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XIV. Obsidiane

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»Ein Mittel gibt es, und eines nur, das jedes Geheimnis dir erschließt. Zerstoße Opsian, gib hinzu Myrrhen, flockiges Talkum und die Harztränen der Pinie. Misch es und trink es in rotem Wein: da siehst du den Grund aller Dinge.«

Lithica des Orpheus.
(IV. Jahrh. A. D.)

 

In diesen Zeiten schrieb er eine Art Tagebuch. Er schloß es sorgfältig ein, nahm es nur heraus, wenn er allein war und ganz sicher vor jeder Störung. Machte dann seine Eintragungen.

Mit einer Geschichte seines Leidens begann er. Er durchstöberte sein Gedächtnis, immer von neuem, grub und schürfte, trug alles zusammen, was damit in Verbindung zu sein schien. Schrieb es auf, wahllos zunächst, ordnete dann, suchte die Zusammenhänge.

In Europa hatte es begonnen, manche Monate, ehe er abfuhr. Eine Unruhe und Ungeduld, ein Gereiztsein aller Nerven. Ein Sehnen nach irgend etwas –

Etwas, das in ihm lag, seit –

Nein, er wußte nicht, seit wann.

Wohl erinnerte er sich einer Zeit, wo es nicht da war. Wo er das genoß, was die Stunde brachte. Stark und einfach, selbstverständlich, tierisch. Prachtvoll tierisch, dachte er.

Langsam wuchs es. Sehr langsam und ganz allmählich. Nahm Besitz von ihm, ließ ihn nicht mehr los. Machte ihn unstet und ungeduldig, trieb ihn fort am Ende.

Und wurde still, ruhig, kapselte sich ein – sowie er draußen war eine Zeitlang.

Wenn er die Gluten der Tropen trank, wenn er irrte in versunkenen Städten, die der Urwald fraß, wenn er die Einsamkeiten der Wüste atmete und seine Sehnsucht sich badete in den Unendlichkeiten aller Meere – das hielt ihn gut, das gab ihm neue Kraft für neue Jahre in der Heimat.

Einmal hatte ers so gemacht, zweimal und mehr: gesund kam er heim, stahlhart.

Wenn ers überdachte – nein, eine Krankheit war das nicht. War – im schlimmsten Falle – eine Anlage nur, ein Nährboden, auf dem ein Giftiges wuchern mochte.

Auch diesmal half das alte Mittel.

Denn gesund – oder doch fast gesund – war er schon an dem Tage in Antofagasta. Kaum ein Kleines noch war noch zurückgeblieben – irgendein Leichtes, Seltsames, Weiches und Verwildertes. An dem Tage, als er den Seelöwen zusah, die die Heringsschwärme hetzten, hineinjagten in die Silberwellen im Hafen von Antofagasta. An dem Tage, als das erste Wetterleuchten zuckte am Himmel der Heimat, als der Schrei rings um die Welt jagte, durch die Drähte in Meeren und Landen, durch die Lüfte in funkenden Wellen: der wilde Schrei von Sarajewos Mordtat –

Dann das Fieberschiff und das gelbe Sterben. Das Schneckenkriechen hinauf an der Westküste – die rasche Fahrt quer durch die Staaten. Und der Krieg, der Krieg –

Kein Symptom fand er aus dieser Zeit. Wenn er wirklich schon krank war, damals schon – wenn schon die Giftkeime eines Leidens in ihm steckten – so traten sie doch nicht in Erscheinung. Oder aber: er sah sie nicht – war blind und taub – achtete nur auf die Blitze, die dicht um ihn zuckten – und überall rings in der Welt.

Erst in Neuyork spürte er, daß er krank war, in den Wochen erst, als er sie wiederfand: Lotte Lewi.

Und das war gewiß: mit dieser Frage hing sein Leiden zusammen. Auch mit andern – vielleicht! Aber ganz sicher mit ihr.

Welches Leiden denn? Er trug alle Einzelheiten zusammen, verglich sie; schrieb nieder, was jeder einzelne gesagt hatte von all den Ärzten, die ihn untersuchten. Zum Verwechseln ähnlich ihre Diagnosen: er sei völlig gesund, Herz, Lungen, Nieren – alles. Eine Apathie nur, ein kleines Nervenleiden. Psychischer Ursache vermutlich – der Krieg! Nur der eine, Dr. Samuel Cohn, hatte wenigstens den Versuch gemacht, tiefer zu schürfen. Hatte von der Möglichkeit gesprochen, daß vielleicht ein schleichendes Tropenleiden –

Aber Vermutungen nur, vag und phantastisch, auf nichts gestützt. Er schrieb sie nieder, dennoch, Wort um Wort. Las sie durch, wog sie und wägte sie – konnte nichts damit anfangen am Ende.

So war das Bild seines Zustandes, das sich gleich blieb durch diese Jahre in allen großen Zügen:

Eine Müdigkeit zunächst. Aber eine, die nicht gewöhnlich war, die nicht verlangte nach Schlaf. Ja, oft war es grade umgekehrt: eben wenn er geschlafen hatte, lange, tief und fest – nachts oder auch tagsüber – grade dann fühlte er sich so müde und matt. Sein Schlaf war, wie er immer war, ruhig, tief und traumlos. Nur manchmal nun, in gewissen Spannen, schlichen sich zerrissene Träume hinein.

Diese Träume – vielleicht mochte er hier einen Anhaltspunkt gewinnen. Er nahm sich vor, sie niederzuschreiben, einen um den andern. Aber zunächst mußte er das Leiden selbst haben mit all seinen Erscheinungen.

Müdigkeit also. Oft ganz plötzlich, einsetzend im Augenblick. Dann wieder langsam sich vorbereitend, ganz allmählich besitznehmend von seinem armen Leib. Es kam vor, daß er nicht zuhörte, wenn jemand zu ihm sprach, oder, daß er wohl jedes Wort hörte, aber nicht den Sinn verstand. Auch, daß er selbst nicht weiter konnte, mitten im Satz stecken blieb, einen Namen, ein Wort, einen Satz verlor. Ein plötzliches Aussetzen des Gedächtnisses also.

Manchmal, wenn es ein rascher Anfall war: ein plötzlicher Schwindel, wie damals, als er in Torreon vom Pferde sank. Ein Taumeln, Zittern, Schlottern, das ihm jede Herrschaft über seine Glieder raubte. Dann wieder ein Hindämmern durch lange Stunden und Tage, ein Gefühl der Leere, des Ausgepreßtseins, des kläglichen Hinwelkens und Verwelkens.

Ein Schlafwandeln zuweilen. Einmal hatte ihn sein Sekretär dabei ertappt, ein paarmal der alte Diener. Und gewiß kam es öfters vor, ohne daß ers feststellen konnte.

Sehr verschieden schien ihm die Kraft dieser Anfälle. Zuweilen griffen sie nur den Leib, ließen das Hirn völlig frei, so daß er genau ihre Wirkungen beobachten konnte. Dann auch schienen sie bloß das Hirn zu verwirren – oder auch nur einen Teil davon. Das war ein paarmal vorgekommen, wenn er vor dem Publikum stand, mitten in einer Rede. Seine Lippen sprachen weiter, bildeten mechanisch die gewohnten Worte. Aber er fühlte, daß etwas fehlte, daß er nicht hinüberkam über die Rampe, daß eine mächtige Mauer aufwuchs zwischen ihm und den Leuten da unten.

Endlich auch kam es vor, daß ein guter Anfall beides nahm: Körper und Hirn zugleich.

Es gab Zeiten, wo er sich nicht krank fühlte – und doch nicht gesund. Dann tat er alles wie sonst, aber maschinenmäßig, vegetierte so hin, gleichgültig, leer und kalt.

Freilich, dazwischen, wenn er sich gesund fühlte, pulste sein Leben. Jung, kräftig, blühend und stark. Das war seltsam genug: gestern noch mochte es ihm eine ungeheure Anstrengung kosten, nur die Hand auszustrecken, und heute konnte er stundenlang schwimmen und wieder Stunden im Sattel sitzen.

* * *

Sein Aussehn?

Je nun, er sah gut aus, wenn er sich gesund fühlte. Und jämmerlich elend, wenn er krank war. Alle sahn es ihm an, mit denen er öfter zusammen kam, konnten ihm auf den Kopf zusagen, wie es heute bestellt war mit ihm. ›Wie Sauerbier und Spucke‹ hatte der Rossius einmal gesagt! Dann aber – und das sahn die andern kaum – kam ein sehr Fremdes in seinen Ausdruck. Zuweilen fiel es ihm leichthin auf – dann hatte ers ganz deutlich gesehn in der Christnacht – vor Cartiers Spiegelscheibe, als die Goyita aus dem Laden trat.

