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III

Unsere Familie hatte sich inzwischen vergrößert. Ein Schwesterchen war uns geschenkt worden, das, heranwachsend, die Arbeit der Mutter vermehrte. Das war der Grund, weshalb ein Kinderfräulein, eine Stütze ins Haus genommen wurde. Sie hieß Cäcilie und war die Tochter eines besseren Handwerkers, der, kindergesegnet, die Älteste gern ihr Brot bei fremden Leuten essen sah. Sie war achtzehn Jahre alt, fast rotblond, mit dem zarten Teint, den Mädchen dieser Haarfarbe zu haben pflegen. Sie hatte eine mittelgroße, zierliche Figur, der es doch nicht an Rundung und weicher Bildung fehlte, und ein bescheidenes, freundliches Wesen machte sie angenehm.

Wir beiden Jungen empfingen sie zuerst etwas abweisend und spöttisch: ›Glaube nur nicht, daß wir uns von dir befehlen lassen; du bist nur für die Schwester da.‹ Dennoch waren wir auf Schritt und Tritt hinter ihr her, neckten sie und suchten auf jede Weise mit ihr anzubinden. Hierbei zeigte sie sich nun von soviel Munterkeit, Gutmütigkeit und Klugheit, daß unversehens aus den nicht immer harmlosen Neckereien eine Zuneigung erwuchs, die wir mehr empfanden als uns eingestanden. Damit vertrug sich sehr wohl, daß mein Bruder, der ein wenig tief in die Flegeljahre geraten war, sich gelegentlich mit ihr balgte und einmal als endliche Abwehr eine kräftige Ohrfeige empfing, ja ein anderes Mal eine solche zu beiderseitigem Schrecken austeilte. Die bestürzten Gesichter sehe ich noch vor mir, beide, in tiefer Scham erglüht, in Tränen ausbrechend. Es war in einer Abendstunde, während die Eltern außer dem Hause waren. Der Lärm des Balgens und der erschrockene Schrei der Geschlagenen mochten unten im Kontor gehört worden sein und mochten dort gestört haben. Einer der Kommis kam ärgerlich die Treppe hinauf und fragte, was denn hier los sei. Das arme Mädchen flüchtete weinend in ihr Zimmer, und ich antwortete, nichts sei hier los. Der Frager konnte angesichts der reichlich fließenden Tränen kaum mit dieser Antwort zufrieden sein, ging jedoch mit der Bitte, wir möchten uns doch ruhiger verhalten, wieder hinunter.

Wir aber schlichen uns an die Tür des Zimmers, in dem die Gekränkte nun, wie wir annehmen mußten, saß und sich ausweinte. Wir hörten denn auch unterdrücktes Schluchzen, und ich, der ich doch eigentlich ganz unschuldig war, fühlte eine solche Zerknirschung und ein solches Mitleid, daß ich mich nicht enthalten konnte, ins Zimmer zu dringen und um Verzeihung zu bitten. Mein Bruder, der mir auf dem Fuße gefolgt war, stand als armer Sünder dabei.

»Es war ja nur aus Versehen,« sagte ich.

»Ich hab' Sie gar nicht treffen wollen,« stotterte er.

Ein reizendes Lächeln lief über das verweinte Gesicht des Mädchens, dessen getroffene Backe noch brannte und unsere Scham aufs neue aufflammen ließ.

»Du bist ein kleiner Grobian,« sagte sie vorwurfsvoll zu meinem Bruder.

»Ja,« eiferte ich, »er ist immer gleich so grob.«

»Ich hab' es doch nur aus Versehen getan,« verteidigte sich der Bruder wieder.

»Gut, so will ich dir diesmal verzeihen,« sagte sie freundlich und gab ihm die Hand.

