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XV. Hämatite

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»Diesen Spruch sollst du graben auf das Hämatit-Amulett, das um den Hals der Toten hängt: Stehe auf vom Nichtsein, du Niedergebrochener! Man wacht über deinem Haupt an strahlendem Himmel. Du wirst deine Feinde niederschlagen, du wirst triumphieren über alles, was gegen dich steht – wie Horus, der Rächer seines Vaters. So befahl Osiris, daß für dich geschehen solle. Du wirst die Köpfe deiner Feinde abschneiden; niemals werden sie deinen Kopf davontragen. Wahrlich: Osiris wird seiner Feinde Köpfe herunterschlagen – mögen sie nimmer seinen Kopf gewinnen!«

Das Buch der Toten, 166. Kapitel.

 

Sieben Fuß lang, breit und hoch war seine Zelle. Arbeit war da genug: Wanzen fangen, Läuse und Kakerlaken. Das war nur möglich am Tage – da brannte eine kleine Birne. Still war es dann in dem gewaltigen Zuchthaus.

Aber zur Nachtzeit hob es an. Manchmal, wenn er eingeschlafen war auf Minuten, rasch wieder aufwachte, halbwach, wirr, schlaftrunken, glaubte er im Urwald zu sein. Irgendwo da, am obern Pilcomayo, mitten im Gran Chaco. Lauschte den Stimmen ringsherum, weither und nah bei ihm – diesen Stimmen, die ein eigen Leben hatten, zu Wesen wurden, losgelöst von Leibern, Kehlen und Zungen. Röhren des Tapirs – oder war es ein Ochsenfrosch? Brechen und Schieben von Landkrabben – nein, nein, ein Jaguar war das –

Dann, allmählich, fand er die Töne. Schnarchen, Seufzen, Singen und Lachen im Schlafe. Röcheln und Husten der Schwindsüchtigen. Und, von unten her, die zerfetzten Schreie derer, die man peitschte und schlug. Widerspenstige, arme Irrsinnige, solche auch, von denen man ein Geständnis erpressen wollte.

Allnächtlich.

Die Decken, die man ihm gab, waren besät mit Ungeziefer. Unsäglich schmutzig, dick verklebt mit Eiter aus eklen Geschwüren früherer Insassen. Nebenan hauste ein Nigger, wegen Mordes zum elektrischen Stuhle verurteilt. Der lehrte ihm, wie man sich mit Zeitungspapier zudecken könnte – das wärmte ein wenig.

– Stunden erst, dann Tage. Wochen. Und Monate.

Keine Verbindung mit der Außenwelt. Keine mit den andern hier im Zuchthause. Nichts. Die Zelle nur – und er darin. Von dem Kerl, der ihm das Fressen hereinschob, erfuhr er, daß noch andere Deutsche da waren. Eingesperrt wie er, in mächtigen, fensterlosen Steinmauern, hinter schweren Eisengittern, zwischen Einbrechern, Zuhältern, Mördern.

Einmal, mitten in der Nacht, hallten schwere Tritte; ein ganzer Trupp kam da an. Und eine helle Schwabenstimme rief, auf deutsch: »Giebt'sch hier auch Wanschen?«

Da scholl es lachend zurück, aus allen Ecken der riesigen Halle: »Ja! – Ja! – Soviel Sie nur haben wollen!«

* * *

Einen Bleistift hatte er, so ein zollanges Stümpchen. Er riß die Ränder von allen Zeitungen ab, machte die Fetzen hübsch gleich, legte sie aufeinander; wie ein Heft wurde es. Das sollte der Schluß seines Tagebuches werden. Die ersten Seiten ließ er frei – von dem Augenblick an, wo er umsank, vornüber fiel über die Tischplatte, bis zu dem andern, wo er sich wiederfand, mitten im Zimmer stehend, wachgeschrieen von der grausamen Weckuhr. Eine nur konnte diese Lücke ausfüllen: Lotte.

Dann schrieb er. Wie seine Zunge das süße Blut schmeckte, wie er vor dem Spiegel stand, blutüberdeckt. Wie er in Lottes Zimmer lief, wie er sie fand –

Er hielt sie in seinen Armen, betete ihren Namen. Doch daraus wurde – und er wußte nicht wie – ein anderes Wort: Maria.