Ein Fremdes war es und Seltsames.

Jetzt, während er seine Aufzeichnungen machte, setzte er sich manchmal vor den Spiegel, lange genug. Studierte, suchte –

Etwas war in seinen Zügen, das früher nicht da war.

Nun war es da, stets, auch wenn er sich ganz gesund fühlte. Ein leiser Ausdruck der Unsicherheit – und zugleich ein Wünschen. Aber es steigerte sich, wurde sehr deutlich und klar, wenn diese Müde ihn griff, verzerrte sein Gesicht, wurde zur bizarren Fratze, wenn der Anfall gut einsetzte.

Zur leisen Furcht wurde dann seine Unsicherheit, und die kleine Furcht zur schmählichen Angst. Ein Begehren wurde sein Wünschen, eine wilde Gier das Begehren.

Und ein drittes dazu, das stärker wurde mit jedem Tage –

Das war: der Ausdruck einer jämmerlichen Verzweiflung.

Den verstand er, verstand er gut. Verzweiflung – darüber, daß er nichts begriff von dieser Angst und Gier!

Wonach? Weshalb?

* * *

Er war sich völlig klar darüber, daß all das Zeug, das er hineinfraß und spritzte, ohne jede Heilwirkung war. Mit kleinsten Dosen Strychnin fing er an, erst in Pulverform, später in Pillen. Dann hatte er Morphium versucht, Muscarin, Digitalin, Atropin und Kokain; jedes hielt ihn aufrecht für eine Weile. Nur sehr wenig half ihm Heroin, und völlig zwecklos schien Opium. Wenn er es rauchte, schlief er bald ein, träumte. Wachte später auf, genau so krank wie zuvor, noch zerschlagener womöglich. Dagegen mochte ihn Arsenik für manche Stunden frisch halten, auch Mescal, wenn er es in geringen Dosen nahm.

Aber all das konnte im besten Falle einen langsam schleichenden Anfall hinausschieben – nie ihn verhindern. Konnte ihn – auf einen Tag und noch einen, auf eine Woche vielleicht – zu dem Menschen machen, der er immer war, aber weiter nichts. Konnte ihn einen Abend retten, an dem er zu reden hatte, ihn fähig machen zu einem wilden Ritt – das war alles.

Eine größere Widerstandskraft gab es seinen Nerven, bis sie dann, in plötzlichem Anfall – um so jämmerlicher zusammenbrachen.

Stimulantien waren es – nicht einmal das.

* * *

Das war wohl nur Einbildung, daß er meinte, daß ihm eines helfe: menschliche Berührung. Eine fixe Idee nur, eine Autosuggestion.

Als er damals vom Pferde sank, bei dem Eisentor vor Villas Garten, die Zügel fallen ließ, hilflos vornüber stürzte – da genügte der starke Händedruck des Offiziers. Er erinnerte sich gut, wie er den warmen Druck spürte, wie im Augenblick alle Besinnung ihm wiederkam. Wie seine Schenkel zufaßten, wie die Hände wieder die Zügel griffen –

War es nicht dasselbe in Philadelphia – bei der Debatte gegen die Livingstone? So ausgebrannt war er, so leer, so völlig verloren – und trank alle neue Kraft aus der Diva rotgemalten Lippen.

So war es auch bei der kleinen Ivy – stark machte ihn die Berührung ihres jungen Leibes. Und je zärtlicher sie war, je näher und nackter sie sich an ihn schmiegte, um so mehr fühlte er dies in ihm erwachende Leben.

Aber mehr als bei ihr und viel, viel stärker hatte er dies Empfinden bei Lotte. Wenn nur ihre Wange ihn streifte, wenn ihre kleine Hand sich leise hineinschob in seine Hand –

Ihr Puls, ihr Puls –

Er brauchte nur die Augen zu schließen, um ihn zu fühlen.

Fühlen? Er beobachtete sich genau. Machte den Versuch wieder und wieder.

Fühlen? War es wirklich ein Fühlen? – Und nicht viel mehr: ein Wünschen nur und Begehren?

Das war es, was ihn stutzig machte.

Und er schob den Gedanken wieder fort – diese phantastische Hypothese, daß menschliche Berührung Einfluß habe auf sein Leiden.

Einbildung, Autosuggestion –

* * *

Tropenanämie, dachte er manchmal. Das war eine Annahme, die manches Bestechende hatte.

Diese Müdigkeit, die trostlose Gleichgültigkeit. Dies Hinwelken, dies Gefühl der Leere. Dieses Hindämmern, plötzliche Vergessen, Taumeln – Zittern, Umsinken. Die Atemnot. Und dies Herzklopfen – wie eine Schiffsschraube außer Wasser!

Aber dann: er war gar nicht anämisch, hatte Blut in Hülle und Fülle, voll von roten Blutkörperchen, recht gesunden, die von Farbstoff und Sauerstoff strotzten.

Und seine Lippen, sein Zahnfleisch, die Augen – alles gesund. Nirgend eine Spur von Blutarmut.

* * *

Auch mit den Träumen konnte er wenig anfangen, ob sie gleich, wenn er sie nun verglich, einander sehr ähnlich sahen, alle im Grunde auf dasselbe hinausliefen.

Aber wenn er sie zergliederte, so schien ihm die Form von dem Gift gegeben, das er eben zu sich genommen hatte, Mascarin, Mescal, was es grade war. Der Inhalt aber bot nichts als ein vages Bild seines Zustandes.

– Pferde, denen des Stieres Hörner die Eingeweide herausrissen. Die Igel, die mit ihren Pfötchen die dicken Kröten umdrehten, den Leib ihnen aufbissen und die Eier herausfraßen.

War er nicht die Kröte? Er das Pferd?

Oder der Dicke, der immer trank, trank?

Was denn? – Ihn!

Die Arme des Polypen, aus denen Weiber wurden: ihn saugten sie aus. Und das Urteil des amerikanischen Gerichtes, das ihn verdammte, auf elektrischem Wege ausgesaugt zu werden.

Freilich: dann kehrte es sich um. Dann war er es, der saugte und dick und fett dabei wurde. So wie das Urteil behauptete.

Objekt und Subjekt tauschten ihre Rolle: Mescalwirkung.

– Die roten Träume aber, die frei waren von der Einwirkung eines Rauschmittels, die ihm vage und wilde Bilder – albern genug oft – vorgaukelten, leuchteten immer nur in zwei Klängen: Angst und Gier.

Auch das war ja am Ende genau dasselbe – und hier so leicht zu erklären: Angst davor: ausgesaugt zu werden – leer zu sein, hinzuwelken.

Die Umkehrung wieder: die Gier, selbst zu trinken.

Es war nur wieder ein Ausfluß seines Leidens.

* * *

Überall tappte er im Dunkeln.

Heller wurde es nur, wenn er an Lotte dachte.

Und ganz greifbar, sehr wirklich und tatsächlich war etwas: ihre Messerchen.

Auf seiner Mexikofahrt hatte sie ihm das kleine Messer mitgegeben. Spiegelblank, ohne jeden Fleck. Schrieb ihm dazu: »Trag es für mich. Wenn du nicht mußt, gebrauch es nicht. Bring es mir zurück, wie es ist. Dir wird es nichts sagen – mir: alles.«

Er folgte ihrer Laune, trug es, wie sie es wünschte, in der Brusttasche seines Hemdes.

Aus Platin war der Griff, und sie hatte ihrer beiden Sternzeichen hineinschneiden lassen, den Skorpion und den Taschenkrebs. Irgendwelche Eigenschaft legte sie ihnen bei – das war sicher.

Sie sagte, das Messerchen werde ihr zeigen, ob er ihr treu bleibe. Das sagte sie – aber sie log vermutlich. Hatte ganz etwas andres dabei im Sinne.

Denn er betrog sie mit Aimée Breitauer auf dem großen Feste der Monddamen – strahlend blank blieb ihr Messerchen. Und es berührte sie ganz und gar nicht, als er ihr später davon sprach.

»Was gehts mich an?« hatte sie gerufen.

Dann aber – an dem Tage, als die Goyita ihn besuchte – ward das Messerchen blutig. Und doch – alle Eide hätte er schwören können, daß er sich nicht rührte von seinem Diwan in diesen Stunden. Daß er ruhig dalag, schlief und träumte, schwere Mescalträume –

Dennoch: das glaubte sie ihm nicht! Ihr Messer ward voller Blutflecke, und also war er schuldig! Dann also wäre er aufgestanden, mitten in seinen Träumen, hätte unbewußt –

Aber nein! Lotte van Neß hatte selbst ihm gesagt, daß sie die Tänzerin habe untersuchen lassen. Und das Resultat: Virgo intacta!

