Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Wie schal und nichtig mußte mir das Leben erscheinen, das ich in der philiströsen Enge der Kleinstadt geführt hatte, wenn ich es mit der reichen, lebendigen Gegenwart verglich. Nur Marthas konnte ich rein und ohne Beschämung gedenken. Um des einen Gerechten willen wollte Gott Sodom verschonen.

Ihre Briefe, die freilich in immer längeren Pausen eintrafen, verbanden mich noch mit dem kleinen Städtchen da unten zwischen Hügeln und Tannen. Aber ach, es war Krankenstubenluft in diesen Briefen; sie klagte nicht, eine wehmütige Resignation klang jedoch aus jeder Zeile, und was ich damals schon wußte, wurde mir doch jetzt in der Ferne erschreckend deutlich: daß sie mich geliebt hatte und noch liebte mit der ganzen Kraft ihres einsamen Herzens.

Meine Mutter las ihre Briefe mit einem gleich frommgestimmten Gemüt. Das Schicksal der armen Gelähmten mahnte sie an ihr totes Kind und vermehrte ihre Teilnahme. Martha versäumte in keinem Briefe, die Mutter grüßen zu lassen, Gegengrüße antworteten ebenso regelmäßig, und zuletzt hatte meine Mutter sich hingesetzt und ihr einen herzlichen Brief geschrieben, worin sie nach ihrer bescheidenen Art noch einen Dank mochte einfließen lassen haben für alles, was Martha mir damals gewesen war; denn es kam alsbald ein Schreiben Marthas, worin sie jeden Dank zurückwies und im Gegenteil sich als die Dankschuldige hinstellte.

»Sie schreiben mir Verdienste zu, liebe, verehrte Frau, die ich gewiß nicht habe. Was hätte ich arme, kranke Person Ihrem Sohn sein können? Mich dagegen hat er unendlich durch seine Güte beglückt und aufgerichtet. Ach, seitdem er fortging, habe ich keine Musik wieder gehört und muß nun von der Erinnerung zehren. Mein armer Bruder rührt seine Geige nicht mehr an. Ihr Sohn fehlt auch ihm. Da läuft denn unser Leben sehr still und einförmig hin, und alles, was uns von draußen Freundliches ins Haus kommt, macht uns einen Festtag. Dazu gehört, ja, es ist fast das einzige, ein Brief aus Hamburg. Gott hat mich zur Genügsamkeit erzogen, aber der Wunsch, solche lieben Briefe wie den Ihren öfter zu empfangen, erfüllt mein Herz. Grüßen Sie Ihren Sohn von einer alten Freundin, die noch von jedem Ton zehrt, den er ihrer einsamen Seele geschenkt hat, und seien Sie, liebe, verehrte, gnädige Frau, tausendmal bedankt von Ihrer Martha Prätorius.«

Acht Tage nach diesem Brief kam von des Bruders Hand die Anzeige von ihrem Tode; ein Herzschlag habe ihrem Dulderleben ein schnelles und sanftes Ende bereitet.

Wir waren tief erschüttert. Prätorius erzählte von den letzten Tagen der Schwester, wie sie schwächer und schwächer geworden und zuletzt wie ein ausgebranntes Licht jäh verloschen sei. Er glaube im Sinne der Verstorbenen zu handeln, wenn er mir das kleine Neue Testament übergäbe, das immer in ihrer Hand gewesen wäre und dessen ich mich wohl noch entsinnen würde.

Das liebe Andenken kam, ich hielt es gerührt in der Hand, und die kleine, freundliche Kammer stand wieder vor meinen Augen. Ich sah die blaße, feine Dulderin auf ihrem weißen Bette vor mir; ich hörte ihre sanfte Stimme und hörte die bewegten Worte des Bruders: ›Sie hat Sie sehr geliebt, vergessen Sie sie nicht.‹

Ich schlug das heilige Büchlein auf, und es fielen mir getrocknete Blumen entgegen. Ein Gefühl sagte mir, sie seien aus dem Geburtstagsstrauß, und ich legte sie wundersam bewegt wieder an ihre Stelle.

*

Georgs Besitz mußte mich über den Verlust des lieben Mädchens trösten. Hatte ich viel verloren, so hatte ich dagegen auch viel gewonnen. Ich hatte die Freude, daß der Freund auch meiner Mutter sympathisch war, ja, sie sprach sogar einmal den Gedanken aus, er wäre ein Mann für die Schwester. Doch wollte sich zwischen diesen beiden ein herzliches Verhältnis nicht herstellen, wie denn Georg jeder Heirat abgeneigt zu sein schien.

