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VIII. Hyazinthe

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»Wenn jemand von bösen Geistern oder durch Besprechungen verhext ist, so daß er allen Verstand einbüßte, dann nimm ein reines Weizenbrot, sehr heiß. Schneide in die obere Kruste ein großes Kreuz hinein – aber gib wohl acht, daß du nicht ganz durchschneidest. Fahr mit einem Hyazinthstein an diesem Kreuze vorbei und sprich dazu die Worte: »Möge Gott, der alle edlen Steine dem Teufel fortnahm, auch von dir alle bösen Geister und Besprechungen wegnehmen und dich erlösen von deinem Wahnsinn«.«

Hlge. Hildegard. Äbtissin von Bingen. (XII. Jahrh.)

 

Als Frank Braun diesen Nachmittag nach Hause kam, saß sein Sekretär sehr nachdenklich vor der Schreibmaschine, beide Hände im Schoße.

»Nun, was haben Sie ausgefunden?« fragte er.

»Ich habe ausgefunden,« antwortete Rossius, »daß ich weder Ihr Füllfederhalter bin, noch Ihr Sektquirl. Daß ferner – wenn Sie ein Pferd hätten, eine Frau oder ein Fahrrad – ich vermutlich auch keines von diesen Dingen sein würde. Gibt es sonst noch Sachen, die man nicht gern verleiht, weil man sie nur sehr beschädigt oder überhaupt nicht wiederbekommt?«

»Hm –« sagte er, »die Zahnbürste. Die kriegt man zwar gewiß wieder und meist wenig beschädigt – aber man verleiht sie doch nicht gern.«

Der Sekretär erwiderte: »Dann bin ich eben Ihr Zahnbürstel auch nicht. Denn mich verleihen Sie nach Herzenslust – jeden Tag muß ich bei einer andern Zeitung aushelfen – oder bei einem der Komitees. Und dabei bin ich nur Anhängsel – Sie verleihen die Schreibmaschine – und da gehöre ich so mit dazu.«

»Sagen Sies doch, wenn Sie keine Lust haben!« lachte Frank Braun. »Kein Mensch zwingt Sie.«

»Doch!« seufzte Rossius, »das ist es eben. Ich bekomme überall ein paar Dollar extra – mein Fräulein Braut braucht wieder einen neuen Hut. Vorhin hat Herr Tewes angerufen –«

»Was sollen Sie für ihn schreiben?« forschte er.

»Fragen Sie ihn selber – ich weiß es nicht. Er kommt her, will hier diktieren.« Er sprang auf. »Da klopft es, da ist er schon.«

Der alte Diener meldete den Referendar Christoph Frylinghuis.

»Der?« schluckte Frank Braun. »Nun, in Gottes Namen.«

Der Referendar trat ein. Aber Tewes folgte ihm auf dem Fuße, warf Stock und Handschuhe auf einen Stuhl.

»Zigarren – Doktor?« rief er. »Wo steht Ihr Kistchen?« »Entschuldigen Sie, daß ich herkomme – aber ich muß für den Wachtel – wissen Sie, den dicken Metzger, den Vorsitzenden des Landwehrvereins – eine Stiftungsfestrede machen. Auf der Redaktion ists unmöglich – fünfzig Menschen in einem Raum – man versteht sein eignes Wort nicht. Nach Hause ists zu weit – das dauert drei Stunden nach Yonkers und zurück. Da komme ich her – hier ist man wenigstens ungestört.«

»Und stört niemanden, was?« rief Frank Braun.