›Seltsam,‹ dachte er, ›warum nannte er sie damals: Maria?‹

Maria – so hieß das Mädchen aus Wien. Die an ihn glaubte, die ihm die Brautlieder sang, als er Abschied nahm. Die nicht leben mochte ohne ihn – die den kleinen Revolver nahm, als sein Brief kam –

Sein Narrenbrief.

Und Maria hieß seine Mutter. ›Mutter Maria‹ nannte sie sein Knabenmund – und nie anders.

›Maria‹, betete er, als er kniete an Lottes Bett, ›Mutter Maria‹.

Dann wieder war es die andere – die, die sieben Schwerter trug in flammendem Herzen. Deren Brust rot blutete: Maria, Muttergottes, allerseligste Jungfrau! Ihren Namen stammelte er: Maria.

Betete leise:

»Eia Mater, fons amoris,
Me sentire vim doloris
Fac, ut – –«

– Jetzt hörte sie ihn, schlug die Augen auf.

Ganz leicht berührte ihr Finger seine Hand Und ihre Lippen bewegten sich.

Er schob seinen Kopf heran, las ihr die Flüsterlaute vom Munde. »Gib den Kasten weg,« sagte sie.

Er gehorchte. Warf die Scheren und Messerchen hinein, schloß das Bistouri in den Schrank. Kam zurück zum Bett.

Wieder flüsterte sie: »Wasch dich! Nimm ein reines Hemd.«

»Lotte,« flehte er, »Lotte! Du – du –«

Aber sie bestand: »Tus!«

Er tat, wie sie befahl. Zog sich aus, wusch sich, nahm Hemd und Kragen. Gab die blutigen Sachen in den Wäschekorb.

Sie folgte ihm mit den Augen, lächelte still.

Hauchte: »So ists gut. Nun ruf den Arzt an – Dr. Cohn.«

Er nahm das Hörrohr, schellte ihn an. Er möge kommen, gleich, zu Frau van Neß. – Nein, nicht in einer Stunde erst – Sofort, jetzt, jetzt gleich!

Was es denn wäre? Er zögerte –

»Blutsturz!« flüsterte sie.

»Blutsturz!« rief er ins Telephon.

Ob es –? Ja, es sei beängstigend, ja – sehr gefährlich! – Ob sie viel Blut verloren habe?

– Ja, sehr viel – entsetzlich viel! – Was, er sei noch im Bett? – Er werde sofort kommen, in dreißig Minuten sei er da! Und inzwischen solle man der Kranken zu trinken geben. – – Was denn? – Alles: Milch, Tee, Sekt, Mineralwasser, starken Kaffee, was da sei! – Alles! Soviel wie nur möglich! Trinken müsse sie – trinken!

Er hing das Hörrohr ein. Er sprang auf – aber ihr Blick hielt ihn. Zeigte auf ein blutiges Messerchen, das da noch lag neben dem Kopfkissen. »Such!« flüsterte sie. Er suchte in den blutigen Linnen – noch ein zweites fand er.

»Die Borsalbe!« sagte sie. »Dort!«

Auf dem Nachttischchen stand die Dose. Er nahm sie, öffnete den Deckel.

»Tu dus, Liebster,« flüsterte sie. »Niemand soll meine Brust sehn außer dir!«

Er schlug ihr Hemd zurück. Er wusch ihre Wunden mit Kölnisch Wasser, sieben zählte er, sieben.

Kleine Wunden – tief, tief. Rote Streifen – und ein Blutströpfchen an jedem.

Wie der Blutsstreifen, den er so oft im Traum sah. Auf der Goyita Brust, wenn sie die Rumba tanzte –

Seine Finger zitterten. Er wusch ihre Wunden – das schmerzte. Sie zuckte, zuckte.

Und er küßte sie, zart, weich – mit bebenden Lippen. Da lächelte sie.

»Bist du gesund?« flüsterte sie.

Er schrak auf – starrte sie an.

Aber sie lächelte. Hauchte: »Soviel Milch trankst du, mein lieber Junge! Soviel rote Milch!« Zärtlich, so zärtlich streichelte ihn ihr Blick.

›Mutter,‹ dachte er, ›liebe Mutter Maria.‹

Er gab die Salbe auf ihre roten Wunden, verteilte sie mit bebendem Finger. Schloß ihr blutiges Hemd, dicht am Halse.