»Sagen Sie es auch nicht nach?« fragten wir beiden wie aus einem Munde. Sie versprach es und schob uns zuletzt wieder ein wenig ärgerlich aus ihrem Zimmer. Wir waren froh, daß die Sache so glimpflich ablief und waren von Stund' an jedem Wunsch und Wink des Mädchens willig. Ich aber meinte zu bemerken, daß sie mir eine besondere Neigung zeigte. Es hatte sie offenbar gerührt, daß ich Unschuldiger die Schmach, die ihr widerfahren, so lebhaft mitempfunden und sie als erster um Verzeihung gebeten hatte. Mich traf manchmal ein freundlicherer, wärmerer Blick aus ihren hübschen Augen, der mir zu sagen schien: ›Du bist doch der beste von euch.‹ Und so erwarb sie sich immer mehr mein Herz zu eigen.

Es kam hinzu, daß sie, die eine gute Schule besucht hatte, im Französischen ziemlich beschlagen war, und ich mir manchen Rat bei ihr holen konnte, wenn ich im Charles XII nicht weiter wußte. Ich hatte meinen Bruder um eine Klasse überflügelt und konnte also bei ihm keine Hilfe suchen. So saß ich manchmal eine Stunde und länger mit dem Mädchen allein und arbeitete mit seiner Hilfe meine französischen Aufgaben. Die Mutter, der Sprache nicht mächtig, war froh, daß ich auf diese Weise in der Schule mitkam, und der Vater sparte gewiß gern das Geld für die Nachhilfestunden, wenn er sich überhaupt um die Sache bekümmert hat.

Cäcilie hatte immer ihr Nähzeug in der Hand, wenn ich mich mit meiner Arbeit neben sie setzte. Die Lampe stand zwischen uns auf dem kleinen Tisch, ich beugte mich über das Buch, sie über ihr Linnen, und ab und zu trafen sich unsere Augen mit einem wunderlichen Blick, der wie eine Frage nach etwas Unbekanntem war, worauf man die Antwort jedoch kaum zu wissen begehrt. Konnte ich nicht weiter in meiner Arbeit, so kam sie an meine Seite und neigte ihren Blondkopf mit über das Buch, wobei mich ihre seinen Schläfenhärchen streiften, und ich die warme Nähe ihrer weichen, blühenden Wange fühlte; und so dicht nebeneinander, den reinen Atem unserer Jugend mischend, übersetzten wir mit halblauter Stimme den schwierigen Satz. Und es geschah, daß ich sie öfter von ihrem Linnen aufrief, als es nötig gewesen wäre, und mich dümmer stellte, um mich als ein armes, schutzbedürftiges Vögelchen unter die Hand ihrer Klugheit schmiegen zu können. Solche Abende in ihrer Nähe auch ohne den Charles XII genießen zu können, brauchte ich kaum auf Mittel und Wege zu sinnen, denn sie boten sich von selbst. Welches junge Mädchen in ihren Jahren hat nicht einiges Verhältnis zur Poesie, sei es auch nur oberflächlich und sentimental, ohne tieferes Verständnis? Bei Cäcilien aber fand ich ein warmes, empfängliches Herz für die Gefühlswelt unserer Dichter. Lenau, Heine, Rückert und andere und vor allem der edle Sänger unserer Vaterstadt, Emanuel Geibel, waren ihr nicht unbekannt, und sie hatte ihre Lieblingsverse, die sie gern rezitierte. So vertauschten wir denn den Voltaire gelegentlich mit Heines Buch der Lieder oder Lenaus Lyrik, die ich mir von Freund Fritz zu verschaffen wußte, und waren uns kaum recht bewußt oder wollten es nicht sein, daß hier die Berechtigung unseres Zusammenhockens aufhörte, da sie uns nur für den Charles XII und eigentlich nur für seine schweren Stellen gegeben war. Auf welch gefährliches Gebiet wir uns mit Heine und Lenau begaben, sollten wir bald mit Schrecken gewahren. Mochte ich auch für sie gleichsam nur die Stimme ferner Traumgestalten sein, die der Geist des Buches der Lieder in ihrer Frühlingsseele gebar, so empfand ich selbst doch alle diese Gedichte als direkt an meine schöne Lehrerin gerichtet und nahm alles auf das persönlichste. Der Thron meines Herzens war frei, und ich machte das blonde Fräulein zur Königin. Wie sehnte ich mich in den langen Tagesstunden nach meinem abendlichen Pagendienst. Meine Lehrer hatten in dieser Zeit oft Veranlassung, den Kopf über mich zu schütteln, und mutmaßten alles andere, als die rechte Ursache meiner Zerstreuung. Ob man im Hause ein verändertes Wesen mir anmerkte, weiß ich nicht; jedenfalls blieb man ohne Argwohn, und ich genoß ein heimliches Glück, das sonst Knaben meines Alters nicht vergönnt zu sein pflegt.