Was immer ihr Aberglauben war, ihre Narrenidee mit diesem Messerchen: mit seiner Treue und Untreue konnte es nichts zu tun haben.

– Und sie log, Lotte van Neß, ein zweites Mal. Ließ sich von Dr. Cohn ein schönes Bistouri geben, mit all den hübschen Instrumenten, Messerchen, Scheren, Pinzetten. Erzählte dem Arzte, daß sie es haben wolle für – ihre Hühneraugen. Hier hatte er sie ganz fest – das war eine glatte, bildschöne Lüge: nie hatte sie Hühneraugen gehabt ihr Leben lang.

Ein drittes Mal log sie. Das war, als er den Siegelring bei ihr fand, der Magdeburgs Wappen trug. »Meine Mutter stammt dort her,« erklärte sie ihm. »darum kaufte ich ihn.«

Doch die Kühbecks kamen aus Thüringen und nicht aus Magdeburg. Nur das Bild war es, das sie reizte an dem Steine: der Pelikan, der mit dem Schnabel die Brust sich aufriß, seine Jungen nährte mit dem eigenen Blute.

War es nicht wieder dasselbe? Bluttrinken aus lebendem Leib? Und mit diesem Steine siegelte sie alle ihre Briefe an ihn. Nie nahm sie einen andern. Aber die gute Wahrheit sprach sie, als sie dem Doktor antwortete, daß nun das Besteck wohl nicht mehr nötig sei. O ja: denn an diesem Tage hatte Ivy Jefferson ihr ihn weggenommen.

Dennoch behielt sie den schwarzen Kasten. Sagte: ›Später vielleicht.‹ Später: das war, wenn er zurückkehren würde zu ihr. Später – das war: jetzt.

Doch dies waren nicht ihre einzigen Dinge, die gut waren zum Schneiden oder Stechen. Er erinnerte sich der Nacht, als sie den Schlaftrunk ihm bot – den sie dann selbst trank. Da hatte er auf ihrem Nachtkasten eine Reihe anderer Messerchen liegen sehen – geöffnet, mit blanken Klingen. Er hatte sich vorgenommen darauf zu achten – hatte viele Stunden wachgesessen in ihrem Bett, lange sie belauert. War doch eingeschlafen am Ende, hatte vergessen auf die Messerchen.

Doch sah er – als er aufwachte: – einen großen Blutfleck in Lottes Kissen.

Daran konnte kein Zweifel sein: die Messerchen spielten ganz gewiß mit in der Narrenkomödie, deren Hauptrolle Lotte hielt und in der er einen unfreiwilligen Part hatte. Einen sehr passiven dazu, einen – leidenden!

– Daß ihre Messerchen auch in seinen Träumen auftraten, war sehr begreiflich. Da wuchs ihm das kleine Ding, das ihm Lotte gab, zum langen, breiten Messer, mit dem er sich verteidigte gegen die schleimigen Saugarme des gewaltigen Kraken, in den sich der Dicke verwandelte. Oder aber, er stand auf in der Nacht, öffnete das kleine Messer, ging an den Toilettentisch, spielte herum mit den Gilletteklingen – wie damals, da ihn der junge Rossius beim Schlafwandeln erwischt hatte.

Und dann: Blut sah er – im Schlafen und Wachen immer und immer wieder rotes Blut. Rote Röslein, die hinabfielen, roten Blutregen. Sah die Wunde auf der Goyita weißer Brust, als sie die Rumba tanzte. Einen kleinen, schmalen Blutstreif. Sah Blut oft – mitten in seinen Reden; Blut in all seinen Träumen.

Aber auch das war verständlich: wenn Messer schneiden, muß Blut fließen. Dann auch: ewig die Blutwolke, die herüberwehte von Europa, alle Blätter rot gefärbt, Tag um Tag.

Sehr rot war diese Zeit.

– Nur eines konnte das alles beweisen: daß sich auch während des Schlafes seine Phantasie mit Blut beschäftigte. Wie sie es oft genug tat am hellen Tage.

* * *

Dennoch diese Messerchen waren Lottes ureigene Idee. Sie waren da – und sie mußten einen Zweck haben.

Welchen nur?

Gebrauchte sie die Dinger? Gegen – ihn? Und wozu dann?

Wenn sie ihn verletzte – so mußte doch eine Wunde zurückbleiben! Das hatte er geglaubt, als sie neulich kam, mit dem Sekretär plauderte, während er einschlief. So fest geglaubt, daß er vermeinte, den Schmerz zu fühlen.

Darum riß er die Kleider ab, darum suchte er herum am Leibe wie nach Flohbissen.

Aber nichts, nichts. Nicht der kleinste Kratzer auf seiner Haut.

Einbildung nur, nervöse Überreizung –

Dennoch: dies war der Schlüssel – ihre Messerchen.

Er hielt ihn in der Hand – aber er wußte nichts damit anzufangen.

* * *

Sie aber, Lotte, wußte es gut. Offen genug hatte er seinen Verdacht ihr ausgesprochen – kaum gewehrt hatte sie sich dagegen. ›Gib dir keine Mühe!‹ hatte sie gesagt. ›Ich will es nicht sagen – so sage ichs nicht.‹

Er bestand nicht weiter. Er kannte sie gut: sie würde ihr Wort halten, keine Silbe mehr sprechen.

Seinen Verdacht teilte die blonde Ivy. Sie hatte ihm den kleinen Kalender gezeigt, in dem sie sehr sauber viele Daten angestrichen hatte. Perlikke-Perlakke war es – das reine Wetterhäuschen! Wenn er sehr gesund sich fühlte, dann war Lotte krank. Aber ganz gesund wieder, wenn ihn sein Leiden faßte. Gesund machte sie ihn und krank – wie sie grade wollte: und das hing auf das engste mit ihrem eigenen Befinden zusammen.

Es war, als ob er gar kein Eigenleben mehr habe. Eine Puppe war er in ihren kleinen Händen, ihr Hampelmann, den sie springen ließ.

Und er ließ sich leiten von ihr – wie sie es wollte. Sehr feminin war sein Empfinden zu dieser Frau – sie war der Mann, und nicht er. ›Du bist Boden. Bist Weib und Mutterschoß –‹, waren das nicht ihre eignen Worte?

Sie schob ihn. Was er tat, tat er für sie und durch sie. Ah – selbst ihr Denken trank er ein!

Und das hielt an, auch in der Zeit, da er sie nicht sah. In den langen Monden – da er mit Ivy war.

* * *

Krank war sie, schwach, leidend und elend, wenn er sehr gesund war.

Krank? Ja, was fehlte ihr denn?

Anämie – Blutarmut! Darauf behandelte sie Dr. Cohn, darum hatte er sie nach Saratoga gesandt.

Blutarm war sie, bleichsüchtig, anämisch. Hatte also das sehr natürliche Bestreben, alles zu versuchen, um frisches, gutes Blut zu bekommen. Darum fuhr sie ins Bad, darum nahm sie Arsenferratose, schluckte Hämatogen, Levico-Wasser, Somatose – alles was Eisen enthielt und Arsen. Um den Mangel an Hämoglobin und Sauerstoff ihren roten Blutkörperchen zu ersetzen.

Und sie war angesteckt von dem wilden Aberglauben dieses Landes. Jagte herum von einer Wahrsagerin zur andern, ließ sich zu Dutzenden Horoskope stellen. Nur nahm sie es ernster, wissenschaftlicher, europäischer, ging gründlich in die Tiefe, wo die andern an seichtester Oberfläche klebten. Studierte selbst in allen wilden Mystikern, nahm den Professor von Kachele in festen Sold. Wies tausend Absurditäten lächelnd zurück, aber glaubte doch an die tausendundeinste Möglichkeit.

Was hatte der Kachele gesagt? ›Es ist alles möglich in Menschenhirnen.‹ – Und daß das wahr sei, unumstößlich wahr, dafür war er selbst der lebendig herumlaufende Beweis.

Er – und der Weltkrieg: war der nicht auch ein rasender Wahnsinn – geboren aus Menschenhirnen?

Dann aber: wie war es verwunderlich, daß auch diese Frau nach einem Heilmittel für ihr Leiden suchte – weltenfern von aller ärztlichen Wissenschaft?

Darnach suchte – und – vielleicht? – es fand?

Eine kleine Kristallkugel trug sie an goldenem Kettchen um ihren Hals – ein Flügelgreif war hineingeschnitten. Der Professor erkannte gleich den Sinn des Amulettes: Milch sollte es bringen. Und sie hatte genickt: ›Ja, ja – rote Milch!‹

Rote Milch? Das war: Blut und nichts anders.

Und wenn sie noch so wenig daran glauben mochte – so spielte sie doch mit dem Gedanken. Keine Frage war es, daß ihr jedes Mittel gut war, recht, recht viel gesunde ›Milch‹ zu bekommen – rote Milch!