Dann erst ließ sie ihn gehn. Er rannte hinaus, schrie nach der Zofe. Ließ Tee machen, Sekt heraufholen, griff nach dem Rhenser Wasser.

Saß wieder bei ihr – führte ihr das Glas an die Lippen.

»Trink, trink!«

– Dann kam Dr. Cohn. Aber ehe sie sich noch an den Arzt wandte, flüsterte sie: »Nun geh, mein Freund. Du wirst deinen Zug noch erreichen. Geh!«

»Ich bleibe!« rief er.

Aber sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, du mußt gehn. Ich will es. Denk an mich!«

Ganz leicht streichelten ihre Hände sein Haar, küßten ihre Lippen seine Augen. »Leb wohl,« hauchte sie, »leb wohl, lieber Junge. Ich – danke dir!«

›Ich danke dir!‹ sagte sie. Er hörte es gut: ›Ich danke dir.‹

Sie, sie ihm!

Er stand auf; er ging. Rückwärts zur Türe – sah einmal noch ihr süßes Lächeln.

Kam zur Straße. Kam zum Bahnhof.

Da griffen sie ihn. Legten ihm Handschellen an, brachten ihn ins Zuchthaus.

Ihn, den deutschen Agenten. Den sehr gefährlichen. Der es gewagt hatte, gegen England zu arbeiten in diesem Lande.

Was lag ihm dran? Und wenn sie alle Deutschen im Lande einsperrten – was lag ihm dran? – Nur sie nicht, sie nicht – Lotte!

* * *

Er legte die Fetzen zusammen. Sie mochte sie haben, sie – die ihn heilte.

Sie wußte wohl, was es war, all die Zeit über. Und schwieg, sagte nichts – da sie gut fühlte, daß ein Wort alles zerschlagen würde. Er – er durfte nicht wissen, was er tat. Denn, wenn ers wußte – so würde ers nicht mehr tun.

Und nur, daß ers tat: das hielt ihn, das allein. Nur das konnte ihn heilen am Ende.

So schwieg sie, schwieg.

Darum hing die kleine Kristallkugel an goldenem Kettchen um ihren Hals: der Flügelgreif sollte ihr Milch geben – rote Milch für ihr Kind. Darum trug sie den Ring mit dem Pelikan: ihre Brust riß sie auf, ihr Junges zu füttern. Spielereien, Launen einer bizarren Frau – aber einer Frau, die nichts andres dachte, als ihn und sein Glück.

Darum hatte sie die Scheren und Messerchen – daß er besser schneiden könne und tiefer in ihr Fleisch. Daß der Quell reicher fließe – der ihm Leben war –

Darum nahm sie den Schlaftrunk – um still zu liegen: sein jämmerlich blutendes Opfer. Um ihn nicht zu wecken durch einen Schrei ihrer Schmerzen, wenn er besessen war von der Gier nach Blut.

Aber später, später brauchte sie keinen Schlaftrunk mehr.

Ließ ihn stechen und schneiden und saugen und trinken. Ließ sich zerfetzen – lächelte dazu.

War die Priesterin, legte die Opfermesser zurecht. Schmückte auch das Opfer für ihn: sich selbst.

Und darauf allein war sie eifersüchtig, das allein gönnte sie keiner anderen Frau. Darum gab sie ihm das Messerchen mit auf die Mexikofahrt.

Das blieb blank, sehr blank. Und zeigte nur einmal blutige Flecken – nach den Mescalstunden mit der Goyita. Nun begriff er gut, was geschehn war.

Verstand die Ohrfeigen, die er bekam in der Christnacht. Ivys Brief und den höhnischen Haß der Diva. Und die entsetzte Flucht der Tänzerin.

Die spieen ihn an, für das, was er getan –

Aber Lotte Lewi küßte ihn! Immer von neuem, immer wieder. Für ihn reiste sie ins Bad, für ihn schluckte sie alles, was Blut gab. Damit seine gierigen Lippen sich rot färben, satt trinken mochten an ihrem Herzblut.

– So blind war er all die Zeit über. Sah nichts, nichts. Dachte, daß sie die blutdürstige Göttin sei, sie die Zauberin, die ihn vergiftete. Sie die Spinne – sie das ekle Tier!