Hatte ich meine Vorlesungen mit Heine und Lenau angefangen, so war es gleich in der Absicht geschehen, mit meinen eigenen Versen zu schließen. Daß ich solche auf Cäcilie in großer Anzahl verfaßte, war selbstverständlich. Nun ließ sie sich Heine und Lenau mit schönem Ernst gefallen, als ich aber mein eigenes Liebesgereimsel vorlas und frech genug war, es ihr zuzustecken, nahm sie es zwar an, lachte aber doch belustigt über einen so jungen Liebhaber. Auch behandelte sie mich von dieser Stunde an anders und wies mich bei jeder Gelegenheit in meine Kindlichkeit zurück. Allein sie richtete nicht viel damit aus. Ja, ich erhitzte mich nach und nach bis zum kecken Unterfangen, sie zu küssen. Doch tat ich es nicht als ein Held im Liebesgarten, Aug' in Auge und geradezu auf den jungen, frischen Mund, sondern ich stand hinter ihr und beugte mich scheu und furchtsam, ein ungeübter Dieb, über ihre rechte Schulter und berührte mit meinen Lippen ihre Wangen. Einen Augenblick blieb sie regungslos, blutrot und keines Wortes mächtig, dann aber sprang sie zornig auf: »Dummer Bengel!« rief sie. »Was fällt dir ein? Sofort machst du, daß du hinauskommst!«

Wie vernichtet stand ich vor ihr, wagte kaum den Blick zu erheben und fühlte mit einmal die Schwere meiner Tat. Wenn sie mich verklagte? Und wie nun so Scham und Angst mit vereinten Kräften über mich herfielen, wußte ich mir nicht anders zu helfen, als daß ich in Tränen ausbrach; schluchzend ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen, warf mich über den Tisch und verbarg das Gesicht zwischen meinen ausgestreckten Armen.

Eine Zeitlang sah sie dem schweigend zu, dann legte sie ihren Arm um meinen Nacken und versuchte mich aufzurichten und mich zu trösten.

»Junge, mach' keine Geschichten, deshalb brauchst du doch nicht zu weinen. Ich bin dir nicht böse. Aber du mußt nun vernünftig sein und gehen.«

Sie zog mich mit sanfter Gewalt vom Stuhl in die Höhe, sah mich halb belustigt und halb gerührt an und schob mich der Tür zu. Hier nahm sie meine Hand und sagte: »Ich will dir deinen Kuß wiedergeben.« Sie zwang den Sichsträubenden, ihr still zu halten, indem sie ihm den abgewandten Kopf mit festem Griff zurechtsetzte und, ein verschämtes, willenloses Kind, mußte er es leiden, daß sie ihn herzhaft auf den Mund küßte. »So, und nun geh!« Und damit schob sie mich vollends zur Tür hinaus.

Da stand ich nun, ein Ausgetriebener, vor meinem Paradies. ›Hättest du nicht von der verbotenen Frucht genossen, hättest du dir noch lange darin Wohlsein lassen können,‹ dachte ich; jetzt war es mir auf immer verschlossen. Woher hätte ich den Mut nehmen sollen, wieder um Einlaß anzuklopfen? Ich suchte vielmehr in den folgenden Tagen mich möglichst vor den Augen des Mädchens zu verstecken und mit meinem Charles XII allein fertig zu werden, was denn auch leidlich ging. Meine Mutter freute sich dieser Fortschritte, und ich wußte ihr ein paar schlechte Zeugnisse zu verheimlichen.