* * *

Er dachte an den Vortrag, den Professor von Kachele ihnen gehalten hatte. An den alten Mythos der Sternengöttin, die das Sonnenkind raubt und zerstückelt. Diese wilde, uralte Geschichte, die durch die Jahrtausende lief und in allen Völkern und zu allen Zeiten zu neuem Leben erwachte. Babylons Labartu, Sidons Astarte, die grause Durga der Inder – stets dieselbe Göttin in Rom und Karthago, durch Asien, Afrika und Europa. Die immer neue Anhänger fand, Priester und Priesterinnen, und immer neue blutige Opfer verlangte.

Und die endlich auch den Weg fand nach Amerika. Hatte er nicht gesehn, mit seinen zwei Augen, wie Adelaide, die schöne Negerin, mit der blauen Priesterbinde um die Stirne, ihr eigenes Kind schlachtete im Hoodootempel bei Petit-Goaves? Es der Gottheit opferte – die sie Dom Pèdre nannte? Es erwürgte, den Hals ihm durchschnitt, sein Blut trank –

Sie, die Mamaloi – die Mutter und Königin!?

Kein Phantasiegebilde war es, kein Traum überreizter Nerven. Es war nackteste Wirklichkeit – mitten in dieser erleuchteten Zeit –

Dieser herrlichen Zeit, die ihr Hirn zermarterte, um neue, noch stärkere Mittel zu erfinden, um Menschen zu töten, Blut fließen zu machen in immer wilderen Strömen. Auf dem Wasser und unter dem Wasser, auf dem Lande und hoch in der Luft!

Morden – Totschlagen! Neue Maienzeit für der Zerstörung gewaltige Göttin!

* * *

Nein, was die Mamaloi tat, war nichts Besonderes in diesen Tagen: alles war möglich in Menschenhirnen!

Möglich bei ihr – möglich bei Lotte van Neß.

Noch klangen ihm die Worte des gelehrten Barons im Ohre: ›Und wenn die schöne und gütige Dame, die vor Ihnen sitzt, in dieser Nacht sich entpuppen sollte als die wildeste Priesterin der Baaltis, wenn sie einen Knaben zerstückeln und sein rotes Blut trinken sollte, so würde ich das keineswegs als etwas sehr Außergewöhnliches ansehn können. Ich würde es tief bedauern – aber als Gelehrter würde ich den interessanten Fall ruhig meiner Arbeit einfügen, als ein neues Beispiel des uralten Labartukultus.‹

Die schöne und gütige Dame – das war Lotte Lewi!

Möglich schien es dem Dr. v. Kachele, möglich! – Ihm aber wurde diese Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit, zur Gewißheit fast.

* * *

War sie Labartu, war sie die Blutgräfin und die Vaudouxpriesterin – dann konnte nur einer ihr Opfer sein: er!

Eine neue Methode hatte sie, keine von denen, die der Professor kannte. Modern dachte sie, modern ging sie vor, sehr klug und bedächtig.

Kein rasches Mordopfer – o nein! Ein langsames grausames Spielen.

Und warum er – er grade? Je nun – ihn liebte sie! War es nicht aller Wollust glühendster Flammenkern, das hinzuopfern, was am heißesten man liebte?!

Seine Geliebte war sie. Seine Schwester. Und seine Mutter. Ihren lieben Jungen nannte sie ihn, ihr einziges Kind –

Mit stillen Wiegenliedern sang sie ihn schmeichelnd in Schlaf.

Wenn es so war – wenn sie Astarte war – so war er, er – das zerstückelte Kind!

* * *

Und das erklärte wenigstens eines deutlich genug: seine stets wachsende, immer sich steigernde Angst. Diese jämmerliche Furcht, die sich einfraß in sein Gesicht, die ihn nicht mehr los ließ, keinen Augenblick lang. Die er auch übertrug auf andere Frauen.

Die machte ihn fliehen aus ihrem Bett, wie aus dem der Diva, damals in Philadelphia. Die wehrte sich – in hundert Fällen – instinktiv dagegen, mit Ivy allein zu sein, ließ ihn alle möglichen Ausflüchte finden und Notlügen ersinnen.

Aber er hielt nun ihren letzten Grund.

Nur, das alles half ihm wenig weiter. Er sah wohl das Phänomen: Lotte-Labartu. Er hatte eine Tatsache: ihre Bleichsucht. Und die sehr greifbaren Messerchen.

Aber nichts hakte ineinander, nirgends begriff er die Zusammenhänge. Überall klafften mächtige Schluchten, die er nicht überbrücken konnte.

Ungern genug nahm er die phantastische Hypothese Dr. Cohns wieder auf. Der hatte an ihn gedacht – aber wenn sein Gedanke stimmte, mochte er besser noch für sie passen. Auch sie war in der Südsee gewesen, auf den Hebriden, den Salomoninseln.

Er hatte Malaria gehabt, mit all ihren typischen Erscheinungen. Auch in seinen Blutkörperchen schmarotzte einmal der Parasit der Anopheles. Aber er hatte pfundweise Chinin geschluckt, war die Krankheit losgeworden am Ende.

Sie leugnete, jemals das Fieber gehabt zu haben; tat, als wisse sie kaum, was Malaria sei.

Das schon schien ihm verdächtig.

»Kannibalentum – eine Krankheit!« so dozierte der Arzt. Hervorgerufen durch einen Insektenstich – nein, durch den giftigen Biß irgendeines Säugetieres, einer Fledermaus, eines fliegenden Hundes. Eine schleichende Krankheit, die als Folgeerscheinung die rasende Gier nach Menschenfleisch hervorrief, den wilden Durst nach Menschenblut.

So wie der Hund, den ein anderer, toller, beißt, selbst tollwütig wird, selbst wieder anfällt, was ihm vor die Zähne kommt.

Eine Art Tollwut also, ein Amoklaufen!

Möglich war es – auch das! Möglich so gut, wie des Professors v. Kachele Hypothese.

Und es würde – im Effekt – auf dasselbe hinauslaufen: sein Blut mußte sie trinken.

* * *

Eines freilich konnte er schwer nur reimen: wie war es mit den andern Frauen?

Er ging sie durch, eine nach der andern.

Eine mochte da gleich ausscheiden: Aimée Breitauer. So harmlos war dies Abenteuer, so einfach und natürlich, ohne den kleinsten, geheimnisvollen Nebel.

Die Tänzerin dann. Er zergrübelte sein Gedächtnis, zum zwanzigsten Male, um etwas zu finden, was an jenem Nachmittag geschehn sei. Nichts fand er, nicht das Kleinste. Dennoch – als sie ihn wiedersah – floh sie vor ihm, wie vor einem Pestkranken.

Er hatte keine Erklärung dafür. Aber – es mochte Lottes Werk sein, die sie zu sich nahm in jener Nacht. Und sicher auch wiedersah in der Zeit –

Ivy dann, seine Verlobte. Klar alles, sonnenklar – bis auf den letzten Tag. Jenen Rauschtag im Tropenhause der gläsernen Stadt. Und dann, Monate später – ihre kurze Absage: ›Geh zurück zu deiner Mätresse.‹

Auch sie liebte ihn, die kleine Ivy, so gut sie eben konnte. Dennoch jagte sie ihn fort –

Jede kleinste Einzelheit rief er sich zurück, von dem was geschehn war hinter dem Bambusdickicht. Bis zu der Sekunde, wo er alle Besinnung verlor, wo er völlig berauscht war – berauscht wie sie.

Nur eines fiel ihm auf, wenn er so nachdachte: der Gärtnerkasten.

An alles hatte sie gedacht für dieses Brautmahl. Nichts fehlte, nicht die kleinste Kleinigkeit.

Nur: Korkenzieher und Sektöffner. Die waren vergessen.

Seltsam –

Und zum Ersatz holte sie den Kasten mit den Instrumenten des Obergärtners. Haken, Scheren, Stecher, viele scharfe Messer.

Das konnte ein reiner Zufall sein – o ja!

Aber vielleicht – vielleicht – war es Absicht –

Messer – wie auf dem Nachtkasten Lottes!

* * *

Die Diva endlich.

Als er zurückkam in die Kulisse nach seiner Rede, als ihr heißer Blick ihn einlud für jene Nacht, da flüsterte sie: ›Meine Lippen hast du zerbissen – ich will es dir heimzahlen.‹

Geküßt hatte er sie – ja! Gebissen auch? Wenn es wirklich geschah – so wußte er es doch nicht.

Aber sie zahlte es ihm heim – und mit manchem Zins. Biß ihn, biß ihn, wie die kleine Ivy, als die Mänade erwachte in ihr. Ein Kämpfen war es, ein wilder Streit zweier großen Tiere –

Bis sie umsanken beide – völlig erschöpft. Einschliefen.