Was sagte sie doch, als er zu ihr fuhr in jener Nacht vom Terracegarten? Er hörte wieder das Cellosingen ihrer Stimme: ›Das Höchste, was ein Weib tun kann für den Mann, den sie liebt, eine Mutter für ihr einziges Kind, ein Heiland für die leidende Menschheit – das, das lehrtest du mich tun: das Herrlichste, das Ewiggöttliche!‹

Göttlich nannte sie es, herrlich! – Sagte, daß er sie es lehrte – er! Dankte ihm noch: das war ihr letztes Wort, als er ging.

Sie – ihm!

So faßte sie es – Lotte Lewi.

* * *

»South 2. 19!« schrie es. Das war seine Nummer.

Sie traten im Hofe an, achtzehn Deutsche. Man kettete sie aneinander, je zwei und zwei; so zogen sie durch die Straßen, rings von Soldaten bewacht. Von ihrem Kerker in Brooklyn hinüber nach Manhattan. Über die Brücke, hübsch langsam, daß das Publikum sie recht angaffen mochte. Überall blieben sie stehn, halbestundenlang; warteten – keiner wußte, auf was.

»Hurensöhne«, spien die Leute, »elende Spione, deutsche Hunde!«

Fahnen, Fahnen! Neue waren hinzugekommen, deren Völker auf einen Wink Washingtons hin Deutschland den Krieg erklärten. Für Recht und Freiheit gegen Barbarentum – und daneben, um ungestraft deutsches Eigentum zu stehlen. China, Siam, südamerikanische, westindische, mittelamerikanische Affenrepubliken. Ihre Fahnen wehten so stolz gebläht wie alle andern.

Riesige Plakate an allen Häusern: »Kauft Freiheitsanleihe!« Pickelhaubige Landwehrmänner, die nackte Säuglinge auf ihre Bajonette spießten, edle amerikanische Rotekreuzschwestern, die mitten im Kugelregen ihre Verwundeten pflegten. Deutsche Offiziere, die lebend schwangere Frauen ans Kreuz nagelten; ein Chormädel von Broadway als Jungfrau von Orléans; ein englischer Sankt Georg, der den giftigen deutschen Lindwurm durchbohrte.

Über Park-Row zogen ein paar tausend Khakisoldaten, Plattfüßig manche und krummbeinig, schlanzend und watschelnd oft, aber doch in Tritt und Haltung mit gewisser Begeisterung. Das Sternenbanner wehte vor ihnen her und – eine andere Flagge. Blau und weiß gestreift, ein blauer Stern in der Mitte: der Mogen Dovids! Juden der Ostseite folgten dem Tuche, jüdische Legionäre, die nach Palästina sich einschifften. Sie zogen aus, den Deutschen zu bekämpfen, zogen aus, dem Engländer eine neue Provinz zu erobern.

Frank Braun lachte auf. ›Wo ist Lottes Fahne?‹ dachte er. ›Wo ist das Banner Levis?‹

Er wurde herumgerissen am Handgelenk, sein Fesselgenosse machte eine scharfe Bewegung zur Seite, wandte sich um.

»Was ist?« fragte Frank Braun.

»Ein altes Weib hat mir was in die Hand gedrückt,« antwortete der andere. »Einen Zettel,« Er nahm den Papierfetzen auf, las: »Es geht besser!«

Frank Braun warf einen Blick darauf. Er erkannte Dr. Cohns dünne Schrift. »Geben Sie her,« rief er, »das ist für mich.«

Sie zogen weiter. »Es geht besser,« murmelte er, »es geht ihr besser.«

* * *

Man brachte sie in ein anderes Gefängnis; ein paar Wochen später hinüber nach Neu Jersey in ein drittes. Hier hausten sie zu vierzig Deutschen, unten im Kohlenkeller. Auf eine Stunde jeden Tag führte man sie auf den schmalen Gefängnishof, frische Luft zu schnappen.

Von hier konnte er einige Male schreiben; bekam auch Nachricht von ihrem Arzte. Immer dieselbe: ›Es geht besser.‹

Aber nie: ›Es geht gut.‹ Nie – durch alle die langen Monde nicht.

* * *

Dann – und wieder durch lange Monde – im Gefangenenlager unten im Süden.

Dieselben Gesichter, dieselben Tage und Nächte. Wie ein Schlafwandler lief er durch diese Zeit.

Sie dachten alle, daß er wohl ein wenig verrückt wäre. Übergeschnappt, wie so manche andern. Das machte nichts aus, keiner stieß sich dran – man war es gewohnt im Lager.

