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Drittes Buch

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Die Schwester empfing mich am Bahnhof. Wie hübsch war sie geworden! Sie führte mich zur Mutter und führte mich dabei durch halb Hamburg. Wie anders gefiel mir die Stadt jetzt, da ich etwas Liebes darin hatte; ich hatte das Gefühl der Heimat, und kamen wir durch eine bekannte Straße, ging mir das Herz auf.

Das Gesicht der Schwester strahlte vom Glück des Wiedersehens; ihre Erzählung stoß leicht und munter und malte ein beschränktes aber nicht trostloses Bild des neuen Zustandes: Die Wohnung sei zwar weit draußen in der Vorstadt, aber sie sei frei und freundlich gelegen; die Mutter habe jetzt einigen Erwerb, indem sie am Klavier unterrichte, und sie selbst, die Schwester, habe in einer freundlichen Familie eine Stellung als Hausfräulein gefunden.

»Ich meine, ihr hättet einen kleinen Laden aufgemacht?« rief ich verwundert.

»Schokolade und Konfitüren. Ja, wir hatten es,« erklärte sie. »Aber es wollte nicht gehen. Es war am Hafen. Das Publikum ist dort ein eigenes, und die Mutter konnte sich nicht zurechtfinden; es kamen zuletzt nur noch die Kinder, die ihre Sonntagsschillinge vernaschen wollten.«

»Rechnet ihr hier noch nach Schillingen?« fragte ich neckend.

Sie lachte.

»Alte Gewohnheit; man hat solange Schilling gesagt. Also ihre Sonntagspfennige.«

Wie lieb sie aussah, wenn sie lachte.

»Geht es der Mutter auch so gut wie dir?« fragte ich. »Dann will ich mich freuen.«

»Es geht ihr nicht schlecht,« erwiderte die Schwester. »Sie ist jetzt viel zufriedener, da sie der Geschäftssorgen ledig ist und auch mich geborgen weiß. Und jetzt trägt sie die Freude, dich wiederzusehen, und die stille Hoffnung, dich zu behalten.«

»Wir wollen sehen, wie es wird,« sagte ich. »Vorläufig bin ich nun mal hier, und wir wollen froh sein, daß wir uns wiederhaben.«

»Nein!« rief sie, »du darfst nun nicht wieder fort.«

So gingen wir noch eine Weile plaudernd nebeneinander, bis die Schwester rief: »Da sind wir!« Wir waren in eine Straße eingebogen, die nur einseitig bebaut war; sie hatte ein freies Feld mit Laubenkolonien vor sich und bot einen nüchternen, trostlosen Anblick, der nur durch den hellen Sonnenschein, der alle Fenster der grauen Häuser stammen und blitzen machte, ein wenig gemildert wurde.

»Also hier!« rief ich etwas gepreßt. Das Bild unseres Vaterhauses stieg vor mir auf, und ich wurde des Gegensatzes schmerzlich inne.

Eine lange Häuserreihe stand vor uns, alle gleich hoch, gleich breit, gleich grau, mit der gleichen Anzahl Fenster. Eine rechte Vorstadtstraße nach der Schablone gebaut, die ganze Reihe dieser Wohnkästen unter einem Dach. Wir traten in eine der vielen Türen ein, stiegen bis in den zweiten Stock hinauf, und die Mutter hing an meinem Hals.

›Wie klein sie geworden ist,‹ dachte ich. Unsere Tränen flossen ineinander, wir küßten uns wieder und wieder und ihre lieben Hände streichelten mir die Backen, als wäre ich ihr kleines Kind. Sie war noch kurzsichtiger geworden, und ihre grauen, getrübten Augen suchten in nächster Nähe mein Gesicht nach den bekannten Zügen ab.

»Ich bin's noch,« sagte ich lachend.

»Ja, du bist's noch, und wie gut du aussiehst. Ich fürchtete schon, es ginge dir schlecht.«