Es hatte sich aber für meine Schwester ein anderer Freier gefunden. Er war ein Freund meines Bruders, seines Zeichens Seemann und ein ansehnlicher, frischer Mensch mit dem Kapitänspatent in der Tasche.

Die Schwester war über die erste Jugend hinaus, in einer abhängigen Stellung, hübsch und liebenswürdig, aber zu bescheiden, um sich auffällig zu machen. Von dem tadellosen Charakter und der besten Gesinnung des Freiers hatte sie sichere Beweise schon früher erhalten und seine vertrauenswürdige Art auch aus dem Munde des Bruders nur loben hören. Er hatte in seinem schönen und männlichen Berufe die höchste Staffel bereits in jungen Jahren erstiegen und bot ihr eine geachtete Stellung und ein gutes Auskommen.

So hatten wir denn gegen Ende des Sommers eine Braut im Hause, und Mutter und Tochter saßen fleißig über der Aussteuer, die freilich nur eine bescheidene sein konnte.

Im Herbst war die Hochzeit, und das junge Paar verzog nach Rotterdam, wo der Schwager in Kruppsche Dienste trat. So war ich denn der einzige, der der Mutter blieb, und sie sprach die Befürchtung aus, daß auch ich sie bald verlassen könnte. Ich tröstete sie, aber sie meinte: »Ach, einmal wirst du doch auch heiraten.«

Nun warf denn freilich meine Schwester bald mit glückatmenden Briefen ein gutes Gewicht für die Ehe in die Wagschale, bis endlich auch ein jubelnder Brief des Schwagers die Geburt eines Sohnes meldete. Als aber das Frühjahr wiederum nahte, kamen statt der glücklichen Briefe der Schwester sorgenvolle Nachrichten ihres Mannes. Die junge Mutter hatte sich eine heftige Erkältung zugezogen, lag krank und wollte sich nicht erholen. Kummervolle Briefe gingen hin und her und zuletzt kam ein Telegramm an mich: »Sofort kommen, es geht zu Ende.«

Eine Stunde später saß ich im Schnellzug, die Mutter mit ihrem Schmerz allein zurücklassend.

In einem dunklen, fensterlosen Zimmer fand ich die Sterbende, sie lag in ihrem tiefen Wandbett; die lieben Augen waren geschlossen, die abgemagerten Hände ruhten regungslos auf der Bettdecke, nur ihre Brust hob und senkte sich krampfhaft.

Erschüttert, mit gefalteten Händen stand ich am Bettrand, da rang sich von den blassen Lippen ein Ruf so qualvoller Sehnsucht, daß ich ihn nie vergessen kann: »So komm doch! So komm doch!«

Galt er der Mutter? Galt er mir? Galt er dem Tode selbst?

Ich hatte die Hände vors Gesicht geschlagen; als ich sie wieder fallen ließ, war alles vorbei. In fremder Erde betteten wir sie unter Rosen. Ein kurzes, lachendes Glück war für immer erloschen. Am anderen Tage mußte der Schwager in See gehen, und von einem zerstörten Herd kehrte ich zur Mutter zurück. Es war ein heiterer Frühlingstag, als der Zug durch die endlose Fläche der Lüneburger Heide eilte. Doch nie war sie mir so trostlos, so erdrückend in ihrer Einsamkeit vorgekommen. Die weißen Birkenstämme leuchteten in der Sonne, die Gräben und Bäche blitzten zwischen dem dunklen Moorgrund auf, Vögel stiegen aus dem Kraut in die flimmernde Luft, eine friedliche Schafherde mit hüpfenden Lämmern graste am Bahndamm entlang: ein lichtes Frühlingsbild unter blauem Himmel. Aber fern vom fließenden Horizonte her kam jemand durch das helle Bild geschritten, wachsend, einen dunklen Schatten werfend: der Tod.

Wie eilig er es hatte. Er hielt Schritt mit dem hastenden Zuge. Ich sah in ein leeres, beinernes Gesicht. Konnten diese fleischlosen Kiefern lachen, diese leeren Augenhöhlen spöttisch blicken?

Gewaltsam riß ich mich los.