Aber es war nur so, daß er nichts fühlte, nichts sah, nichts dachte –

Nur das eine: Lotte.

Dann, ganz plötzlich, brach es los. Ohne Übergang. Er stand am Stachelzaun, starrte hinaus. Ein Sergeant ging vorbei, den rief er an.

»Wollen Sie hundert Dollar machen?«

Der Amerikaner horchte auf. – Ach, es sei ganz leicht! Er solle ihn nur hinausschmuggeln, für eine Nacht mit zur Stadt nehmen. Und er hielt ihm den Schein unter die Nase.

Zu dreien holten sie ihn ab in der Dämmerung. Steckten recht auffällig ihre Revolver in den Gürtel. Und der Sergeant sagte: »Die sind alle beide abstinent!«

Frank Braun lachte. Nein, er wolle sie nicht trunken machen, wolle nicht ausreißen. Nur wieder einmal gewiß sein, daß er noch ein Mensch sei.

Sie fuhren zur Stadt. – Das, was man so Ausschweifung nannte in der knochentrockenen Provinz. Eine Kneipe zunächst, da gab es »starken Tee«: Bayrum, Witch-Hazel, Westphals Haarwuchsmittel nach Auswahl. In Tassen serviert, aber aus Originalflaschen, über siebzig Prozent Alkohol. Der Sergeant goß das Zeug in einem Zug herunter. Aber Frank Braun nippte nur, es schmeckte scheußlich.

»Nirgend was Besseres?« fragte er.

»Kommen Sie nur!« lachte der Sergeant.

Sie zogen durch Apotheken, durch Spielklubs und Hurenhäuser – da gab es Mondscheinwhisky. Schwarze und weiße Weiber gab es da, und man konnte Poker spielen, Faro und Roulette.

Da tobte er durch die Nacht. Zerriß seine Kette, lumpte durch wie ein Seemann nach langer Segelfahrt. Es war ein Schrei nach Freiheit, aus diesem Zwang heraus, der seine Tage mit der Elle teilte.

Das war es. Aber ein anderes auch – und das mehr noch: gesund war er und stark, und wollte diese Stärke fühlen. Ein Instinkt riß ihn, rein animalisch genoß er.

»Wie ein Tier,« dachte er, »gottseidank!«

Und er würfelte, kartete, trank, griff nach den Weibern.

Da saßen sie, drei Kerls in Khaki und er, zwischen zehn halbnackten Frauen. Eine saß am Flügel, klimperte, drei grölten das Hoola-Hoola-Lied. Über ihn lehnte eine Oktronin, flüsterte: »Komm mit!«

Er achtete sie nicht. Schlug den Lederbecher auf den Tisch: »Drei Assen!«

Die Oktronin beugte sich tief hinab, füllte sein Glas, drängte: »Kommst du?«

Er sah sie an. Sie war weiß und jung und sehr schön. Ihre nackte Brüste leuchteten.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein,« sagte er.

* * *

Zwei Briefe im Monat gestattete der Zensor: die schrieb er der Mutter. Aber jeden Tag schrieb er nach Neuyork – das besorgten für gutes Geld die Soldaten. Wenige Zeilen – und nur einmal wurde es mehr. Irgendein Rhythmus lebte in ihm, so schrieb er Verse.

Schrieb:

»Und es geschah – ah, zweimal wohl und mehr
und noch einmal – seit jener schwülen Nacht
und jener Stunde, die die Wiederkehr
nie kennt – daß mich ein Schluchzen griff.
– Die Blonde, denk ich, hat dazu gelacht,
geweint vielleicht, da sie es nicht begriff –
Aus ihrem Schrei, aus ihrer Wollust Schrei,
klang deine Stimme, Lotte, rief dein Leib
und rief nach mir. Und du warst mir gepaart
und schriest: ›Ich – bin – dein – Weib!‹
– O du, ich war dir treu,
Lotte – auf meine Art.

»Und es geschah – so manches liebe Mal –
– Die Flaschen spieen und die Dirnen schrien,
der Saufkumpan stach mir – verdammt noch mal! –
mein schönes Aß mit seiner blanken Zehn –
Doch plötzlich ists, als ob die Dünste fliehn
in einem Duft von Jicky und Verveine,
in deinem Duft – und still ist das Geschrei.
Und einsam bin ich, Lotte, bin allein
und nur bei dir. Und fahre deine Fahrt
und trink dein Blut und schlürfe deinen Wein –
– O du, ich war dir treu,
Lotte – auf meine Art.