»Gott, ja, natürlich stört man!« lachte der Journalist. »Da müssen Sie sich halt dran gewöhnen. Tee? Kann uns Rossius nicht Tee machen? Wissen Sie schon, daß Belgrad genommen ist – eben haben wir die Nachricht bekommen. Dann – ja, geben Sie mir doch mal Ihre Reden – da werde ich schon was Passendes finden für meinen Metzgermeister. Ich streiche alles heraus, was einigermaßen menschlich ist und lasse nur die faustdicken Phrasen stehn – und die werden noch einmal frisch angestrichen. Das spart mir die halbe Zeit – und wird grandios wirken bei den Kriegern.«

Er lief herum, war überall mit seinen langen Flügeln. Holte die Zigarrenkiste, setzte den Wasserkessel auf den elektrischen Kocher, trug Tassen, suchte die Vortragsmappe.

»Setzen Sie sich doch endlich!« fauchte Rossius. »Sie sind mir überall im Wege. Erst Tee trinken – das schafft Ihnen die nötige Ruhe – dann können Sie mir Ihr Meisterwerk diktieren.«

»Na, was führt Sie her, Herr Frylinghuis?« redete Frank Braun den Referendar an. »Gehts Ihnen gut in Ihrer neuen Stellung?«

»Gut?« seufzte der Referendar. »Hinausgeworfen bin ich nach zwei Tagen.« Er war klein und untersetzt – früher mußte er einmal dick gewesen sein, aber nun schlotterten ihm die Kleider rings um den Leib. Nur der Kopf war rund und rot geblieben – dieser Kegelkugelkopf, der sich fortzusetzen schien in dem spargeligen gleichstarken und gleichroten Hals. Er war rasiert und hatte nur wenig Haare noch auf dem Schädel – aber Schmisse, Schmisse überall. Auf beiden Seiten, über Kinn und Wangen und Schläfen und Ohren, dicht auf dem Kopf und hinab die Stirn und die Nase – das schrie durch alle Gassen: ich bin ein deutscher Student. Sein rechter Arm war ausnehmend kurz – da war es kein Wunder, daß ihm auf der Mensur ein jeder hineinlangen konnte, wo er nur wollte.

Der Mann war sein Schmerzenskind – es war nichts mit ihm anzustellen: er war Referendar und sonst nichts. Früh verwaist, hatte er sein kleines Vermögen auf der Universität verbraucht und im Korps, war grade zu Ende damit, als er glücklich das Examen machte. Es gelang ihm, im Kolonialdienst unterzukommen – man hatte ihn nach Samoa geschickt – dort lernte er Whisky trinken. War dann über den Pazifik gekommen – und nun war er da, suchte, suchte – und fand nichts.

»Warum ging es nicht auf der Farm?« fragte er ihn.

Der Referendar schlürfte seinen heißen Tee. »Weil ich Heuschnupfen habe! Das ist nun schon der dritte Versuch auf dem Lande – ein Tag, zwei Tage – länger gehts nicht. Dann triefen die Augen, dann läuft die Nase und ich wanke herum wie im Fieber – ich kanns keinem verdenken, wenn er mich fortjagt.«

Frank Braun haßte diesen Mann, dem er doch immer wieder half. Er hat kein Glück, dachte er – und er bringt Unglück!

»Klingeln Sie doch die Arbeiterhilfe an,« schlug Tewes vor. »Die Herren haben schon einer Reihe von Akademikern Stellung besorgt.«

Der Referendar schüttelte den Kopf. »Mir auch – aber es hält nicht. Es ist immer dasselbe – ich kann nichts. Länger als eine Woche hat mich nie einer gehalten – und dann wars nur Gnade und Barmherzigkeit! Ich kann weder Kurzschrift noch Schreibmaschine und meine Handschrift ist unerträglich schlecht.«

»Warum lernen Sie denn nicht?« fragte Tewes.

