas Besonderes und Feines vor, obgleich es nur ein Arbeiterkind war, und ich hätte es gleichfalls gern als ein liebes Spielzeug mit nach Hause genommen. Es landete eines Tages mit uns zusammen auf dem Stiftshof, wo es eine Großmutter wohnen hatte. Da es zu einer Zeit war, wo die alten Frauen sich alle vor den Türen in der Abendsonne gütlich taten, und daher alle auf einer Seite des Hofes beisammen saßen, je zwei und zwei auf einer Bank, und des Kindes Großmutter bei Frau Heydenreich Platz genommen hatte, so konnte es nicht ausbleiben, daß wir Bekanntschaft schlossen. »Sag' schön guten Tag, Lisbeth,« mahnte die Großmutter, und die Kleine, etwa ein Jahr jünger als ich und mit meinem Bruder in einem Alter, streckte uns ihre Hand entgegen, in die wir nur zögernd einschlugen; nicht aus Hochmut, sondern aus natürlicher, bubenhafter Befangenheit.

Mir erschien sie wie ein kleiner Engel, und ich traumwandelte sogar einmal mit ihr in den Straßen meiner goldenen Stadt, Hand in Hand, und mit einem scheuen, kindlichen Glücksgefühl. Ich ging in der Folge immer mit der Hoffnung nach dem Agnesstift, meine kleine Freundin dort anzutreffen; doch sollte mir das nur noch zweimal glücken, ohne daß wir uns dadurch besonders näher kamen. Sie hielt sich von den feineren Knaben scheu zurück, und auch in meiner Natur lag viel Blödigkeit; meinem Bruder aber war sie völlig gleichgültig. So kam es zu keiner weiteren Anfreundung. Aber der erste Heiligenschein, den ein zärtliches Knabengemüt zu verschenken hatte, schwebt über dem blonden Lockenkopf dieses kleinen Mädchens, von dem ich später nie wieder etwas erfuhr, und das in der großen Welt der harten Arbeit irgendwo untergetaucht sein wird.

Aber für immer halte ich ihr liebes Bild an meiner Knabenhand, ihr weißes Hemdchen leuchtet gleich dem meinen, und unsere bloßen Füße gehen durch goldene Straßen, von dem feierlichen Klange großer Glocken umsummt.

*

Ich war ein Kind, das sich früh mit den Büchern beschäftigte; ich kroch damit unter das alte Tafelklavier und konnte da lange mäuschenstill sitzen, das aufgeschlagene Buch mit den bunten Bildern auf dem Schoß. Früh regte sich die Phantasie des Kindes, das sich gerne Ecken und Winkel, auch die kleinsten, bevölkerte und zu einer eigenen Welt umgestaltete. Die Falten auf der Bettdecke wurden mir zu Berg und Tal, die ich mit Gemsen und Jägern belebte, oder ich tiefte mir in dem weichen Federbett eine große Seemulde aus und segelte mit meinem Schiff von einem Strand zum anderen, wobei ich mit den Knien auf höchst einfache Weise eine stürmische Wellenbewegung hervorrief. Um die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett, wie in den dunklen Höhlen meiner kleinen Hausschuhe führte ich meine erdichtete Welt spazieren, und die wonnigen Schauer des Geheimnisvollen und des Rätselhaften, die noch heute jede Wegbiegung mir macht, suchte ich mir schon damals zu verschaffen, indem ich das Auge um irgendeinen beliebigen Gegenstand, einem Kästchen, einem Lampenfuß oder was es war, sich herumtasten ließ, bis es an eine Ecke, eine Biegung kam, hinter der nun ein Reich mit tausend Wundern begann.

Meine Vorliebe für den Schlupfwinkel unter dem Klavier wurde scherzhaft als erste Ankündigung einer musikalischen Begabung gedeutet, die sich denn auch in der Folge bei mir und ebenso bei meinen Geschwistern zeigte; vorläufig aber äußerte sie sich nur in dem atemlosen Lauschen, womit wir dem Klavierspiel und dem Gesang unserer Mutter folgten. Diese war durchaus eine musikalische Seele und hatte es zu einer hübschen Fertigkeit gebracht, die sie unter anderem Chopinsche Walzer mit ebensoviel Anmut als Feuer vortragen ließ. Doch neigte ihre Natur mehr zu der schlichten Innigkeit des Volksliedes, und mit nichts machte sie uns mehr Freude, als wenn sie uns durch ihren schönen weichen Sopran allerlei Kinderlieder vorsang, die wir bald nachsingen lernten. Da saßen wir denn um sie herum mit heller Kehle, die Hälse wie zwitschernde Vögel aufreißend, und hielten tapfer Takt und Melodie. »Hänschen sitt in Schosteen und flicket sine Schoh«, »Ein Schäfermädchen weidete«, oder »Wer will unter die Soldaten«, das waren so unsere Lieblinge. Ab und zu sang die Mutter uns auch wohl ein Mendelsohnsches oder Schubertsches Lied. Sie wurde oft in Gesellschaft aufgefordert, etwas zu singen, und die Lieblichkeit ihrer Stimme und die Innigkeit und Schönheit ihres Vortrages entzückten immer.