»Und es geschah – das war im frühen März –
Wach war ich kaum und staunte in die Welt;
in reifer Rotmund küßt' mein junges Herz
und eine kluge Weißhand führt' die Hand
den alten Weg, der immer neu gefällt –
O Lotte, lange eh ich dich gekannt!
Doch weiß ich, daß ich still und knabenscheu
zum Tempel trat und wie im Vorsaal ging,
und daß ein Sehnen aus dem Taumel ward:
zu dir mein Sehnen kniete am Altar –
O du, von Anbeginn war ich dir treu,
Lotte – auf meine Art.«

Und er schrieb ihren Namen darüber.

* * *

Einmal nur, in all der Zeit, eine Zeile von ihr. Telegramme oft, auch Briefe von ihrem Arzte. ›Es geht besser‹ hieß es, und wieder: ›Es geht besser!‹

* * *

Die Glocken läuteten, fern von der Stadt her. Und Kanonen brüllten und alle Dampfpfeifen bellten von allen Fabriken ringsum. Früh um vier Uhr begann es, raste durch den ganzen Tag: Waffenstillstand – sie betteln um Frieden, die Deutschen!

Wie gepeitschte Hunde krochen die Gefangenen durch den Sumpf ihres Lagers. Sprachen nicht, wagten sich nicht in die Augen zu sehn.

Schämten sich, einer vor dem andern –

* * *

Monate noch, Monate. Dann plötzlich ein Telegramm Lottes, daß er nun frei sei. Der Oberst ließ ihn kommen; auch er hatte Nachricht von Washington.

»Sie müssen ›Pull‹ haben!« rief er. »Wer ist es?«

Er antwortete ihm nicht.

Aber es dauerte noch Tage. Und jeden Tag telegraphierte er: ›Morgen‹ – und er zählte die Stunden, strich eine aus um die andere.

Im Fieber lief er herum.

* * *

Er saß im Pullmanwagen. Kaufte Zeitungen an jedem Bahnhof, las sie. Lief hin durch den Zug und zurück, setzte sich nieder und stand gleich wieder auf. Ungeduldig, unruhig –

Nahm ein Buch, begann zu lesen. Klappte es wieder zu.

Eine Zigarette und wieder eine.

Dann fand er den Rhythmus der Maschine. Lehnte sich zurück in seinen Sessel, summte ihn mit, schloß die Augen.

Schlief nicht ein; träumte nur so im Halbwachen.

Von dem Mann, der die schwarzen Mäuse spuckte. Von dem Dicken, der soviel Wasser trank – mehr, mehr! Von den Igeln, die die Eier der Kröten fraßen, von dem toten Chinesen, der um das Fieberschiff schwamm. Von dem kleinen Blutstreifen auf der Rumbabrust der Goyita – ah, und von den Wunden, den tiefen Schnitten auf Lottes süßen Brüsten.

– Wieder hatten sie ihn in den Tombs, wieder einmal. Neue Verbrechen – so viele neue. Und das schlimmste: dieser Lustmord an Frau van Neß.

Amerikanische Bürgerin war sie –

Er würde nicht leugnen – mochten sie ihn umbringen, wie sie nur wollten. Nur sehn wollte er sie, einmal noch sehn!

* * *

Er stieg die Stufen hinauf zu ihrem Hause. Der große Butler öffnete ihm – der, der früher bei Jefferson war. Er sah ihren Chauffeur und ein paar Diener und Mädchen, die vorn in der Diele Blattpflanzen umrückten. Er grüßte sie alle, aber sprach kein Wort, fragte nicht, wie es gehe. Er fürchtete sich –

Lottes Zofe führte ihn hinauf zur Bibliothek, hieß ihn dort warten. Nun zählte er die Minuten.

Endlich öffnete sich die Türe. Eine Krankenschwester kam herein, weißes Kleid, weiße Schürze und Haube. Er möge kommen, Frau van Neß erwarte ihn.

Er folgte ihr schweigend zum Schlafzimmer. Vor der Türe hielt sie ihn fest: nicht zu lange möge er drin bleiben, lasse der Arzt bitten, eine Viertelstunde, nicht mehr –

Dann trat er ein, dann war er an ihrem Bett, grub den Kopf in die Kissen.