Und dann quälte mich das gleichmäßige, stoßende Geräusch der rollenden Wagen: ›So komm doch, so komm doch, so komm doch, so komm doch!‹ Und immer wieder: ›So komm doch, so komm doch, so komm doch, so komm doch!‹

*

In den Sommerferien ging ich mit der armen, stillen Mutter in ein kleines billiges Seebad an der Ostküste Holsteins. Es war ein noch wenig bekanntes Fischerdorf, mit einem breiten, langgedehnten Strand schönen, weißen Sandes, wie geschaffen, bescheidene Badegäste, die in ländlicher Stille und Abgeschiedenheit nur der Gesundheit leben wollen, anzuziehen und festzuhalten.

Wir hatten das Glück, ganz am Ende des Dorfes ein Häuschen zu finden, das mitten in einem großen Blumengarten lag. Der Besitzer war seines Zeichens Gärtner, ein Beruf, für den es kaum ein ungeeigneteres Feld gab als dieses entlegene Dorf. Die Leute wußten denn auch nicht recht, wie er sich mit seiner kleinen, verwachsenen Frau durchbrachte, da er sich weder mit der Fischerei beschäftigte, noch den drei Bauern des Dorfes bei ihrer Arbeit half. Er baute einiges Gemüse, pflegte seine Blumenbeete und kultivierte eine kleine Baumschule, für deren Zöglinge er immerhin einigen Absatz hatte. Doch mochte das Ehepaar etwas Vermögen haben oder die Kunst verstehen, sich bei geringem Einkommen mit ziemlichem Anstand nach außen hin zu behaupten. Er sah mit einem vollen weißen Bart sehr würdig aus, hatte ein kluges, nicht unschönes Gesicht und sprach ein gutes Hochdeutsch; sie, ein unansehnliches, kleines Geschöpf mit eingefallener Brust und spitzem Rücken, schien ihm an Bildung jedoch noch überlegen. Trotz ihres Gebrestes arbeitete sie mit pfeifendem Atem den ganzen Tag in Haus und Garten und hielt alles in sauberster Ordnung. Obwohl sie uns in leidlicher Harmonie zu leben schienen, hörten wir doch bald, daß sie keine besonders glückliche Ehe miteinander führen sollten. Aber wir waren nicht gekommen, um uns um die Familienangelegenheiten fremder Leute zu bekümmern, sondern wir wollten möglichst ungestört nur uns selbst leben.

Der herrliche Strand, auf neugezimmerter Treppe über einen mäßig hohen Deich bequem in ein paar Minuten zu erreichen, bot den schönsten Aufenthalt für den ganzen Tag. Ich genoß zum erstenmal dieses köstliche Ruhen im weichen Sande, während der Blick träumend über die endlose Fläche des Meeres schweift und das Ohr nicht müde wird, dem beständigen Rauschen der Wellen zu lauschen, die an den Strand eilen, ihm ihre weißen Schaumkronen als ein schimmerndes Gürtelgeschmeide zum Geschenk zu bringen.

Auch etwas Wald war in der Nähe, den wir gern aufsuchten, wobei die Mutter denn wohl vorzog, am trockenen und sonnigen Rande zu verweilen, während ich allein in das feuchte und kühle Dunkel vordrang und der Harrenden ein Sträußchen Waldhimbeeren mit zurückbrachte.

So lebten wir schöne, stille Tage. Das Trauerkleid der Mutter hielt die Neugierigen unter den wenigen Badegästen in wohltuender Ferne, und wir erfreuten uns meistens eines ungestörten Alleinseins.

Hier Hab' ich Wald, hier hab' ich See,
Hier schreit die Möwe, äugt das Reh,
Und um mich schlägt zu jeder Zeit
Den weichen Arm die Einsamkeit.

Wenn sie ihr sanftes Lied mir singt,
Der Gram die schwarzen Flügel schwingt,
Den Möwen nach den Flug er lenkt
Und sich ins tiefe Meer versenkt.

So reimte ich, an der Seite der Mutter am Strande liegend; ich hätte ihr die Verse gern gezeigt und schämte mich dann doch, es zu tun.