»Ich habs versucht – es geht nicht,« jammerte der Unglücksmensch und streckte seine kleine Hand vor mit den wurstigen Fingern. »Ich bekomme den Schreibkrampf, sowie ich eine halbe Stunde dabei bin. Wohl dreißig Berufe habe ich nun hier versucht. Ich war Geschirrwäscher – mehr als einmal – aber ich bin so ungeschickt, daß ich mehr zerschlage, als ich verdiene am Tag. Als Plakatträger habe ich mir die Sohlen durch- und die Füße wundgelaufen. Ich war ›Grüßaugust‹ in einem Restaurant – das war gut bezahlt und ich hätts durchgeführt, so beschämend es war. Aber der Wirt mußte mich wegschicken, einem Teil seiner Gäste gefiel ich zwar, die lachten über mich, aber die andern behaupteten, daß sie nicht essen könnten, wenn ich als lebendes Tartarbeefsteak da auf und ab wandle.«

»Sprechen Sie Englisch?« forschte der Redakteur.

Ein neuer Stoßseufzer kroch aus des Referendars Lippen. »Ja – ja! ich kann alles lesen und verstehn und sprechen. Aber ich habe mir in der Südsee das verdammte Pigeon so angewöhnt, daß mich jedermann hier auslacht. Das kostet mich schon drei Stellungen. Die Leute meinen, wenn sie einen Nigger haben wollten, da würden sie lieber gleich einen echten nehmen. – Ich war auch Nachtwächter und Ausrufer und –«

Frank Braun unterbrach ihn gereizt. »Schon gut, wir wissen, was Sie alles waren.« Aber gleich wieder bedauerte er seinen schroffen Ton, fügte hinzu: »Ehe ich im Sommer fortfuhr, meinte Dr. Ulrich von der Deutschwehr, daß er Sie vielleicht verwenden könne – wir können ihn mal anfragen.«

»Er hat mich schon verwandt –« stöhnte der Referendar. »Er hat mich nach Rochester geschickt, da sollte ich die neugegründete Deutschwehr organisieren. Es ging ganz gut, ich habe Propaganda gemacht, viele Mitglieder geworben, war bald sehr beliebt an allen Stammtischen. Aber –«

»Nun, Sie Unglücksrabe,« rief der Tewes, »worüber sind Sie gestolpert?«

Drei Seufzer – und ein langes verzweifeltes Schlucken. »Ich mußte Reden halten. Hier ist meine Rede –« Er nahm ein Manuskript aus der Tasche, fegte damit in der Luft herum. »Sie ist so gut wie jede andere. Aber es ging doch nicht – ich kann die Rampe nicht vertragen. So wie ich oben stand, bekam ich kindische Angst – und als ich endlich doch den Mund auftat – war es ein elendes Stottern. Die Leute lachten seelenvergnügt; endlich nahm einer meine Bogen und las meine Rede ihnen vor. Geschadet hat es nichts in Rochester – sicher nicht – aber ich muß Dr. Ulrich recht geben, wenn er meint, daß ich zur Propagandaarbeit unfähig sei: dazu muß man eben reden können.«

»Ja, Mensch,« lachte der Tewes, während er ihm eine Zigarre gab, »was können Sie Prachtexemplar denn eigentlich? Was haben Sie gelernt?«

»Ich – bin – Referendar,« hauchte der arme Teufel. Er nahm seine Visitenkarte heraus und gab sie ihm. »Referendar Christoph Frylinghuis, bitte. Ich war aktiv in Marburg bei den –«

Der Journalist warf einen Blick auf die Karte. »Wissen Sie, Mensch, Sie müssen sich Doktor nennen – so fängts mal an. Wenn Sie mit dem Gesicht hier herumlaufen, ohne den Doktortitel, hält jeder Sie für einen verbummelten Studenten – das flößt Mißtrauen ein.«

»Aber ich habe mein Doktorexamen nicht gemacht,« meinte der Referendar.