»Da bist du wieder,« sagte sie. »Lieber Junge!«

Geschmückt hatte sie sich für ihn, er sah es wohl. Hoch frisiert war ihr Haar, reich und rot. Nilgrün war ihr Spitzenhemd, Smaragde strahlten von ihren Fingern. Aber schmal waren die, so schmal –

Ein wenig Rot auf den Lippen. Und Puder. Rouge-Brunette. Sie saß halb aufrecht, den Rücken gestützt in die Kissen. Nach Jicky duftete sie.

Die gelben Vorhänge zugezogen. Ein mattes weißes Licht, dämmerig. Wie ein Wachsbild sah sie aus, zum Leben erwacht gegen alle Natur.

Das war sie einmal, dachte er, das war sie – Lotte. Nun ist es ihr Wille noch, ihr Wille zum Dasein, der die Form hält. Dieser starke Wille, den ihre Liebe gebar – ihre Liebe zu mir. Für mich lebt sie, fühlte er, nur für mich.

»Für mich!« flüsterte er.

Sie nickte. »Ja, für dich tat ich, was ich tat. – Und für Deutschland auch.« Und sie wiederholte: »Nun bist du zurück, du Lieber.« Sie streichelte seine Wangen, fuhr leicht durch seine Haare. »Wie fühlst du dich, ist es wahr, daß du frisch bist und gesund?«

»Ja,« antwortete er, »ganz gesund.«

»Wie froh bin ich!« sagte sie. »Ich wußte es, du, ich fühlte es – in dieser letzten Nacht! Da trankst du dich gesund!«

»Lotte,« stöhnte er, »Lotte –«

»Schweig, schweig!« sagte sie. »Sag nichts. Froh bin ich, glücklich – in dir fließt mein Blut, das macht dich stark und jung. Laß dich küssen, komm!«

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, küßte ihn leicht, beide Augen und Wangen und den Mund. Griff seine Rechte, hielt sie fest.

Sah ihn lange an, begann dann wieder. »Du siehst anders aus als früher.«

Er fragte: »Wie anders?«

»Deutscher!« antwortete sie. »Soviel deutscher.«

Sie wiederholte. »Deutscher! Du gingst den Weg, den ich dich führte – den Weg zur Heimat. Gingst ihn – mit mir – für mich. Deutsch wurdest du: mein Blut fließt in dir.«

Und wieder küßte sie ihn.

»Ich weiß, was es war,« fuhr sie fort. »Ich hab mirs durchgedacht in den langen Monden, die ich hier lag. Still und allein – träumend von dir. Du, du tatest nur – was die Welt tat.«

Kosend streichelte ihn ihr zärtlicher Blick. »Ein wilder Wahnsinn aller Massen – wie er hundertmal da war in der Zeiten Lauf. Professor von Kachele soll mirs untersuchen, sowie er fertig ist mit seinem Buch: der wird die Zusammenhänge finden durch die Geschichte und sie hübsch ausbürsten und klarstellen. Dann wirst du sehn, daß ich recht habe. Ein heißer Glaube taucht auf – oder auch ein wilder Wahn – bald kennt man den Ursprung und bald nicht. Und wenn er Glück hat, findet er guten Boden und sät den Sturm, der üppig aufgellt und die Welt durchbraust. So ward das Christentum, so der Buddhismais und Mahomets Reich. So ward der Wahn der Hexen, die beim rasenden Sabbath zum Satan tanzten, und wieder der heiße Glaube der Inquisitoren, die aus den Hexenleibern die Seelen herausbrannten, um sie dem Himmel zu retten. Von den Kreuzfahrern, den Albigensern und Flagellanten bis hin zu unserer Zeit. Es geht vorbei – wie der Tangotaumel, wie der Synkopenwahn dieser Stadt – das ist dasselbe am Ende: klein und lächerlich, wie das andere groß und gewaltig ist. Einmal wird auch der wilde Wahnsinn schweigen, der heute die Welt durchrast.«

»Welcher Wahn?« fragte er.