Erschrecklich wirkte dagegen auf uns das Konzert eines Klaviervirtuosen, der, ich weiß nicht woher, in unser Haus geschneit war. Mit gewaltigem Getöse hielt er Einzug in unsere Kinderseelen.

Eine kohlschwarze Mähne hing ihm wild um Kopf und Schulter und umrahmte ein blasses, zigeunerhaftes Gesicht, aus dem zwei schwarze, stechende Augen uns anfunkelten. Er spielte das Erwachen des Löwen von Kontski, jenes jahrelang beliebte triviale Salon- und Virtuosenstück, schüttelte seine Mähne, und brüllte und donnerte, daß ich noch heute nicht begreife, wie unser altes Klavier das aushielt. Die Wirkung auf uns verdutzte Kinder war denn auch, daß wir immer verängstigter wurden und zuletzt weinend aus dem Zimmer liefen. Das hielt jedoch den brüllenden Löwen nicht ab, sich noch weiter mit majestätischem Lärm zu produzieren.

An solchen Gesellschaftsabenden durften wir Kinder immer auf ein Viertelstündchen ins Zimmer kommen, jedem die Hand geben und uns hätscheln lassen. Ich wurde besonders von einer zarten, blassen Dame, einer Freundin der Mutter, gerne gesehen, die wir Tante Pollinka nannten. Sie hatte am Markt eine Konditorei inne und hatte es sich, da sie kinderlos war, in den Kopf gesetzt, ich sollte einmal ihr Nachfolger werden. So gerne ich nun Süßigkeiten aß, so war mir doch die Vorstellung, mich in der weißen Konditortracht, mit der großen Schürze, mein Leben lang bewegen zu sollen, eine lächerliche, für einen Jungen beschämende, und ich erinnere nicht, jemals Neigung dazu auch nur vorübergehend gespürt zu haben. Dennoch erhielt sich der Wunsch der guten Tante Pollinka hartnäckig, bis sie endlich wohl einsah, daß an mir ein Zuckerbäcker verloren war. Aber noch in späteren Jahren bin ich nie an dem schmalen Eckhause vorübergegangen ohne das Gefühl: ›Das hätte eigentlich alles dir gehören sollen, und du könntest nun dahinten in dem kleinen Raum stehen und Mandeln schälen, Zimmet stoßen, Teig rühren und mit buntfarbigem Fruchtgelee die Torten zierlich dekorieren.‹

*

Viele Gesellschaften gab die Mutter nicht, dafür widmete sie sich, soviel der Hausstand ihr nur Zeit ließ, uns Kindern, und ging namentlich gern mit uns vors Tor hinaus, wo sie uns bald in diesem, bald in jenem Kaffeegarten mit Milch und Kuchen traktierte. Wir durften dann nach Herzenslust umhertollen, während sie, mit einer Handarbeit beschäftigt, ab und zu einen wachsamen Blick nach uns aussandte.