Der Tewes rief: »Gemacht – nicht gemacht – was kommts darauf an! Bilden Sie sich ein, daß Sie hier jemand nach den Papieren fragt?«

Der andere antwortete – und zum ersten Male klang ein wenig Festigkeit aus seiner Stimme: »Nein – das tu ich nicht. Das wäre Schwindel.«

»Wie es Ihnen beliebt!« höhnte der Journalist. »Haben Sie noch nicht bemerkt, daß dies ganze Land nur vom Schwindel lebt? Wenn man nichts hat und nichts ist und nichts kann – wie Sie – und dazu sich noch den Luxus leisten will, jeden kleinen Schwindel stolz zurückzuweisen – so wird mans erstaunlich weit bringen in Neuyork! Das können Sie mir glauben.«

»Aufs Wort glaube ichs Ihnen,« sagte der Referendar, »bis in die Knochen bin ich davon überzeugt.«

Er wandte sich an Frank Braun. »Herr Doktor, darum kam ich heute nachmittag zu Ihnen. Ich weiß, daß ich Ihnen lästig falle, ich weiß es! Sie haben mir so oft geholfen –«

»Wieviel brauchen Sie?« unterbrach er ihn.

»Nein, das ist es nicht –« antwortete der andere. »Mit dem Gelde, das ich auf der Farm verdiente, habe ich gerade meine Wäsche bezahlen können. Eine Schlafstelle habe ich nicht – keinen Cent in der Tasche – und seit gestern noch nichts gegessen –«

»Lassen Sie gleich ein paar Butterbrote machen,« wandte sich Frank Braun an Rossius. »Danke,« sagte der Referendar. »Aber, wie gesagt, das ist es nicht! Und wenn Sie mir wieder Geld geben – so ist es doch in wenigen Tagen alle. Und wenn Sie mir eine neue Stellung verschaffen, so werde ich doch nach vierundzwanzig Stunden weggejagt. Herr Doktor – ich – ich –«

Er schluckte, druckste und schluchzte. »Ja, was wollen Sie denn, Herr Frylinghuis?« fragte Frank Braun.

Der Referendar riß sich zusammen. »Sie – ich –« begann er. »Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, Herr Doktor, besorgen Sie mir einen Paß! Ich habe gedient, ich bin Vizefeldwebel – und sie würden mich als Leutnant einstellen – da kann ich was tun – da drüben! Hier geh ich zugrunde –«

Der Tewes schlug eine laute Lache auf. »Sie – Sie wollen nach Deutschland? Und wenn Ihnen der Präsident eigenhändig den schönsten Yankeepaß ausstellen würde und seinen Namenszug noch obendrein beglaubigen ließe von seinem Vorgesetzten, König Georgs Gesandten – so würden Sie mit Ihrem Gesicht doch sicher nicht in Deutschland, sondern nur in einem englischen Gefangenenlager ankommen! Mit den Schmissen sind Sie ein deutscher Student und bleiben es bis an Ihr seliges Ende. Wir haben ja die Bestimmungen der britischen Seeoffiziere, die die Dampfer untersuchen, Doktor, zeigen Sie ihm die doch! Gleich auf der ersten Seite stehts, daß sie jeden festnehmen sollen; der ›deutsche Quernarben‹ im Gesicht hat – ganz ohne Rücksicht auf alle Papiere. Und Sie, Herr, haben Schmisse für Zwanzig – deutsche Quernarben, wie es die Engländer so hübsch nennen. Nein, Herr, nein! Wir sparen das Geld nicht, und benutzen – trotz Ihnen – jeden großen und kleinen Schwindel und jeden Kniff und Pfiff – um Offiziere hinüberzuschaffen und alle, von denen wir glauben, daß sie Deutschland drüben von Nutzen sein können. Aber wir haben keinen roten Cent übrig, um dem englischen Saupack einen Gefangenen mehr zuzuschanzen!«

Der alte Diener kam herein, brachte einen Teller mit Butterbroten. »Hier ist auch die neue Kupferschnur für den Kochapparat!« sagte er.