Fast zwei Jahre sprach er sie nicht. Aber zur Christnacht hielt sie ihm ihre schöne Rede über Sodom.

Spie ihn an zum Schluß: ›Eine Spinne bist du! – Bist alles – was saugt!‹

Und er dachte: ›Es paßt gut zu dieser wilden Frau. Sie – mit allen Hunden gehetzt – in allen Wassern gewaschen! Ein blutiger Hohn – ein rasender Spott, der ihr neuen Anreiz gibt zu Abenteuern.‹

* * *

Und doch – sie, die Sodoms tiefste Tiefen und höchste Höhen durchwandert hatte – sie mochte so gut Bescheid wissen, wie Lotte auch.

Dann aber war es nichts andres, als daß sie lachend es umkehrte – daß sie selbst das tat, was sie ihm unterschob.

Daß sie – die Spinne war – sie, sie!!

Wie Lotte Lewi –

Wie – ja, wie die kleine Ivy auch. Dann – dann wußte die gut, was der Gärtnerkasten sollte!

– Mit beiden Händen griff er sich an den Kopf.

Das – das – war – –

Unmöglich? – Nichts war unmöglich in Menschenhirnen! Und was sich in einem gebar, konnte gut in einem zweiten wachsen und dritten!

Wenn sie – Lotte und die Diva – und Ivy Jefferson – und am Ende die Tänzerin auch –? Wenn sie alle –?

Die anonymen Briefe fielen ihm ein. Sie häuften sich in dicken Mappen, seitdem Rossius sie wieder aufbewahrte, seine ganze Wohnung hätte er damit tapezieren können. Beschimpfungen meist – aber auch Drohungen, ehrlich genug gemeint. Man würde schon die Mittel finden, ihn aus dem Wege zu schaffen, diesen Aufwiegler und Verschwörer, diesen barbarischen deutschen Hund, den bezahlten Agenten des kindermordenden Kaisers!

Angelsächsische Wutausbrüche – o ja! Aber ohnmächtig? Ganz und gar nicht. Hielt nicht das englische Kabel jeden Tag die Fieberhitze der Yankees in neuer Glut? Ganz offiziell meldete der englische Bericht, daß die Deutschen über feindliche Städte Cholerabazillen ausstreuten, daß sie überall in Feindesland die Brunnen vergifteten. Nur Säuglinge, Kinder und Weiber töteten ihre Flugzeuge, und ihre Grausamkeiten an gefangenen Feinden schrien zum Himmel. Hände, Füße, Brüstchen und Geschlechtsteile schnitten sie zehnjährigen Mädchen und Buben ah, rissen das ungeborene Kind aus der Mutter Leib, trugen es triumphierend herum auf dem Bajonett: das war der höchste Gipfel ihrer Kultur! Und das alles illustrierte Paris und Rom in Zeichnungen und Bildern, die die Runde durch die Presse der Welt machten, tagtäglich den Haß der Yankees aufs neue anfachen mußten.

Wenns nottat, griff England auch selbst ein. Hatte nicht der britische Gesandte in Kristiania höchstselbst versucht, den Diener Sir Roger Casements zu verleiten, seinen Herrn zu ermorden? Wessen Werkzeug war der Mörder des Jean Jaurès, der heute noch ohne Urteil im fröhlichen Gefängnis saß? Wie starb König Karl von Rumänien, wie der Marquis von San Giuliano, wie der Tiroler Wörnz, der Jesuitengeneral – alle drei Deutschlands treueste Freunde? London wußte es gut, so wie es wußte, wer die Mordbuben von Sarajewo zahlte, die die Brandfackel stießen in Europas Pulverfaß.

Und er zog den richtigen Schluß: wenn man Millionen mordet mit Kugeln und Granaten, dann darf man nicht zögern, den Feind, den ein Zufall kugelsicher machte, auf andere Weise umzubringen. Mit einem guten Gift zum Beispiel –

Gift? Das war der erste Gedanke Oberst Perlsteins in Torreon! Und auf eine Art Vergiftung schloß auch Dr. Cohns Hypothese –

Ein langsames, schleichendes Gift? Warum nicht? Es war so möglich wie all der andere Wahnsinn, der doch zur greifbarsten Wirklichkeit wurde in diesen Narrenjahren. Und erst recht möglich in dieser Riesenstadt, in der jedes Laster und jedes Verbrechen rot lachende Blüten trieb!

* * *

Noch einmal las er seine Eintragungen durch. Schied alles aus, was romantisch klang und phantastisch, stellte nur die Tatsachen fest, die ein Kind mit Händen greifen mochte. Wenig genug blieb, zehn Zeilen kaum oder zwölf.

Dies schleichende Leiden mit seinen Wellen. Auf und nieder, bald zurückgehend, bald mächtig aufschwellend. Wie Flut und Ebbe, dachte er, und ganz gewiß abhängig von einem außerhalb Wandelnden – wie des Meeres Atmen vom Mond.

Mond – Mondgöttin – Astarte! Da war er wieder. Aber er strich die Worte aus, mit kurzen, harten Strichen.

Und dieses Außerhalbstehende konnte nur sie sein: Lotte. Andere Frauen – vielleicht; das war sehr ungewiß. Sie aber stand mit aller Sicherheit in Beziehung zu seinem Leiden – abhängig von dieser Frau war Flut wie Ebbe, war sein Gesunden wie sein Kranken.

Das dritte dann: der Schlüssel zu allem mochte vielleicht ihr Messerchen sein. Dies oder ein anderes, oder alle. Er unterstrich: ›Mochte‹ und ›Vielleicht‹. Es konnte schon so sein.

Und das letzte, wichtigste: Lotte van Neß kannte das Geheimnis. Wenn es ihm gelang, sie zum Sprechen zu bringen?

* * *

Mit langen Schritten lief er durch seine Zimmer. Auf und nieder, hin und zurück. Sann nach, trat an den Schreibtisch, schrieb eine Zeile hin. Sprang auf, grübelte wieder.

O, er mußte es zusammenbekommen, jede Strophe, jedes Wort, wie er es damals gehört hatte –

Primaner war er – und die Mutter hatte ihn nach England geschickt in den Schulferien. Hatte ihm alles aufgeschrieben: das mußt du sehn und das und dies.

Oben in Lincoln sollte er die Kathedrale bestaunen. Das sei die schönste in ganz England, hatte die Mutter gesagt.

Er besah die Kathedrale. Aber der Greis, der ihn führte, sagte, daß es noch etwas viel Interessanteres gäbe in Lincoln. Er brachte ihn nach einem alten Haus, das gerade so aussah, wie alle andern alten Häuser der Stadt.

Der Weißbärtige sagte, daß da einmal eine Judentochter gewohnt habe, vor vielen hundert Jahren. Die, die den kleinen Sir Hugh ermordet hatte, zur Osterzeit. Und er deklamierte mit heiserer Stimme die alte schottische Ballade –

Die suchte er nun. Die schrieb er auf. Langsam, Zeile um Zeile, durch lange Stunden. Nahm dann das Blatt, las es. Und noch einmal – laut.

»Im lustigen Lincoln rennt mancher Bub
Beim Ballspiel keck und schnell –
Da wirft seinen Ball der süße Sir Hugh
In den Garten vom Judenkastell.

Da 'naus und kam des Juden Maid,
So schön wie der Frühsonne Schein,
Sie brach einen Apfel weiß und rot,
Der lockte den Knaben hinein.

Sie lockte ihn durch ein schwarzes Tor,
Drei Tore und sechs und neun.
Sie legte ihn auf das Schlachtbrett hin,
Sie stach ihn ab wie ein Schwein.

Und aus und zog sie ein Federmess'r,
Sie hatts versteckt beiher –
Sie stachs dem süßen Sir Hugh in'n Hals –
Kein Wort sprach nimmer er mehr.

Und aus und kam das dick, dick Blut,
Und aus und kam es dann dünn,
Und aus und kam rot Herzensblut,
– Da war nichts mehr darin.

Sie rollt ihn in ein'n Kasten Blei,
Daß ewig drinn er schlief,
Warf ihn in tiefen Mariabrunn. –
War fünfzig Faden tief.

– Als Betglock klang und man Vesper sang,
jeder Knabe kam daheim;
Jede Mutter hatte daheim ihren Sohn,
Nur Lady Helen hat kein'n!

Sie rollt ihren Mantel um sich her
Und lief durch die dunkle Nacht,
Sie lief so schnell zum Judenkastell,
Wo alle schliefen zur Nacht.