Sie sagte: »Der Blutwahn ist es. Irgendwo fings an, in einem Lande oder in mehreren zugleich. Sehr ansteckend ist es, reißt mit, was mit ihm in Berührung kommt. Blut wollen die Menschen, Blut. Wie du!«

»Nein, nein!« rief er. »Lotte, nein! Ich wollte nichts, ich wußte nichts von alledem. Bis zu der letzten Nacht, wo ich aufwachte. Nichts wußte ich, nichts!«

Sie lächelte. »Ich weiß es, lieber Junge. Aber glaubst du, daß die Millionen da drüben mehr wissen? Unbewußt ist ihnen ihr wilder Wahn, ihr Durst nach Blut – wie er dir war.«

»Keiner will Blut trinken, Lotte, keiner,« sagte er.

Sie erwiderte: »Weißt du das so genau? Bist du so sicher, daß es keiner tat? Daß es keiner – wollte, nicht einmal wollte, ohne es selbst zu wissen? Wenn ein Sturm weht, so fliegen nur wenig Blätter, ganz wenige, hoch in die Wolken hinauf. Wieviel Christen drängten sich dazu, Märtyrer zu werden? Kaum einer auf hunderttausend. Die andern liefen so mit.«

Er küßte ihre beiden Hände. »Du bist der Märtyrer, Lotte – du. Ich – war das Tier in der Arena!«

»Ich auch,« nickte sie, »ich auch! So gut wie du – und wie alle. Meinst du, ich habe nicht auch von Blut geträumt? Von Meeren von Blut, unsere Feinde zu ertränken? Und wenn ich hinauswuchs darüber – so dank ichs nur dir. Alle Blätter faßte der Sturm, aber mich trug er empor bis in die Wolken und darüber hinaus – hoch in die Sterne hinauf.«

Eine Locke fiel ihr in die Stirne; sie strich sie zurück. Und ihre Augen leuchteten, wie die Smaragde auf ihrer Hand. »Frag hundert, frag tausend und Millionen – und keiner wird dir sagen können, wie es kam. Sie wissen es nicht – wissen nur, daß es so kommen mußte und nicht anders. Aber sie sehen rot – alle, alle! Wie ich es tat – wie du. Rot ist die Zeit, rot von Blut: und stärker nur, wilder offenbarte sie sich in dir. Tierischer – göttlicher – wie du willst. Fieberkrank war die Menschheit – und Blut muß sie trinken, um gesund zu werden und jung. Und sie trinkt, trinkt jeden Tag und jede Stunde. Wann, wann wird es ein Ende nehmen?«

»Es ist zu Ende!« sagte Frank Braun.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein! Nein! Heute nicht und nicht übers Jahr. Und nicht durch manche Jahre!«

»Zu Boden liegen wir,« sagte er. » Deutschland ist nicht mehr

Da glänzten ihre Augen. » Es wird aufstehn vom Nichtsein, das Niedergebrochene!« flüsterte sie. » Man wacht über seinem Haupte am strahlenden Himmel. Es wird seine Feinde niederschlagen, wird triumphieren über alles, was gegen es steht – wie Horus, der Rächer seines Vaters.«

Sie unterbrach sich, streckte den Kopf vor, nach der Türe hin, die sich leise öffnete.

»Ja, ja,« rief sie der Schwester zu, »ich weiß: es ist Zeit. Du mußt nun gehn, Liebster – auf morgen denn.« So zärtlich koste ihn ihre Hand. »Du bist gesund – ich sehe es, ich fühle es. Du – du trankst dich gesund – wann wird der Menschheit Durst gestillt sein? Wann?« Sie sank zurück, müde klang das Cello ihrer Stimme. »Dienstag ist heute – wie habe ich mich gefreut auf diesen Dienstag! – Aber weißt du – der Tag ist nun alle Tage: Dienstag, Tirsdag, Tuesday – Mardi, Martes, Martedi! Der Tag des Mars und des Tiu, des Schwertgottes! – Alle Tage nun – heute und morgen und immer: Schwerttag, Kriegstag, Bluttag.«

Sie schloß die Augen. »Leb wohl, du!« flüsterte sie. »Auf morgen!«

Wie ein Wachsbild lag sie da, seltsam lebend, wider alle Natur.

Noch atmete sie – – –

* * *

(Geschrieben in den Jahren 1915 – 1916 in Neuyork – Granada, Málaga – Neuyork, Philadelphia – Cádiz, Rota, Sevilla – und wieder Neuyork. Kleinere Einfügungen in den beiden letzten Kapiteln: Gibraltar, Juni 1920.)


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