»Danke,« sagte Frank Braun, »diesmal hat die alte noch gehalten.« Er nahm die braune Schnur, spielte damit. »Sie müssen sich trösten, Herr Frylinghuis, mit der Reise ists nichts, das müssen Sie einsehn. Bitte – greifen Sie zu!«

Der Referendar schlang die Schnitten hinein. »Natürlich sehe ich es ein,« stöhnte er. »Ach – die Schmisse! Einmal habe ich ausgepaukt – achtzehnmal haben sie mich abgestochen. Und gebuttert hats bei mir – jedesmal – wie bei keinem andern. Aber gestanden habe ich, Doktor, gestanden –«

»Wie ein Fels im Meer!« spottete der Redakteur.

»Lachen Sie nicht,« bat er mit vollen Backen kauend, »es war wirklich so. Sie hätten mich zu Mus hacken können – und ich hätte doch nicht gezuckt. Ich war dreimal Zweiter – Fechtwart, wissen Sie – obwohl ich, mit dem kurzen Flügel, der elendesten Stöpsler im ganzen S. C. war. Noch Semester nach mir sagten sie in Marburg: ›Der steht wie der Frylinghuis‹.«

»Mich haben sie nie zum Zweiten gemacht,« sagte Frank Braun nachdenklich. »Obwohl ich ein sehr guter Fechter war, manchmal, wenn es gerade mein guter Tag war. Sagen Sie mal, Frylinghuis, haben Sie jemals Blut geleckt auf der Mensur?«

»Blut geleckt?« wunderte sich der andere. »Was meinen Sie damit?«

»O – was ich sage,« fuhr Frank Braun fort. »Auf meiner dritten Fuchsmensur war es, auf der ich mich zum Burschen pauken sollte. Der Preuße schlug mir die Temporalis durch, und das Blut floß warm über die linke Wange. Da vergaß ich, daß ich den Schläger in der Hand hielt. Ich sah nichts – aber ich fühlte, wie rot das Blut floß, so rot und weich und warm. ›Bist du verrückt,‹ zischte mein Leibbursch, der mir sekundierte, ›mach die Klappe zu! Steck die Zunge rein!‹ – Da merkte ich erst, daß ich Blut leckte. Ich tat, wie er sagte – aber sie kam doch wieder heraus, die Zunge – das Blut zog sie an. Und ich stand sehr schlecht auf dieser Mensur – wie ein Schwein, sagte mein Leibbursch.«

»Und das haben Sie immer so gemacht?« fragte der Referendar.

»Immer? Nein!« antwortete er. »Ich sagte ja, daß ich sehr gut focht, oft genug, manchen abstach auf Durchzieher und Hakenquart. Aber dann zuweilen – kam es wieder – ohne daß ichs wollte und wußte. Dann leckte ich Blut, vergaß völlig, wo ich war und was ich tat. Sagen Sie mir, Tewes, wenn ich jetzt ganz plötzlich ausholen würde, um Ihnen mit dem Messer auf den Kopf zu schlagen – was würden Sie im Augenblick tun?«

»Im Augenblick?« antwortete der Journalist. »Nun die erste Bewegung würde vermutlich die sein, den Arm hochzureißen, um den Schlag aufzufangen.«

»Das war genau das, was ich einmal tat auf der Mensur,« sagte Frank Braun, »als ich trunken war von meinem eigenen Blut. Ich riß die linke Hand aus dem Gürtel vom Rücken, warf sie hoch –«

»Was?« rief der Referendar entsetzt. »Was? Das ist ja scheußlich! – Sie wurden doch hoffentlich hinausgeklebt?!«

»Natürlich!« lachte Frank Braun. »Umgehend – solche Scherze darf man sich nicht erlauben auf unsern Mensuren: elendes Kneifen nennt man das! Dimittiert wurde ich, auf unbestimmte Zeit – wie es sich gehört. Und sie gaben mir die drei schwersten Partien, die sie finden konnten, um mich wieder reinzupauken. O ja – Blut lecken trägt wenig bei zu einem guten Stehn auf der Mensur.«

»Das will ich meinen!« nickte der Referendar mit tiefster Überzeugung. »Mir wäre so etwas nicht passiert.« Aber dann, plötzlich, brach sein bißchen Selbstbewußtsein wieder zusammen. »Was nutzt mir heute mein gutes Stehn!« sagte er kläglich. »Herrgott, was mache ich nur? Was soll ich anfangen?«