Eines Tages kam ich von einem Morgenspaziergang zurück, den ich manchmal allein zu unternehmen pflegte. Das rote Gärtnerhäuschen erschien mir nie so idyllisch und reizvoll als an diesem Morgen, da ich durch das kleine grüne Gitter in das farbige Reich der Blumen eintrat; sie funkelten im Tau und die Bienen des Nachbars waren mit leisem Summen um ihre frühen Kelche beschäftigt. Aus dem Schornstein stieg der erste Herdrauch, und die Schwalben zwitscherten um den First. Dankbar empfand ich wieder das Glück, daß wir ein so freundliches Unterkommen gefunden hatten, sah schon wie gewöhnlich die Blumen neben unserem Kaffee auf dem Tisch stehen und hörte im voraus das mütterliche Loblied auf unsere kleine, gefällige Wirtin.

Wie erschrak ich, als die Mutter mir blaß entgegenkam und auf das bestimmteste versicherte, sie bliebe keinen Tag länger in diesem Hause. Ihre Stimme zitterte, und in ihren Augen sprach sich soviel Abscheu, ja Angst aus, daß ich annehmen mußte, etwas Schreckliches habe sich ereignet.

»Was ist geschehen?« rief ich.

»Daß ich das sehen mußte! O, es war schrecklich! So roh! So ganz abscheulich!« Und unter beständigen Ausrufen des Abscheus und des Ekels erzählte sie, daß der würdige Patriarch im weißen Bart die kleine, bucklige Frau auf das roheste mißhandelt habe. An den Schultern habe er sie gefaßt und sie geschüttelt, daß sie wie leblos hin und her geschlottert sei, und mit beiden Fäusten habe er auf ihrem armen Rücken herumgetrommelt. Alles habe die Ärmste stumm über sich ergehen lassen, bis er mit einem häßlichen Wort von ihr abgelassen. Sie, die Mutter, habe um etwas Wasser bitten wollen, sei in die Küche gegangen und sei so Zeuge dieser ruchlosen Szene geworden.

»Also doch!« rief ich aus. »Wer hätte das gedacht, so ein weißbärtiger Heiliger! So haben die Leute doch recht gehabt! Aber wie konnte sie sich das gefallen lassen?«

»Ach du!«

Das klang wie aus bitterster Erfahrung heraus: ›Was weißt du von dem Martyrium einer Frau? Wie wenig hast du noch vom Leben kennen gelernt!‹ Das alles lag in diesem Ausruf und weckte einen bösen Verdacht in mir.

Ich bat die Mutter, doch kein Aufsehen zu machen und alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Aber sie bestand darauf, das Haus sogleich zu verlassen und überließ es mir, die Angelegenheit zu ordnen.

Zum Glück fand ich bei dem Lehrer ein geeignetes Unterkommen für uns; die Mutter kehrte nicht wieder zu den Gärtnersleuten zurück, und ich holte unsere Sachen und bezahlte unsere schuldige Miete.

Drei Tage nach der rohen Szene war die Frau tot. Die Leute meinten, die Prügel allein wären wohl keine Schuld daran, denn sie hätte solche oft genug ohne Klage ertragen. Aber einmal hätte es ja so kommen müssen; so eine Handvoll Knochen, wie sie gewesen wäre.

Als die Mutter unter ihren Sachen ein kleines Tuch vermißte, ging ich am Tage nach dem Begräbnis noch einmal in das kleine, freundliche, blumenumrahmte Häuschen zurück, um danach zu fragen. Ich traf den Graukopf bei einer sonderbaren Beschäftigung. Er schien in den Schränken und Kommoden gekramt zu haben. Die Schiebladen waren alle offen und allerlei Zeug war überall herausgerissen oder lag auf den Fensterbänken und Stühlen umher. Er selbst aber stand mitten im Zimmer und spielte mit einem leeren Portemonnaie Fangball; beständig ein häßliches Schimpfwort wiederholend, warf er es mit einem höhnischen Lachen gegen die Decke des Zimmers, fing es geschickt wieder auf und war ganz verbissen in dies törichte, rohe Treiben.

Es schien ihn indes wenig zu stören, daß ich ihn dabei überraschte.

»Universalerbe!« sagte er mit einem häßlichen Lachen und zeigte mir das leere Portemonnaie.

Ich würdigte ihn keines Wortes, nahm das Tuch, das schon bereitgelegen hatte, und verließ mit grenzenlosem Abscheu und fast körperlichem Ekel den rohen Patron.