»Mein kleiner Sir Hugh, mein süßer Sir Hugh!«
Die Mutter rief es und schrie.
Sie kam zu Sankt Marias Brunn
Und fiel in ihre Knie.

»O Mutter, der Brunn ist wundertief
Und das Blei ist wunderschwer,
Ein klein Federmess'r steckt mir im Hals,
Da sprech ich nimmermehr.

»Geh heim, geh heim, o Mutter lieb.
Näh mir ein Leichenkleid,
Drauß, hinter der lustigen Lincolnstadt
Lieg morgen ich an deiner Seit.«

Da ging Lady Helen nach Hause hin
Und nähte ein Leichenkleid –
Drauß, hinter der lustigen Lincolnstadt
Lag bald sie an seiner Seit.

Und jede Glocke in Lincolnstadt
Ohn Menschenhände klang,
Und jed' Liederbuch in der Lincolnstadt
Ohn Menschenzungen sang.

Man grub Lady Helen, grub ein Sir Hugh
Hauss' der lustigen Lincolnstadt.
Seit Adams Zeit solch einen Leichenzug
Man nimmer gesehen hat.«

Das war es. Er starrte auf das Blatt, saß da, rührte sich nicht. War das nicht wieder der alte Mythos vom Morde des Sonnenkinds?

Und es war sein Fall, seiner! Er sah ihre Messerchen liegen, klein, spitzig, spiegelblank. Die schnitten, die stachen – da floß sein Blut. Erst dick, dann dünn, endlich das Herzensblut. Bis nichts mehr drinnen war.

Ja, ja, kein Blut war mehr in ihm, ausgeleert, ausgepreßt war er zum letzten Tropfen. In den Ohren klang ihm die heisere Stimme des alten Mannes in Lincoln:

»A little penknife sticks in my throat
And I downa to you speak!«

Beim Tennisspiel hatte er einst Lotte Lewi zuerst getroffen, in des alten Juden großem Garten am Tiergarten zu Berlin. Jung war sie damals und blütenschön wie ein Frühsonnenstrahl im Aprilmond. Und der weißrote Apfel, der den armen Knaben lockte? Wie oft hatte diese Eva ihm die Frucht gereicht, die die Schlange vom Baume brach, Lilith, ihre Ahnfrau. Ah, er hatte davon gekostet, wieder und wieder, bis er einschlief in ihren Armen, bis –

Durch alle schwarzen Tore lockte sie ihn, tief hinein in den Zaubergarten ihrer Sünden. Nahm ihre Messerchen, schob ihn zurecht auf ihres Bettes Schlachtbrett. Stach zu.

Nun mochte sie ihn in den Bleikasten tun, mochte ihn in den Brunnen werfen, fünfzig Faden tief –

Ob wohl die Mutter kommen würde? Niederknien an des Brunnens Rand, ihn rufen? Er flüsterte:

»Gae hame, gae hame my mither dear,
Prepare my winding sheet –«

Bei ihr würde er liegen, draußen bei der lustigen Stadt am Rhein. Wo sein Vater lag und die Großeltern und Urgroßeltern. Da war wohl noch Platz in der alten Gruft.

* * *

Fast täglich sah er Lotte in diesen Monaten. Aber er hütete sich wohl, über Nacht zu bleiben in ihrem Hause. Oder auch einzuschlafen bei ihr am Tage. Sowie er fühlte, wie diese leere Müde in seine Glieder kroch, ließ er das Auto kommen, fuhr nach Hause. Er ließ ein Kunstschloß an seine Flurtür anbringen, schloß sich sorgfältig ein, wenn ein Anfall drohte, trug den Schlüssel stets bei sich. So glaubte er sicher zu sein vor Überraschungen.

Sehr gesund war sie in dieser Zeit – und er war sehr elend. Schleppte sich mühsam weiter mit all seinen Giften.

Ganz offenbar war es, daß Lotte nach ihm verlangte; sie dachte nicht daran, es zu verhehlen. Mehr als einmal sagte sie: »Bleib heute nacht – küß mich!«

Aber er blieb nicht. Obgleich alles in ihm darnach schrie, zu tun, was sie wollte.

Einmal schlief er dennoch ein bei ihr, nach dem Tee. Er sollte sprechen an diesem Abend.

Noch am Morgen des Tages fühlte er sich leidlich frisch. Aber nachmittags, bei ihr, faßte ihn ein Fieber und Schwindel. Sie merkte es gleich, stand auf, ging hinaus. Kam wieder, brachte ein Glas Wasser, schüttete ein Pulver hinein.

»Trink!« sagte sie.

»Was ist es?« fragte er.

Sie antwortete: »Chloral. Du wirst ein Stündchen schlafen. Wirst dich frischer fühlen, wenn du aufwachst!«

Die Finger juckten ihn, nach dem Glase zu greifen. Aber die Angst überwog. Er berührte den Trank nicht. Er klingelte seinen Sekretär an, bat ihn, herzukommen. Ihm Arsenik mitzubringen – aus der kleinen Schublade – links.

Sie schüttelte langsam den Kopf, traurig, mitleidig, voll von Liebe. Sie sprach nichts, setzte sich zu ihm hin, streichelte ihm den Kopf und die Hände. Da schlief er ein – dennoch.

Er wachte auf, als der Diener seinen Sekretär meldete. Sie war nicht mehr im Zimmer, Lotte.

Er sah auf die Uhr, kaum eine halbe Stunde hatte er geschlafen.

»Haben Sie das Arsenik?« rief er Rossius entgegen.

Der gab es ihm – und er schickte sich an, es zu nehmen. Stutzte dann – zögerte: er fühlte sich frisch und gesund. Weg war alle Leere und Müde. Wie fortgeblasen, weggestreichelt von Lottes süßen Händen.

Nur – es hielt nicht lange. Zehn Tage vielleicht – oder zwei Wochen.

* * *

Er hatte Angst. Er fürchtete sich, mehr und jeden Tag mehr.

Einmal dachte er: Manntiger.

Wie hatte er gelacht, als er zum ersten Male dies Wort hörte und die Geschichte dazu! In Radschputana war es, im Lande der Fürstensöhne –

Das Tier, das allein umherschleicht in der Nacht, rings um die Dörfer und die Hütten am Rande des Waldes, das die Wanderer überfällt auf den Landstraßen oder am Ufer des Flusses – das ist kein Tiger: ein Mensch ist es. Oder auch: es ist wohl ein Tiger, aber einer, in den sich ein Mensch verwandelte. Alle Inder glaubten daran, aber: die Europäer auch, alle die wenigstens, die nicht in den großen Städten wohnten, die ein wenig den feuchten Duft der Dschungel rochen, Offiziere, Ingenieure, Teepflanzer. Die wußten so gut, wie die Dorfleute: der da ist ein Manntiger – oder jener! Und zu jedem dritten Mond zieht er hinaus in den Busch, wird zum Tiger, lauert durch die Nächte, springt an, schlägt die Pranken in braunes Menschenfleisch, trinkt Menschenblut. Wohnt wieder still im Dorf durch lange Wochen, scheu, einsam. Ißt Reis, reibt Arekanuß, kaut Betel dazu. Gemieden – sehr gefürchtet.

Dann aber, Jahre später, im deutschen Kamerun, lachte er nicht mehr. Auch da lebte die Geschichte, wie überall in Indien. Nur war es der Leopard, den man hier Manntiger nannte, nicht der bengalische Königstiger.

Zum Amtmann kamen die Nigger, brachten einen kleinen stämmigen. Einäugig war er. Der sei ein Manntiger, schrien sie, und er habe es selbst gestanden: er sei es, der die zwei Kinder erwürgt habe in der letzten Woche – nun möge doch der Amtmann ihn hängen lassen. Der Kerl gestand, das war schon wahr. Aber der Amtmann ließ ihn doch nicht hängen – er glaubte nicht daran. Er hatte die Kinderleichen untersucht, die der Leopard überfallen und verschleppt hatte in den Wald, hatte das Tier selbst geschossen in der nächsten Nacht. Er ließ den Kerl einsperren zur Vorsicht – der entwich am selben Tage noch in den Busch.

Aber später, in Borna, sah er zwei Manntiger baumeln. Und diesmal gab es keinen Zweifel: man hatte sie erwischt an der Furt, wie sie die Mammi des Sergeanten überfielen. Der hörte selber ihr Schreien, ein alter Dominikmann, ein schwarzer Landsknecht, der seinen Leutnant fürchtete und keinen Teufel sonst. Der faßte sie, der brachte sie zum Revier. Zwei Burschen, eingenäht in Leopardenfelle, auf allen Fingern Stahlhüte, rundgebogen wie Krallen. Damit griffen sie zu, würgten sie ihre Opfer –

Und wieder im großen Chaco. Wie in Asien, wie in Afrika, so war auch hier, mitten in Südamerika, die Mär vom Manntiger lebendig. Kein Tiger, kein Leopard war es hier: der Jaguar. Und seltsam, nicht Männer nahmen seine Gestalt – nur von Weibern hörte er. Wilden Weibern, die sich in reißende Jaguare verwandelten zur Nachtzeit, Knaben überfielen und Mädchen. Aber auch Männer – starke Krieger, wohlerprobt auf der Jagd wie im Kampf. Und sie wehrten sich kaum, ließen sich würgen, töten, starr vor Angst.