Erstaunt war ich, daß Cäcilie mich bald wieder mit völligster Gleichgültigkeit behandelte, als ob nichts geschehen sei. Konnte sie sich so gut verstellen, oder war ihr das Ganze wirklich nur eine Kinderei, die ihr kein Stündchen länger Gedanken machte? Was hatte ich ihrem Betragen zu entnehmen? Beruhigung? Oder mußte ich fortgesetzt fürchten, daß die Eltern sich eines Tages als Mitwisser meines ersten Sündenfalles zu erkennen geben würden?

Doch nichts derartiges geschah. Und schon begann ich Ruhe und Vertrauen wiederzugewinnen, als mich die Mitteilung der Mutter, daß Cäcilie sich verlobt habe, und wohl bald unser Haus verlassen würde, wieder aus dem Gleichgewicht warf. War dem wirklich so, oder war es nur ein Vorwand? Doch es war, wie die Mutter sagte; das Mädchen hatte schon einen Bewerber gehabt, als es in unser Haus eintrat und war heimlich mit ihm versprochen. Wenn ich ihr aus dem Buch der Lieder vorlas, hatten ihre Gedanken jenem entfernten Freund gegolten, und ich knabenhafter Liebhaber diente ihr nur dazu, ihrem Herzensfeuer noch ein paar poetische Kohlen unterzuschaufeln. Daher auch ihre Heiterkeit, als sie merkte, daß ich selbst Feuer gefangen hatte, und die Sicherheit ihres Betragens hinterher.

Natürlich stellte ich damals solche Betrachtungen nicht an, sondern bezichtete sie im stillen pathetisch der Falschheit und des Verrates, als ob sie mir irgend etwas schuldig geworden wäre. Als sie dann aber unser Haus verließ, uns allen noch einmal die Hand gab, und mich mit einem flüchtigen Evablick erröten machte, war es mir doch, als zöge ein Stück Sonne mit ihr davon, und als würde ich so schöne Stunden nie wieder erleben. Ich setzte mich mit heißen Wangen hinter meine Verse, die ich ihr gewidmet hatte, und war für den Rest des Tages ein tiefunglückliches, zerrissenes Wesen, verdammt ein großes, unseliges Geheimnis in meinem jungen Busen zu verschließen.

*

Lange war ich nicht mehr durch die Straßen meiner goldenen Stadt gewandert und hatte den beseligten Blick zu ihren Türmen erhoben; statt dessen hatte sich ein anderer Traum bei mir eingenistet. Mit Grauen ging ich des Abends zu Bett, wußte ich doch, was mir für die Nacht bevorstand: ich lief in Todesangst die Holstenstraße hinunter, die sich in ihrer unteren Hälfte ziemlich senkt, einen unsichtbaren Verfolger hinter mir; und gerade vor dem »Roten Hahn«, einem kleinen Wirtshaus rechter Hand, wurde mir ein langes Dolchmesser tief in den Rücken gestoßen. Dieses wiederholte sich lange Zeit Nacht für Nacht; und immer gerade vor dem »Roten Hahn« erhielt ich den Stich, der mich sogleich in Schweiß gebadet aufwachen ließ. Es wiederholte sich so oft, daß ich es zuletzt als etwas Unabänderliches hinnahm, und gleichgültig dagegen wurde, und damit blieb dieser böse Traum dann weg.

Bald nach Cäciliens Weggang war er zuerst aufgetreten, und ich suchte vergebens, ihn zu deuten und nach seiner Ursache zu spüren. Wie sehnlich hatte ich gewünscht, einmal von Cäcilien zu träumen. Mit innigem Gedanken an das Mädchen war ich oft zu Bett gegangen, hatte wiederholt leise ihren Namen ausgesprochen und sie in mein Gebet eingeschlossen; aber so wie die Wimpern sich schlossen, war ihr Andenken erloschen. Hier aber tauchte etwas aus dem Schoße der Nacht auf, womit die Seele am Tage keine Gemeinschaft hatte. Alle diese Zustände plagten mich, ohne daß die Umgebung davon etwas gewahr wurde, denn ich konnte mich von früh auf gut beherrschen. Dazu kam andererseits die Gabe, Stimmungen und Zustände bewußt herbeizuführen. So konnte ich durch den bloßen Willen einen Zustand so unendlichen Grauens sogar am hellen Tage hervorrufen, daß es mir eiskalt über den Rücken lief, und ich an die Existenz von Geistern zu glauben geneigt war.