Die Mutter lebte dank einer heiteren alten Dame, die erst seit kurzem zugereist war, sichtlich auf, und ich konnte sie leicht überreden, einen Aufenthalt, der ihr so gut zu bekommen schien, noch um vierzehn Tage zu verlängern. Mich aber rief die Pflicht wieder zu meinen Schülerinnen.

*

Es war ein heißer Sommer, und wieder zwischen den glühenden Mauern der Stadt, sehnte ich mich nach dem freien Lande und dem kühlen Seestrande zurück. Die einsamen Abende aber, die ich bei offenem Fenster zubrachte, waren mir jetzt sehr willkommen, weil ich ungestört bis in die Nacht arbeiten konnte. An einem solchen Abend wurde ich noch spät nach zehn Uhr durch die Türglocke aufgestört. Verwundert über so späten Besuch öffnete ich und sah im Halbdunkel des Treppenflurs einen jungen Mann in Kellnerjacke stehen und sah hinter ihm ein bekanntes, aber lange nicht gesehenes, weinerhitztes Gesicht auftauchen.

»Dieser Herr beruft sich auf Sie,« nahm der Kellner das Wort. »Er hat bei uns gegessen und getrunken und ist acht Mark schuldig geworden.«

Er nannte ein Hotel in der Nähe des Lübecker Bahnhofes und sah sich nach seinem Gast um, als wollte er von ihm die Bestätigung seiner Worte haben.

»Du bist wohl so gut und bezahlst die Kleinigkeit,« sagte der Vater. »Ich bin augenblicklich nicht bei Kasse.«

Natürlich befriedigte ich den Kellner und gab ihm noch ein Trinkgeld obendrein.

»Ist die Mutter zu Hause?« fragte mein unerwarteter Besuch, schien sich aber aus der Verneinung dieser Frage nicht viel zu machen. »Dann kann ich wohl um so leichter ein Nachtquartier hier finden?« meinte er.

»Woher kommst du?« rief ich, »und was heißt das alles?«

Er antwortete etwas, was ich nicht verstand und ich bemerkte, daß er ein wenig betrunken war. Er begehrte zu essen, und ich konnte ihm Tee und Butterbrot vorsetzen, dem er trotz seines Hotelmahles mit wahrem Heißhunger zusprach. Der Tee schien ihn etwas zu ernüchtern, und ich erfuhr endlich nach und nach, was zu erfahren ich brannte.

Er hatte eine Urlaubsstunde, die ihm zu einem Ausgang gewährt worden war, zu einem Spaziergang nach Hamburg benutzt. Er hatte zu Fuß eine ganze Nacht hindurch den weiten Weg auf der Landstraße zurückgelegt und war, wie er sagte, den folgenden Tag herumgeirrt, ohne uns in Hamburg finden zu können. Im Chausseegraben habe er in der Nacht mit einigen Strolchen gelegen; sie seien aber nicht bösartig gewesen, und hätten ihm aus ihren Flaschen zu trinken gegeben. Er führte zwischen zusammenhängenden Erzählungen so viele krause, wirre Reden, daß ich zweifelte, ob ich es mit einem Trunkenen oder mit einem Kranken zu tun hätte. Seine Kleidung sah durchaus anständig aus; er trug seinen alten Pelz, der freilich arg verschossen, aber heil war, hatte seine alte Pelzmütze auf, und erinnerte mich völlig an früher, als er in eben diesem Kleide mit uns vor den Toren unserer Vaterstadt spazieren ging und uns nach Zschokkes »Stunden der Andacht« die Wunder der Welt und die Größe des Schöpfers zu erklären sich bemühte.

Ich war in einer schrecklichen Gemütsverfassung. Mitleid und Abscheu stritten sich in mir; seine weißen Haare nötigten mir Ehrfurcht ab, und ich zwang mich, möglichst ruhig und harmlos zu erscheinen.

Er tat, als ob nicht Tage des Kummers und der Schande zwischen uns lagen, seitdem wir uns zuletzt gesehen hatten. Er fragte nach mancherlei, was ich triebe, wie es der Mutter und den Geschwistern ginge und meinte: »So hört man doch mal wieder etwas voneinander.«

Mir aber tat das Herz weh. Jeder Abscheu verging, und das reinste Mitleid bewog mich, ihn gütig und mit kindlichem Respekt zu behandeln. Er schien das zu empfinden, obwohl seine Worte das Gegenteil auszudrücken schienen.