Sie zog mich zu sich auf das kleine Sofa nieder und stellte Fragen über Fragen. Mir war aber mehr darum zu tun, erst einmal von ihr selbst etwas zu hören, und während die beiden lieben Frauen durcheinander auskramten, was zu berichten war, hatte ich Zeit, mich umzusehen. Die wenigen Möbel des kleinen Zimmers waren mir alle bekannt und vertraut; sie waren das wenige, was die Mutter aus dem Zusammenbruch gerettet hatte. Auch das alte Klavier stand da und sah mich wie mit den Augen eines alten Jugendfreundes an, der bescheiden wartet, daß auch an ihn die Reihe der Begrüßung kommt. Ich gedachte des Wandels der Zeit, gedachte der Kindertage, wo wir, um das alte Instrument geschart, dem Spiel der Mutter lauschten und mit ihr sangen, und die enge Gegenwart, welche die damals jugendliche, schöne und im reichen Glück sitzende Spielerin verurteilte, an eben diesen Tasten ihren Erwerb zu suchen, um ein kleines und gedemütigtes Leben kümmerlich fristen zu können, fiel mir schwer aufs Herz. Ein alter Kapitän, dessen Frau eine Lübeckerin und mit den früheren Verhältnissen unserer Familie wohl vertraut war, und die sich meiner Mutter schon früher nützlich gemacht hatte, indem sie ihren kleinen Bedarf an Tee und Schokolade bei ihr deckte, hatte ihr als erste Klavierschülerinnen geradezu seine Töchter aufgedrungen, den Stundenpreis selbst bestimmt und so diktatorisch Vorsehung gespielt. Es hatten sich noch einige Töchter in der Nachbarschaft hinzugefunden, meist Kinder von kleinen Seeleuten, die ihren Stolz darin suchten und deren Einkommen es ihnen gestattete, ihren Mädchen das Klavierspielen lernen zu lassen. Was sie zahlten, war lächerlich gering, fünfzig und sechzig Pfennige für die Stunde, aber da sie alle auf einem Haufen wohnten, verlor meine Mutter nicht viel Zeit mit dem Zwischenlaufen und konnte immerhin mit einem Taler Tagesverdienst rechnen.

Das alles erfuhr ich ziemlich breit und umständlich. Hiernach aber sollte ich von meinen Zukunftsplänen erzählen. Da konnte ich denn nur sagen, daß sie vorerst ganz ins Ungewisse gingen. Auf jeden Fall müsse ich mich ja wieder um eine Anstellung bemühen, und wenn ich sie in Hamburg nicht fände, was ich sehr befürchte, müsse ich mich wieder nach auswärts wenden. Diese Aussicht machte sie beide sehr niedergeschlagen. Sie hatten sich Hoffnung gemacht, ich könnte nun bei ihnen bleiben, und die Mutter sprach es sogar mit einiger Zuversicht aus.

»Gewiß wirst du etwas Passendes finden, wenn du dich nur ordentlich darum bemühst. Es sind ja so viele Buchhandlungen in Hamburg, und du bist doch auch noch von früher her bekannt, und sie werden dich gern wieder nehmen.«

Ich mußte lächeln über die Naivität der Mutter, beruhigte sie aber vorerst, indem ich ihr versprach, mein möglichstes zu tun, und versicherte, daß es mein eigener Wunsch wäre, bei ihr zu bleiben und ihr nach Kräften zur Seite zu stehen. Sie war sogleich ganz glücklich und rief: »Wenn wir den lieben Gott nur recht bitten, wird er dich schon etwas finden lassen.«

»Du hast dir dein Gottvertrauen noch immer erhalten, Mütterchen,« sagte ich.

»Und er hat mir noch immer beigestanden,« sagte sie zurück.

Dies Wort aus ihrem Munde nach so schweren Heimsuchungen rührte mich, und ich drückte ihr zustimmend die Hand.

Wir ließen nun die Zukunft vorläufig in ihrem Dunkel und wandten uns der Gegenwart zu. Ich mußte die ganze kleine Wohnung in Augenschein nehmen, die aus drei Zimmern und einer Küche bestand und einen traulichen Eindruck machte; Licht und Luft hatten reichlich Zutritt, und alles war im saubersten Zustand. In dem Zimmer, das mir als Schlafraum zugewiesen wurde, stand noch ein zweites Bett. Dieses war für meinen Bruder bestimmt, der in einigen Tagen aus Kiel erwartet wurde. Er hatte seiner Militärpflicht bei der Marine genügt und hatte seit einem halben Jahre einen bescheidenen Posten als Schlosser auf einer Werft inne. Jetzt rückte die Zeit näher, wo er von seinem Vaterlande Abschied nehmen wollte, und die Mutter brach in Tränen aus, als nun unsere Gedanken sich diesem Sohn zuwendeten, den sie gegen den soeben wiedergewonnenen verlieren sollte. Sie lobte ihn in den zärtlichsten Ausdrücken, immer habe er sie treu unterstützt, seine letzten Groschen mit ihr geteilt und sich während seiner Dienstzeit auf das knappste beholfen und sei doch immer wohlauf und guter Dinge gewesen. Dieses beschämte mich nicht wenig, denn ich hatte mein ganzes Gehalt immer für mich aufgebraucht, und wenn ich bedachte, daß ich der Mutter während meiner Lehrzeit noch manchen Extrataler gekostet hatte, während er schon im ersten Jahre in Verdienst gewesen war, so schien ich mir völlig im Nachteil gegen ihn. Aber von nun an wollte ich es nicht länger an mir fehlen lassen und mich als männliche Stütze der Mutter und Schwester erweisen. Ich fühlte lebhaft, daß meine Rückkehr nach Hamburg eine Epoche in meinem Leben bedeute, daß ich mit dem Abschied von meinem lieben thüringischen Städtchen zugleich auch Abschied von meiner Jugend genommen hatte.