Ich weiß nicht, was mich in den Ruf des Stolzes, ja des Hochmutes gebracht hatte. Diesem Schicksal verfallen recht oft stille, innerliche Naturen, die sich selbst genug sind und daher, mehr als den anderen lieb ist, deren Gemeinschaft entraten können. Meine äußere Haltung konnte jenem Urteil keineswegs Nahrung geben. Ich hatte einen leichten, schwebenden Gang, von dem die Schwester sagte: »Ganz wie Leutnant Karo.« Das war ein schmeichelhaftes Lob, denn dieser schlanke, blühende Sekondeleutnant war der Gott aller Backfische. Sonst aber hatte ich kaum mit diesem Marsjünger Ähnlichkeit. Ich trug den Kopf freilich auch hoch genug, aber auf einem langen Hals, den ich weit vorzustrecken pflegte, so daß ich wie ein Schiff, mit dem Schnabel voran, durch die Straßen segelte. Dabei hatte ich, ohne mich eigentlich schlecht zu halten, einen rundlichen Rücken, verursacht durch die kräftige Ausbildung der Schulterblätter; das war ein Erbteil meiner Mutter und ihrer bäuerlichen Vorfahren, die den Pflug durch die harte Scholle geführt und den Segen der Felder in lastenden Säcken auf ihren Rücken in die Mühle getragen hatten.

So begreife ich, daß die kleinen Backfische mehr Augen für Leutnant Karo hatten als für mich. Dennoch war eine unter den Freundinnen meiner Schwester, die mich wenigstens aus der Ferne anschwärmte. Sie merkte wohl, daß sie auf Gegenliebe nicht zu rechnen hatte, und versuchte nicht erst eine vergebliche Annäherung herbeizuführen. Es war ein feines, sinnendes Mädchen, aber sie war häßlich. Diese hatte durch meine Schwester von meinen Gedichten erfahren, hatte einzelnes von dem sentimentalen Zeug gelesen und sich nach Backfischart in die Neigung zum Dichter hineingeschwärmt. Ihre Schwärmerei ließ ich mir natürlich als Futter meiner Eitelkeit gerne gefallen, und ich ließ ihr ab und an auch durch meine Schwester einen Gruß zukommen, wie man einem Bettler ein Almosen zuwirft. Immerhin sog ich auch aus dieser, wie jeder anderen spärlichen Anerkennung den mir nötigen Honig, fing an mich zu fühlen, und strebte immer lichteren Höhen des Parnasses zu.

Einmal wurde mir denn auch ein Triumph, der mich aber mit seinem blendenden Glanz fast ebensosehr erschreckte, als er mich in einen kurzen Rausch wahnsinniger Zukunfthoffnungen versetzte. Ein Traum hatte mir die Idee zu einem langen Gedicht gegeben: Ich ging durch die Wüste, arbeitete mich langsam durch den Flugsand der heißen, flimmernden Dünen und sah um mich die Gerippe der gefallenen Kamele und deren Treiber. Aber ich erreichte einen festeren Sandhügel, der meinem Fuß Halt gewährte, und sah nun plötzlich die ganze Wüste in kreisender Bewegung um mich herum aufstehen. Soweit der Traum. Dann hatte meine Phantasie weiter gedichtet. Ich ließ die drehenden und wandelnden Staubsäulen Gestalt annehmen; die großen Männer der Menschheitsgeschichte, wie sie in einer Tertianerseele lebendig sind. Schiller und Goethe, Alexander und Napoleon, Kant und Humboldt, Beethoven und Mozart, Raffael und Michelangelo, jeder dieser aus dem Staub zu einem Scheindasein erstandenen Helden begrüßte mich mit einer Klage über die Vergänglichkeit alles Irdischen, und der Refrain jeder Strophe war immer ein dumpfes, geisterhaftes: »Staub! Staub!«