»Du hältst mich wohl für einen ganz schlechten Kerl?« sagte er.

Doch bevor ich antworten konnte, schlug er schon eine zynische Lache an und erschreckte mich mit dem Ausdruck grenzenlosester Menschenverachtung. Dabei wanderten seine Augen im ganzen Zimmer hin und her, von Stück zu Stück, von Bild zu Bild. Suchte er ein Andenken an sich, irgend etwas, was ihm sagte, daß er hier nicht ganz vergessen sei? Plötzlich stand er auf und wollte schlafen gehen. Ich wies ihn, nachdem ich ihn mit unserer kleinen Wohnung bekannt gemacht hatte, meine Kammer an und legte mich selbst in das Bett der Mutter.

Zwei Stunden vielleicht hatte ich schlaflos gelegen, als ich ihn auf dem Korridor hörte. Er ging auf Socken, schleichend. Ich hörte, wie er sich von Tür zu Tür tastete, wie die Drücker knarrten. Jetzt war er an meiner Tür. Ich sah, wie der Drücker sich leise, ganz leise ein paarmal bewegte.

Mit angehaltenem Atem saß ich aufrecht im Bett. Täuschte mich meine erregte Phantasie? Sollte ich ihn anrufen? Warum sprach er nicht, wenn er etwas wollte? Was trieb ihn durch alle Stuben?

Ein leises Knarren und Murren draußen, schleichende Schritte und alles war wieder still.

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Ich stand früh auf, hörte, wie er in meinem Zimmer noch kräftig schnarchte, und fing an das Frühstück zu bereiten.

Während ich trank, hörte ich ihn rumoren. Er kam denn auch bald zum Vorschein, gab mir die Hand und bot mir ganz vergnügt guten Morgen.

Kaum aber hatte er sich vor seiner Kaffeetasse niedergelassen, so sagte er: »Es tut mir leid, mein Junge. Aber um das Reisegeld muß ich dich doch noch bitten.«

»Natürlich, gern!« rief ich aufatmend. »Wann willst du denn reisen?«

Er nannte einen Zug, der in kurzer Zeit abging und bat mich, ihn an die Bahn zu bringen und die Fahrkarte für ihn zu lösen; das wäre ihm lieber, als wenn ich ihm das Geld gäbe.

»Dein alter Vater weiß nicht recht mehr mit Geld umzugehen,« sagte er, »und damit du siehst, daß ich auch wirklich abfahre.« Auf dem Weg nach dem Bahnhof sprach er ganz vernünftig; bestellte mir Grüße für die Mutter und lud mich ein, ihn doch einmal in Lübeck zu besuchen.

Mit der Munterkeit eines Mannes, der eine kleine Vergnügungsreise antritt, stieg er in den Wagen, lehnte sich zum offenen Fenster hinaus und reichte mir zum Abschied noch einmal die Hand.

»Adiö, mein Junge, ich danke dir auch für deine Freundlichkeit.«

Das waren seine letzten Worte. Ein halbes Jahr später war er tot.

Als ich der Mutter von diesem Besuch so schonend wie möglich Mitteilung machte, erschrak sie heftig.

»Welch ein Glück, daß ich nicht zu Hause war!« rief sie und fing heftig an zu weinen.

Und dann erfuhr ich die Geschichte ihrer unglücklichen Ehe. Es war so wie ich geargwohnt hatte. Von Kränkungen und Beleidigungen war er zu Tätlichkeiten übergegangen, hatte sie, die Wehrlose, Schwache mißhandelt und der Verzweiflung nahe gebracht.

Sie hatte ihn früher geliebt als meinen leiblichen Vater und hatte ihrem Herzen Schweigen gebieten müssen, weil er nicht in der Lage gewesen war, eine Familie zu ernähren. Als er dann einige Jahre nach dem Tode des ersten Mannes wieder um sie warb, hatte sie gehofft, an der Seite des Jugendgeliebten ein spätes Glück zu finden. Wie grausam war sie enttäuscht worden! Konnte sie ohne Zorn und Scham seiner gedenken? Wohl weinte sie bei der Nachricht von seinem Tode, aber gesprochen hat sie nie wieder von ihm.

Nun steht auch über seinem Grabe ein freundlicher Stern. Alle Schuld menschlicher Schwachheit löscht der Tod, der große Versöhner.


 << zurück weiter >>