Er hatte keinen Fall gesehen im weiten Waldland, nur die Geschichte gehört, wieder und immer wieder bei allen Stämmen – soweit der Chaco reicht in Paraguay, Bolivien und Argentinien. Und, von andern Reisenden, sie bestätigt gefunden für die Völker des brasilianischen Urwaldes, am Xingu, Tarpejos und Madeira – bis hinüber über den Amazonenstrom. Er konnte nicht feststellen, ob es sich um den Glauben an eine Seelenwanderung handelte, wie in Indien, oder um recht tatsächliche Geschehnisse, wie in Afrika – vom Kongo hinüber zum blauen Nil. Möglich auch, daß beides der Fall war, daß hier wie auf den andern Kontinenten sich phantastischer Glauben mischte mit blutiger Wirklichkeit.

Ohne jede Verbindung waren alle diese braunen und schwarzen und roten Völker, weit getrennt durch Land und Meer. Und dennoch lebte überall der gleiche Glaube: in ein reißendes Tier verwandelt sich zur Nachtzeit ein böser Mensch, lauert am Waldrande und an der Furt des Flusses auf seine Opfer. Überfällt sie, würgt sie, trinkt ihr Blut. Und immer war es eine große Katze – ein Königstiger, ein Leopard, ein Jaguar.

Daheim, in Europa, gab es nur kleine Katzen. Sehr zahme nur, die mit dem Menschen lebten seit Jahrtausenden. Und dennoch lebte auch da überall derselbe Glaube, ein wenig klein geworden, eingeschrumpft wie die Tiere. Die graue Katze war die stete Begleiterin des alten Weibes, das eine Hexe war, war dann die Hexe selbst, die herumschlich durch Haus und Dorf und Unheil brachte. Freilich wagte sie sich nicht an Erwachsene, nicht einmal an Knaben und Mädchen, dazu war sie viel zu klein. Aber die Säuglinge in der Wiege überfiel sie im Schlaf, drängte sich auf sie, erstickte sie. Lief nicht alle Jahre so eine Geschichte durch die Zeitungen, daß wieder einmal eine Katze ein Wickelkind umgebracht hatte? Und das Volk glaubte – nicht die Menschen, die in den Städten wohnten, aber die in den Bergen und in den Dörfern am Walde und am Wasser – daß die graue Katze kein Tier sei, vielmehr ein Unhold, ein Nachtmahr, eine Hexe: ein böser, unheilvoller Mensch, der sich auf Zauber verstand.

Ah – in der ganzen Welt lebte derselbe Glaube! Und in derselben Form – nur um ein Kleinstes geändert durch die verschiedenen Verhältnisse. Überall die Katze – nur selten trat der Wolf an ihre Stelle – der Werwolf, immer in Gegenden, wo er das einzige reißende Tier war, wo es keine große Katze gab und wo der Glaube doch stark genug war, über das hinauszuglauben, was eine Hauskatze tun konnte.

Ein Aberglauben – und überall derselbe? Zu allen Zeiten und in allen Teilen der Erde? Aber er hatte mit eigenen Augen die schwarzen Manntiger hängen sehn, hatte bei der Gerichtsverhandlung dabei gesessen, hatte eines der Leopardenfelle mit den scharfen Stahlkrallen dem Bezirksamtmann abgeschwatzt! Das hing in seiner Mutter Haus, über dem goldenen Daibuz, er würde es wiedersehen, wenn er je einmal nach Hause kam.

Der Manntiger, der Mensch, der sich in ein blutgieriges Tier verwandelte, auf höchst phantastische oder auch auf sehr natürliche Weise – der Mensch existierte, daran war kein Zweifel. War überall auf dieser Welt – warum nicht mitten in Manhattan?

Grün, wie jeder Katze, waren Lottes Lewis Augen. Leuchteten in der Dunkelheit –

* * *

Er fuhr hinüber nach Hoboken. Mächtige Eisschollen schwammen den Hudson hinab, krachten an die hölzernen Wände des Fährbootes. Brachen sich, trieben seitab, schiebend und knirschend.

Heute fuhr der Botschafter ab und sein Stab und alle deutsche Konsuln im Lande. Irgendeinen wollte er noch sprechen; der sollte eine Nachricht mitnehmen an seine Mutter.

Keinen Brief, o nein! Der dänische Dampfer, dem die deutsche Unterseebootblockade England verschloß, würde doch den Herrn der Meere als treues Hündchen gehorchen. Würde Halifax anlaufen: da würde man ihn so gründlich untersuchen wie in Kirkwall auch, da würde der Engländer jedes kleinste Fetzchen Papier herunternehmen.

Aber ein paar mündliche Worte – das mochte gehn.

Er kam nicht durch. Planken überall um die dänische Mole, lange Ketten von Schutzleuten und Soldaten. So sehr gefährlich schienen dem Yankee die paar hundert Männer und Frauen, die man aus dem Lande trieb. Wie giftige Tiere. Wie Aussätzige. Deutsche waren es.

* * *

Sternenbanner an allen Häusern, in allen Fenstern, quer über Straßen hin. Union-Jacks daneben, Trikoloren, russische, italienische Flaggen. Japanische, serbische, belgische – ein Meer von Farben; das schrie: Krieg, Krieg gegen Deutschland! Gegen die Hunnen, die Barbaren, die Kindermörder – gegen die Erzfeinde aller Menschheit, die Deutschen.

Er wußte: das war Englands großer Sieg. Hier war er gewonnen, nicht auf den Feldern Flanderns und Polens. Und war zugleich das Ende von Bismarcks Erbe, das Ende Deutschlands. Nun gab es nur eines noch: mit Anstand zu sterben. Was liegt am Menschenleben, dachte er, was liegt am Völkersterben – wenn nur die Geste schön ist.

Die aber würden sie nie haben, nie – die Deutschen nicht! Weil sie solch jämmerliche Stümper waren im Lügen, weil sie die Lüge nie lernen würden, die grandiose Lüge, die an sich selbst glaubt und sich selbst zur Wahrheit lügt. Die giftige, tötende – nie! Und die schöne, hoch hinaushebende – erst recht nicht! Sterben im schönsten Faltenwurf der Toga, Maestuoso, Verklärung – das ist Lüge, Kulisse, Kasperltheater – das wußten sie gut. Verrecken im Dreck, ausgemergelt vom Hunger, bedeckt mit Schwären und Wunden, die Eingeweide zerfressen von Gift und Schmarotzern, angespieen von allem was gesund ist – so geht alle Kreatur zugrunde, und das ist die Wahrheit. So würden sie Untergehn, so: erbärmlich, niederträchtig und gemein.

* * *

Er sollte dableiben. Sollte versuchen nach Mexiko zu kommen, dort arbeiten. Versuchen, ob vielleicht, vielleicht –

Er wußte gut: nun gab es kein ›Vielleicht‹ mehr. Nun stand die ganze Erde wider sein Land – da mochten die Marsmenschen Hilfe bringen!

* * *

Sehr früh fuhr der Zug, der ihn nach St. Louis bringen sollte.

Bei Lotte war er am Abende, um Abschied zu nehmen. Sie speisten, saßen dann in der Bibliothek. So lieb war sie, so lieb.

Hand in Hand saßen sie, plauderten. Müde war er, wie immer nun; es tat ihm wohl, wenn sie seine Hand hielt, wenn ihr Puls eng schlug an seinem.

»Bleib noch, bleib!« sagte sie, jedesmal wenn er Miene machte aufzubrechen. »Bleib noch, nur ein wenig noch, lieber Junge.«

Und er blieb. Er wußte es gut: sie wollte ihn behalten, bei sich, für diese Nacht. Alles Mißtrauen wurde wach in ihm und alle Angst. Aber stärker, viel stärker, war dieser Wunsch, ihr weißes Fleisch zu fühlen. Dieses Sehnen nach ihrer Berührung, nach dem leisen Streicheln ihrer Finger, nach dem leichten Pulsen ihres Blutes. Einschmeichelnd, lullend und wiegelnd.

Er blieb. Noch eine Stunde und noch eine. Saß bei ihr, hielt ihre Hand.