Dieses Gedicht mußte meinem Stiefvater in die Hände fallen, oder vielmehr er überraschte mich, als ich die letzte Hand anlegte. Ich konnte ihm das Blatt nicht weigern, er nahm es und las es in meiner Gegenwart durch, sagte wohlwollend: »Sieh, sieh!« oder so ähnlich, und hieß es mich fertig machen und ihm dann noch einmal zeigen. Wer war beglückter als ich! Er nahm dann das fertige Gedicht an sich, um es seinem Freunde dem Polizeirat Dr. Ave-Lallemant, der sich auch einen schriftstellerischen Namen gemacht hat, zu zeigen; dieser sprach sich sehr anerkennend darüber aus, und mein Vater vorenthielt mir nicht seine lobenden Worte, als er mir mein Opus mit einem freundlichen Lächeln zurückgab.

Nun mochte die Größe des Stoffes – Tertianer wagen sich immer an das Größte und Schwerste – mich über mich selbst hinausgehoben haben, genug es war noch ein paar Tage lang von meinem Gedicht die Rede, und zuletzt rückte meine Mutter mit der Absicht heraus, es Emanuel Geibel zu zeigen; sie wollte selbst damit zu ihm gehen.

Emanuel Geibel! Vor seine Augen zu kommen, hielt man meine Verse für würdig? Statt in einen Freudentaumel zu geraten, überfiel mich eine herzbeklemmende Angst. »Nein! Nein!« rief ich und bat, es doch zu unterlassen. Aber meine Mutter wußte mich zu beruhigen und zu überreden, und da ich merkte, daß auch der Vater von der Sache wußte und sie befürwortete, gab ich nach; und so wartete ich denn klopfenden Herzens ihrer Rückkehr und meines Urteils.

Geibel lebte nach seinem Weggang aus München als Pensionär des Königs von Preußen wieder in seiner Vaterstadt. Wir begegneten ihm oft auf unseren Schulwegen, oder sahen ihn draußen vor dem Burgtor im Schatten der alten Alleen lustwandeln. Schon von weitem erkannten wir ihn an dem großen grauen Schlapphut, dem Plaid, das er lässig über die Schulter geworfen trug, und dem charakteristischen Zwickelbart. Dieser Bart gab seinem Gesicht etwas Martialisches, wie er denn überhaupt ein ganzer Mann war, dieser später so arg als Backfischdichter Verschriene, männlicher als mancher seiner jugendlichen Gegner, die stürmisch auftraten, aber was positive Leistungen für ihre Nation anbetrifft, weit hinter Geibel zurückblieben. Damals stand er noch auf der Höhe seines wohlverdienten Ruhmes, und galt uns, der Jugend seiner Vaterstadt, als ein Dichter, Weiser und Prophet, dem wir uns mit scheuer Ehrfurcht zu nähern hätten. Eine Edelnatur, verbreitete er eine Atmosphäre von Reinheit und Adel um sich und bewegte sich auch äußerlich als ein Auserwählter unter uns.

Dieser Mann sollte nun meine Gedichte lesen! War es nicht ein kühnes, ja durchaus ungehöriges Unterfangen, ihn mit solchen Schülerreimereien unter die Augen zu gehen und auch noch einiges Interesse für den dreisten Räuber seiner Zeit zu erbitten? Meiner guten Mutter kamen dieselben Bedenken, und sie kehrte unverrichteter Sache wieder heim, nachdem sie ein paarmal unschlüssig vor dem Hause des Dichters auf und ab gegangen war und nicht den Mut hatte finden können, auch nur die Türklinke zu berühren. Ich fühlte mich mehr erleichtert als betrübt, und begnügte mich gerne mit dem kleineren aber sicheren Triumph, daß erwachsene Leute von Bildung und Verständnis es überhaupt in Erwägung gezogen hatten, mein Opus einem Manne wie Geibel vorzulegen. Ich atmete wieder frei auf und war mit diesem Ausgang der Sache sehr zufrieden.