*

Ich lief bald durch die ganze Stadt von einem Buchhändler zum anderen. Ich konnte aber keine Beschäftigung finden, nirgends war ein Platz vakant. Ich hörte, daß mein früherer Prinzipal gestorben und sein Geschäft in andere Hände übergegangen sei. Ich klopfte auch bei seinem Nachfolger vergebens an. Hier und da erlebte ich die Freude, daß man mich noch im Gedächtnis behalten hatte und als einen Bekannten begrüßte, dem man gern geholfen hätte. Man schrieb sich meine Adresse auf, aber überall waren die Aussichten schlecht.

Die Mutter, gewohnt von der Hoffnung zu leben, wollte indes immer noch nicht verzagen und tröstete mich in Erwartung zufälliger Umstände, die vielleicht einen Platz für mich freimachen könnten.

In der ersten Woche des Oktobers traf der Bruder ein. Wie sehr war er gewachsen, gereift und mir an äußerer Männlichkeit überlegen. Braun gebrannt bis auf die Spitze seiner großen Nase, mit hellen, freien Augen, den eigenartigen wiegenden Gang des Schiffsvolkes noch in den Beinen, so schien er mir wohl geeignet, sich gleich aufs neue wieder auf das Weltmeer hinaus zu begeben.

Mit der paradiesisch schönen Insel der Südsee sollte er seine rauhe, nordische Heimat vertauschen, ewigem Sommer ging er entgegen, Palmenwäldern, blauen Küsten und einem immer lachenden Himmel. Sollte ich ihn nicht beneiden? Schon die nächsten Tage würden ihn hinausführen in die goldene Weite, während ich in Enge und Dürftigkeit zurückblieb.

Die Mutter war tiefbewegt und überschüttete den Bruder mit tausend kleinen Zärtlichkeiten, und ich mußte mich darein finden, daß ich für die Zeit seiner Anwesenheit ein wenig beiseitestehen mußte.

Am Abend vor seiner Abreise saßen wir noch ein letztes Mal an unserem alten Klavier und spielten Haydnsche Symphonien. Er saß wie früher vor den Baßnoten. Es war, als hätten wir uns nie getrennt, so einig und innig ging es zusammen, und ich bewunderte seine großen Arbeitshände, die ihm noch so gut gehorchten.

Bei einem heiteren Finale aber bemerkte ich, wie ihm plötzlich ein paar Tränen über die braunen Wangen liefen. Er sah mich mit einer komischen Grimasse an, und wir lachten und sprangen auf.

»Zum Weinen lustig!« rief er. Aber es zuckte doch in seinem Gesicht.

Am anderen Tag brachten die Schwester und ich ihn ans Schiff. Die Mutter war in ihrem Gottvertrauen wunderbar gefaßt gewesen, wenn sie den Scheidenden auch immer und immer wieder mit tränenden Augen umarmt hatte, bis es ein letztes Mal sein mußte. Sie blieb in der offenen Tür stehen und sah uns die Treppe hinunter nach. Mich umwendend, sah ich, daß sie mit unendlicher Zärtlichkeit eine Bewegung machte, als wolle sie ihn zurückhalten; ahnte sie, daß sie ihn nicht wiedersehen würde?

Da wir ihn nicht an Bord des Schiffes begleiten durften, so eilten wir auf die Höhe des Stintfangs, um von dort noch einmal dem Scheidenden, Vorüberfahrenden einen letzten Gruß zuwehen zu können. Langsam glitt der große Dampfer aus dem Hafen. Am Heck stand eine schlanke, dunkle Gestalt, die zu uns heraufwinkte. Helle Sonne lag über dem breiten Strom, und weiße Möwen begleiteten das Schiff mit spielendem Fluge. Als wir zurückkehrten, fanden wir die Mutter am Fenster sitzen und in ihrem Gesangbuch lesen.

»Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt;
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuß gehen kann.«

Sie hatte in ihrer Frömmigkeit den rechten Trostspruch gefunden, der nicht nur für sie, sondern auch für ihren nun dem Wind und den Wellen preisgegebenen Seefahrer Geltung hatte. Sie war bewegt, aber gefaßt, nahm die letzten Grüße des Bruders mit einem dankbaren, wehmütigen Lächeln entgegen und schloß uns beide in ihre Arme. Dann zog sie mich zu sich aufs Sofa, hielt meine Hand und sagte: »Weißt du, was ich mir so im stillen ausgedacht habe, als ihr weg wart? Fahre nur nicht gleich auf und rede dagegen. Ich bin gewiß, der liebe Gott hat mir den Gedanken eingegeben, da er deinen Bruder nun von mir genommen hat.«

»Auf Zeit,« unterbrach ich sie, über diesen Ausdruck erschrocken.

»Ach, wer weiß, ob ich ihn wiedersehe,« sagte sie ruhig. »Da ich dich nun aber wieder habe, möchte ich dich nicht wieder fahren lassen.«

»Nun, was ist's denn, Mutter?« fragte ich.

Sie setzte mir etwas verlegen und stotternd ihren Plan auseinander, der darauf hinausging, ich solle ihre Musikstunden übernehmen und mir auf diese Weise eine Existenz an ihrer Seite gründen. Ja, sie hatte schon alles im kleinsten überlegt: die Eltern ihrer Schülerinnen würden gewiß mit Freuden einwilligen, ein männlicher Lehrer wäre doch etwas ganz anderes als wie eine alte Frau wie sie; ich könnte den Kindern doch ihre Stücke vorspielen, während ihre Finger steif und stumpf geworden wären.

»Unmöglich!« fuhr ich sogleich auf. »Wie könnte ich das!«

»Warum nicht, ich hab' es doch auch gekonnt!« meinte sie.

»Das ist etwas anderes,« sagte ich. »Sieh, von mir verlangt man mehr, muß man mehr verlangen, ich selbst muß das. Wie sollte ich das leisten können? Mein bißchen Spiel – nein, das schlagt euch nur aus dem Kopf, daraus kann nichts werden.«

»Ich wußte es ja, daß du aufbegehren würdest,« sagte die Mutter sanft und traurig. »Aber überlege es dir nur noch einmal. Ich will inzwischen bei den Eltern anfragen, ob sie damit einverstanden wären.« Ich wollte aber auch davon nichts wissen.

Ein Sonntagsmorgen jedoch brachte die Entscheidung. Die Mutter war mit der Schwester in die Kirche gegangen, und als ich nun allein in der sonnenhellen Wohnung war und ihren stillen Frieden recht mit Behagen genoß, überkam mich so eine heimatliche, zärtliche Empfindung, die mich durch alle Zimmer trieb, an jedem alten Möbel wieder Erinnerungen wachwerden und mich in verzeihlicher kindlicher Neugierde auch wohl in diese und jene Schublade hineingucken ließ. Zuletzt setzte ich mich auf den Fensterplatz der Mutter, wo auf ihrem Nähtisch das alte Predigtbuch lag, und fing an zu blättern. Da sah ich denn, daß sie nicht in gedankenloser Frömmigkeit las, sondern, ganz mit ihrem Buche vertraut, überall mit Zeichen und Randbemerkungen nicht gespart hatte. Hier stand ein »Wie wahr!«, dort las ich ein rührendes »Trost in einer schwachen Stunde«, auf einem anderen Blatte hatte sie vermerkt: »Am Geburtstag meines lieben verstorbenen Kindes«, und endlich fand ich gar am Rande einer Predigt die Worte: »Als mein Sohn in Hamburg in schlechte Hände gefallen war.«

Ich war verwundert, eine Blutwelle stieg mir in die Wangen. Aber ich mußte doch lächeln. Die kleine finnige Nelly. Ich las die Predigt, ohne eine Verbindung zwischen dem Text und dieser Randbemerkung finden zu können, es sei denn der eine Satz: »Durch alle Sünden können wir hindurchgehen und doch des Himmelreiches teilhaftig werden, so wir wahrhaft Buße tun.«

So hatte das Mutterherz um mich gebangt! Ich gedachte der Stunde, da ich vor meinem ersten Auszug in die Welt ihre Hand auf meinem Scheitel fühlte und ihre traurige, zärtliche Stimme hörte: »Bleibe ein guter Mensch!« Und ich führte das Buch, durch das eine fromme Frau und Mutter mit ihrem Gott verkehrte, leise an die Lippen. Dann ging ich an Klavier. Zwei Stunden lang spielte ich, alles um mich her vergessend.

Als die Mutter vom Kirchgang heimkehrte, fiel ich ihr um den Hals: »Mutter, ich bleibe! Du bist nun abgesetzt.« Das war ein Freudensonntag für die Mutter.


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