Dann stand sie auf. »Komm!« sprach sie.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein!« flüsterte er. »Ich will nach Hause.«

Sie küßte ihn. »Fürchtest du dich – vor mir?« fragte sie sanft.

Er nickte nur. Starrte sie an, hilflos, flehend. Nur ein Wort noch, o, nur eine Berührung ihrer Hand – dann würde er ihr folgen.

Aber sie sprach es nicht, dies Wort. »Du sollst allein schlafen,« sagte sie. »Nur bleib – daß ich morgen früh dich einmal noch sehe, ehe du abfährst.«

Sie führte ihn in das Zimmer, das neben ihrem Schlafzimmer lag. »Sperr dich ein,« sagte sie, »schließ ab, schieb die Riegel vor. Warte, ich will eine Weckuhr bringen – damit du zeitig erwachst.«

Sie ging hinaus. Er sah sich um – das war das Zimmer, in dem sie zuweilen die Zofe schlafen ließ, wenn sie sich nicht wohl fühlte. Dort stand ein Bett, dort war ein kleines Badezimmer –

Er blieb stehn auf dem Fleck, wo er gerade stand. Rührte sich nicht. O, er sollte doch lieber nach Hause fahren –

Dann kam sie zurück, ausgekleidet schon, nur im Kimono; brachte den Wecker.

»Auf halb sechs hab ich ihn eingestellt,« sagte sie. »So frühstücken wir noch zusammen.«

Er nahm die Uhr, stellte sie vor sich auf den Tisch. Hob endlich die Augen, sah sie an.

Und es war, als ob es ihn hinrisse zu ihr. Kein Wünschen mehr, kein Sehnen – ah, ein Verlangen! Sie – sie –

Sie war sein Leben – sein Blut und seine Gesundheit!

Nur berühren, nur sie berühren.

Er nahm sie, faßte sie, küßte sie. Schlang seine Arme um sie, preßte sie an sich, eng, eng.

»Lotte!« schluchzte er. »Lotte!«

Dann riß er sich los, stieß sie fort. »Geh, geh!«

Und sie ging. »Gute Nacht!« hörte er. Und das Schließen der Tür.

Warum blieb sie nicht? – Warum nahm sie ihn nicht mit? Schreien wollte er, schreien! All seine Qual hinausschreien – all seine Gier –

Aber Angst, Angst! Ah – etwas würde geschehn in dieser Nacht!

Er rief sie nicht zurück. Er ging herum im Zimmer, verschloß die Türen, schob die Riegel vor. Dann nahm er Stühle, rückte sie vor die Türen, stellte auf jeden eine Wasserkaraffe. Das mußte umfallen, wenn man öffnen wollte. Mußte einen Mordslärm machen, ihn aufwecken.

Er setzte sich auf das Bett. Lauschte angestrengt.

Sprang wieder auf. Betastete die Wände, suchte nach einer Tapetentür. Öffnete die Schränke, blickte hinein, kniete nieder, schaute unter das Bett. Nichts. Und kein Laut aus ihrem Zimmer.

Dennoch wagte er nicht, sich auszuziehn, sich schlafen zu legen. Er ging ans Telephon, schellte seinen Sekretär an, hatte viel Mühe, ihn wach zu bekommen. Bestellte ihn zum Bahnhof. Dehnte das Gespräch aus, gab ihm alle möglichen überflüssigen Aufträge.

Setzte sich an den Tisch, nahm Feder und Papier, sann nach, an wen er schreiben könnte. ›Liebe Lotte‹ wurde es – und immer wieder: ›Liebe Lotte‹.

Er strich es durch – zerriß den Bogen, nahm einen neuen. Aber es half nichts –

Da gab er nach. Ah – sie mochte den Brief finden am nächsten Tage, mochte wissen, daß er mit ihr war, nur mit ihr, in diesen Stunden.

›Du‹ begann er, ›du – du‹. Wiederholte es, Zeilen hindurch. ›Liebste, schrieb er, Liebste – du‹ –

Kein Brief wurde es, kein Satz kam zustande. Nur Worte, Worte. Nur ein armseliges Stammeln, ein qualvolles Schluchzen und Stöhnen.

Sehnsucht, Angst und Verzweiflung –

Tränen und Blut.

Dann – dann fühlte er, wie die Hand ihm den Dienst versagte. Er starrte hin – sah die beiden Finger, die die Feder hielten. Still, steif – ohne Bewegung.

Sein Hirn gab den Befehl: drück die Feder hinab – auf das Papier nieder! Schreib!

Aber die Hand rührte sich nicht.

Kalter Schweiß deckte seine Stirn – ein Frösteln faßte ihn, ein Zittern und Schlottern. Ah, bekannt ihm genug – aber stärker heute – soviel kälter. Wie ein Erfrieren war es von unten herauf.

Er kämpfte, kämpfte. Nur auf die Hand ging sein Wille, nur auf die zwei Finger, die die Feder hielten. ›Schreib‹, preßte seine Seele, ›schreib! Schreib noch einmal, ein Wort nur, schreib!‹

Weit, weit offen starrten seine Augen. Glühten hinab auf die Hand, als wollten sie eine letzte Kraft ihr geben. Und er sah, sah, wie sie sich niederbog. Langsam – unendlich langsam – Ah – nun rührte die Feder das Papier.

›Schreib!‹ schrie seine Seele. ›Schreib: Lotte!‹

Da bewegte sich die Feder. Ganz dünn nur – kaum erkennbar. Schrieb: Mutter.

Fiel dann aus der kraftlosen Hand, rollte hin über den Tisch.

Aber das Wort stand da, das letzte Wort – Mutter. Er sah es gut.

Die Lider fielen ihm zu, schwer, tiefschattend. Aber er sah dennoch das dünne Wörtchen: Mutter.

Noch war ein Leuchten in ihm – irgendein Denken. Nun kommt es, fühlte er. Nun kommt – das Ende. Sehr dunkel ist es.

Und wieder: drinnen ist Licht. Wenn er nur aufstehn könnte – die Türe öffnen – zu ihr gehn. Drinnen ist Leben – rotes Leben –

Schwarz alles hier – so sehr dunkel. Alles löste sich darin. Alles – und er.

– Schwer sank sein Kopf auf die Tischplatte.

* * *

Ein rasendes Kreischen und Lärmen, das die Luft zerriß. Ein Schneiden und Hämmern und Pfeifen, ein wildes Krähen von hundert Hähnen, denen die Köchin das scharfe Messer durch die Gurgel zog.

Da wurde er wach.

Mitten im Zimmer stand er. Was gab es nur?

Er rieb sich die Augen – blickte um sich. Ah: die Weckuhr! Er ging zum Tisch, stellte sie ab. Halb sechs – ja doch – da sollte er aufstehn.

Völlig angekleidet war er. Er wandte sich um: zur Seite geruckt war der Stuhl, den er vor die Türe zu Lottes Zimmer gestellt hatte – die Wasserkaraffe stand daneben auf dem Teppich.

Und weit offen gähnte die Türe.

Er lauschte hinüber – keinen Laut hörte er.

So schlief sie noch, trotz des gräßlichen Weckers?

Dann fühlte er einen Geschmack auf der Zunge. Süß, sehr süß – wie ein leichter Brechreiz war es. Übernächtigt, dachte er.

Aber er stutzte – kannte er nicht diesen seltsamen Geschmack?

Er schloß die Augen – sann nach – leckte seine Lippen. Stärker schmeckte er es – süß, seltsam süß. So schmeckte es – genau so – als einst auf der Mensur sich die Zunge hinausstahl aus den Lippen.

Blutgeschmack!

Mund spülen, dachte er, Zähne putzen –

Er ging ins Badezimmer, trat vor den Toilettentisch. In den Spiegel fiel sein Blick.

Sah –

Blutig war sein Mund, voller Blut das Kinn. Und große Blutflecke zeigten Kragen, Hemd und Rock –

Und seine Hände – die Hände –

Rot, rot, als ob sie gebadet hätten in Blut.

Er starrte auf das Bild da im Spiegel. Das war er, er – Frank Braun. Überströmt mit Blut.

Was denn, was?

Er stürzte in Lottes Zimmer – hin an ihr Bett. Da lag sie – bleich – o so bleich! Eingewühlt in Kissen und Linnen, zugedeckt bis zum Kinn –

Aber Blutspritzer überall – große, rote Flecken, wohin nur sein Auge sah. Und auf dem Nachttisch, wild durcheinander, blutige Messerchen –

Er riß die Tücher zurück und ihr Hemd. Und er sah ihre Brust – sah Schnitte und Stiche – So viele Wunden –

Welch Tier – welch wildes, gieriges Tier hatte –?

Welch grausame, ekle Bestie – –

Ah: er! Er!

In die Knie sank er.

»Lotte! Lotte!«


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