*

Unser Stiefvater hatte sich dem jungen Poeten als von gütiger und teilnehmender Gesinnung gezeigt. Solche kleine Züge hatten mich schon wiederholt erkennen lassen, daß er mich im stillen bevorzugte. Das hat mich natürlich auch milder in meinem Urteil über ihn gestimmt, der im ganzen unserem Hause nicht zum Segen gereicht hat.

Während seiner langen Reisezeit in den nordischen Ländern hatte er sich an dortige Trinksitten und an ein wechselvolles Wirtshausleben gewöhnt und vermißte es in den späten Ehejahren. Er gehörte bald zu jener gar nicht kleinen Zahl von Hausherren, die ihre Abende gern außer dem Hause zubringen und ihrer Familie einreden, der Mann bedürfe des Stammtischgespräches mit Gleichgesinnten, und die sich stellen, als erfüllten sie damit gleichsam eine soziale Pflicht. Unser Stiefvater hatte seinen Stuhl nun gleich in den Ratskeller gestellt, wie er denn überhaupt ein Mann von Geschmack und verfeinerten Ansprüchen war, dem das Beste gerade gut genug schien. Austern, Rebhühner und Krammetsvögel, sagte man ihm nach, hätte er am liebsten gegessen und für sich nötig befunden, während er zu Hause für Einfachheit und Genügsamkeit kluge und väterliche Reden hielt.

Er hatte auch überall die beste Einsicht und hätte manches Gute wirken können, allein er war schwach und ganz in Egoismus versunken. Er konnte einen Anlauf nehmen, sich unserer Erziehung mit Ernst und Eifer zu widmen, und sich unser Vertrauen, dessen Mangel er wohl fühlte, zu erwerben. Er fing an, uns an Winterabenden aus Zschokkes Stunden der Andacht vorzulesen; es waren Feierstunden für uns, denn er war ein ausgezeichneter Vorleser und wußte die vorgetragene aufklärerische Weisheit auch unserem Gemüt nahezubringen. Lieber noch hörten wir ihn Fritz Reuter lesen; hier war er unnachahmlich, sowohl in den ernsten, wie in den humorvollen Partien, und da er im Grunde selbst mehr Geschmack daran fand, als an dem etwas dünnen Weisheitstee Zschokkes, so blieben wir bald bei Onkel Bräsig und dem alten Havermann. Nach einigen Wochen war aber auch diese Herrlichkeit zu Ende, und es wurde nie wieder ein Buch in die Hand genommen.

Dafür fing er an, mit uns spazieren zu gehen, wobei belehrende Unterhaltungen das Wandern würzen sollten. Das geschah auch anfangs, indem er an Zschokke anknüpfte; aber bald wurde es ihm und uns lästig, und wir plauderten lieber nach Bedarf und Laune und genossen jetzt erst die Freude des Spazierengehens.

So war er in allem ein wunderlicher, starrer und doch oft inkonsequenter Mann, der aber seine Schwächen kannte und einem etwaigen Verlust an Ansehen dadurch vorzubeugen wußte, daß er mit tyrannischem Eigensinn überall seinen Willen durchsetzte.

So war er gleich im Anfang mit unserem guten Franz hart aneinander geraten. Der gekränkte langjährige Diener des Hauses hatte gekündigt, und alle Versuche der Mutter, zu vermitteln, scheiterten an dem Eigensinn des Vaters. Mit Tränen in den Augen sahen wir den Freund unserer Kinderjahre das Haus verlassen. Er kaufte sich eine kleine Gärtnerei, und wir besuchten ihn in der Folge manchmal, worüber er eine rührende Freude zeigte.