Von diesen Kaffeegärten wurde einer von uns bevorzugt, weil er den besten Tummelplatz für unsere Spiele bot. Er hieß »Die Lachswehr« und lag oberhalb der Stadt am Ufer der Trave. Graf Johann V. von Holstein, der Milde und Freigebige, hatte einem Lübecker Bürger, »der es nicht sonderlich um ihn verdient hatte«, wie es in der Chronik heißt, einen Fischstand geschenkt, darin unzählig viele Lachse gefangen wurden. Es sind aber dazumal die Lachse in Lübeck so häufig gewesen, daß die Dienstboten sich ausbedungen, ehe sie ihren Dienst angetreten, allerhöchstens zweimal in der Woche mit Lachs gespeist zu werden. Dieser Reichtum hatte nun lange aufgehört, und wenn wir einmal unsere Knabenangel in den Fluß warfen, biß höchstens einmal ein Rotauge oder ein Barsch an. Doch das Angeln war nicht unsere Leidenschaft; das Wasser aber zog uns an, und aus dem verbotenen Boot, das, am Steg angekettet, wohlgeschützt im hohen Schilf lag, mußten wir oft genug verjagt werden. Die Angst unserer guten Mutter war nicht unbegründet, denn namentlich mein Bruder war weniger tollkühn als unvorsichtig, und mußte denn auch einmal seine Unbedachtsamkeit mit einem kalten Bade büßen. Wie erschrak ich, als ich ihn in der kreisenden, im Schatten des überhängenden, dunklen Sommerlaubes fast schwarzen Flut verschwinden sah. Er tauchte jedoch alsbald wieder auf, prustete und paddelte sich wie ein ins Wasser gefallener Pudel soweit wieder an das Boot heran, daß ich ihm meine Hand entgegenstrecken konnte. Da saß er nun triefend auf der Ruderbank und wollte aus Furcht vor Strafe nicht ans Land. Es blieb aber nachher bei einer Strafpredigt der zu Tode erschrockenen Mutter; der Triefende wurde notdürftig umgekleidet, in eine Droschke gepackt und heimgeschickt. Franz aber nahm am anderen Tag Veranlassung, uns zur Warnung von der Travennixe zu erzählen.

»1630 ging Herr Gert Reuter, welcher mit Ziegelbrennen und Steinen sein Verkehren gehabt hat, zu Abend mit Torschluß nach Moisling, um die Nacht daselbst zu bleiben; wie er nun unterwegs auf dem Damm oder Hohenstegen ist, sieht er aus dem Wasser eine nackte Gestalt sich etliche Male erheben, welche sich allenthalben umgeschaut und gerufen: ›Wehe, wehe, die Stunde ist da, aber der Mensch ist nicht kommen!‹ Gert Reuter weiß zwar nicht, was es bedeutet, geht aber ruhig seines Weges fort: da kommt vom Berge herab ein Knabe in vollem Laufen gerannt und will nach dem Wasser zu. Diesen kriegt Gert Reuter zu fassen, hält ihn fest und fragt ihn: ›Wo willst du hin, mein Sohn?‹ Der Knabe spricht: ›O, laß mich gehen, ich will baden; ich muß baden.‹ Da sagt Gert Reuter: ›Du sollst um Gottes willen nicht!‹ Der Knabe wird nun traurig, läßt sich aber still nach Moisling führen, und hat ihm Herr Gert vermutlich damals sein Leben gerettet. Desgleichen Geschrei hat man öfter gehört, wie glaubwürdige Leute versichern, und ist jedesmal an dem Tage ein Knabe ertrunken.«

So erzählte Franz, wenn auch nicht mit diesen Worten der Chronik, und ich war sogleich bereit, ein solches Geschrei gehört haben zu wollen.

»Es ist doch wahr!« verteidigte ich mich gegen meinen Bruder, der es bestritt.

»Du lügst!« fuhr er mich grob an. »Was hat sie denn gerufen?« »Wehe! Wehe!«

Weder Franz noch mein Bruder schenkten mir Glauben, wie ich recht gut merkte, obwohl sie schwiegen. Ich aber spann mich in mein Märchen weiter ein.

Nun hatte ich, während wir im Boot saßen, meine Mutter einmal laut nach meiner Schwester rufen hören: »Gretchen! Gretchen!« Jetzt redete ich mir ein, mich verhört zu haben, es hätte nicht anders als »Wehe! Wehe!« geklungen und wäre nicht aus dem Garten, sondern vom Wasser hergekommen.

»Gibt es Wassernixen?« fragte ich die Mutter. Sie verneinte es lächelnd. Aber wenn ich von der dunklen Allee aus, die sich am Ende des Kaffeegartens am Wasser hinzog, einen Blick auf den stillen Fluß warf, in dem sich die breiten, dichten Kronen der Bäume tiefschwarz spiegelten, und der an seinem anderen Ufer umschilfte Wiesen bespülte, die in geheimnisvollem Schweigen dalagen, so glaubte ich doch manchmal einen suchenden Blick nach der Wassernixe senden zu sollen, und schrak wohl einmal zusammen, wenn ein plötzlicher Windstoß den grünen Binsenwald heftiger schüttelte und einen Schauer kleiner Wellen über die Wasserfläche trieb.


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