Zwei Leidenschaften beherrschten den Vater vor allem: das Trinken und das Angeln; damals überwog noch das Angeln.

Die Trave, sowohl unterhalb, wie auch oberhalb der Stadt, war fischreich genug. Lieber aber angelte er in einem benachbarten See, der mit einer nur halbstündigen Eisenbahnfahrt zu erreichen war. Dahin nahm er uns oftmals mit. Das war denn jedesmal ein Festtag für uns, auch für mich, der ich am Fischfang selbst wenig Vergnügen fand.

Nach einigen vergeblichen Versuchen, auch einen Barsch oder ein Rotauge an meinen Haken zu bekommen, gab ich gewöhnlich das Angeln auf, zog ein Buch aus der Tasche und las. Aber auf der schattenlosen Wasserfläche, wo die Sonne doppelt heiß brannte, und die weißen Blätter des Buches die Augen blendeten, wenn ich nicht eine künstliche Beschattung herstellte, überkam mich nur zu oft ein Gefühl der Müdigkeit, gegen das ich dann heroisch ankämpfte, indem ich an den gefüllten Futterkorb dachte, oder die Hände bis über die Gelenke in das kühle Wasser tauchte. Manchmal flog mir auch wohl ein zappelnder Fisch aufmunternd um die Ohren, der, gar zu stürmisch an das himmlische Licht gerissen, an der nassen Schnur über das ganze Boot hinschnellte.

Kehrten wir dann sonnenverbrannt heim, stand ich im Berichten fischerlicher Heldentaten keineswegs zurück, und lobte – immer mit »wir« sprechend – die Fänge der anderen neidlos in den höchsten Tönen. Ganz ohne Ausbeute kam auch ich nie nach Hause, wenn ich meine Schätze auch nicht auf den Tisch schütten, noch irgendwie anderen zugänglich machen konnte. Dieses beschauliche Stilliegen auf dem Wasser war eigentlich ganz nach meinem Sinn und meiner Träumernatur gemäß. Schon das Schmoren an der Sonne behagte mir und konnte mir nicht leicht zuviel werden; ich freute mich über die zunehmende Bräune meiner Hände und beugte mich über den Rand des Bootes, um im feuchten Spiegel ein unvollkommenes Bild des farbigen Fortschrittes auf meinem Gesicht zu erhaschen. Dabei verlor sich der Blick gern in die geheimnisvolle Tiefe. Ein breiter Schilfgürtel umgab den See, Mummeln blühten aus dem stillen Grund märchenhaft herauf, und die weißen Flügel der Landmöwen blitzten, sich spiegelnd, neben den schneeigen Blumenkronen im Wasser. Zahlreiche Libellen tummelten sich in der schimmernden Luft über der flimmernden Flut, und die Fischlein kamen hier und da glitzernd an die Oberfläche und schossen im pfeilschnellen Zickzack wieder aus der gefährlichen Bootnähe in ihr sicheres Reich zurück.

Eines Nachts lebte eines jener Wasserbilder in lieblicher Verschönerung in meinem Traum wieder auf. Ich sah Cäcilie, von der zu träumen ich so oft vergeblich gewünscht hatte, vor mir aus dem See auftauchen. Sie hatte wunderbarerweise ganz grüne Haare, die ein Kranz silberner Sterne fesselte. Doch als sie näher kam, geisterhaft das flüssige Element durchschneidend, ohne daß sich ein Wellchen regte, erkannte ich, daß das grüne Haar langes, feuchtes Schilfgras war, und die hellen Sterne zeigten sich als weiße Wasserrosen, auf denen hier und da ein diamantener Tropfen funkelte. Es war nur eine flüchtige Erscheinung, die sich mir sofort entzog, als ich Anstalten machte, sie zu umfangen. Aber aus den nachfolgenden wirren und wechselnden Traumbildern leuchtete sie mir doch weit in den Tag hinein; sie in einem Gedicht festzuhalten, mißlang nach vielen Bemühungen, und das schöne Bild zog sich wieder in sein verborgenes Nixenreich zurück.


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