»Nichts kann man mit Ihnen anfangen,« höhnte der Journalist. »Hier nimmt keiner Unterricht im – Stehn!«

Frank Braun sagte: »Hängen Sie sich auf.« Das kam aus seinen Zähnen, ohne daß er es wollte. Er dachte es so – und sprach es zugleich. Es klang ernsthaft – das tat ihm leid im Augenblick. Und dennoch wiederholte ers, betonend und sehr bestimmt: »Hängen Sie sich auf. Das ist das einzige, was Ihnen übrig bleibt.«

Der Referendar zog die Brotschnitte vom Munde. Er starrte ihn an, stammelte: »Ist das Ihr Ernst, Doktor? Ist das wirklich Ihr Ernst?«

Frank Braun hielt seinen Blick.

Etwas riß ihn, zog ihn vorwärts. Es war ihm, als ob er auf der Bühne stände, als ob er dem Publikum – seinem Sekretär und dem Journalisten – etwas vormachen müßte. Zeigen, was er könne, welch ein Mensch er sei: der andere beherrsche, niederzwinge zu seinen Füßen, sie zu Sklaven mache und zu willenlosen Geschöpfen, zu Spielzeugen für seine frivolsten Launen.

»Lieber Herr,« begann er, »haben Sie denn selbst nie daran gedacht? Sie sind Korpsstudent – sind Offizier – ist Ihnen denn jede Ehre und Selbstachtung schon so verloren in diesem Lande? Der Krieg wird noch Jahre dauern, das wissen Sie so gut wie wir, Sie können nicht hinüber – nie! Und ebensowenig werden Sie hier etwas finden. Sie sind unfähig – zu allem – was sich auch denken läßt.«

»Ja – ja –« stöhnte der Referendar.

»Was nutzt das Heulen?« fuhr er fort. Unerbittlich klang seine Stimme, schneidend und scharf. »Sie müssen sich klar darüber werden – daß Sie auch nicht die geringste Aussicht in diesem Lande haben. Im allerbesten Falle fretten Sie sich so weiter – bekommen einen jämmerlichen Job für einen oder zwei Tage, der Ihnen ein paar Dollar einträgt, und suchen dann wieder ein paar Wochen herum. Und inzwischen, lieber Herr, leben Sie vom – Bettel! Bleiben Sie nur sitzen, regen Sie sich nicht auf – es ist notwendig, daß Sie einmal den Dingen klar ins Auge sehen. Solange Sie von mir Geld bekommen und von andern. Redakteuren und Stammtischleuten, mögen Sie's Pump nennen – obwohl Sie ja genau wissen, daß Sie nie die leiseste Möglichkeit haben, das Geld je wiederzugeben. Aber einmal hört das auf, nicht wahr? Dann laufen Sie zu den Unterstützungskassen der Pastoren – die Ihnen wieder helfen – bis sie sehn, daß dem Referendar Frylinghuis eben nicht mehr zu helfen ist. Sie wissen ja mittlerweile, was Hunger ist – aber man kann gut einen Tag hungern oder zwei – wenn man die sichere Hoffnung hat, dann jemanden zu finden, der einem die Mittel gibt, sich wieder sattzufressen. Warten Sie nur den Tag ab – wo Sie nirgend auch nur einen Nickel mehr bekommen werden.«

Die dicken Tränen rollten dem Unglücklichen über die Wangen. »Und Sie, Herr Doktor, Sie würden auch mich im Stich lassen?«

»Ich?« antwortete er hart. »Natürlich!« Er wußte, daß er log, daß er diesem Menschen – ob er ihn gleich haßte – dennoch geben würde, wieder und immer von neuem. Aber er fühlte zugleich, daß er sich dieser kindischen Schwäche schämte, dieser albernen Gutmütigkeit, die ihm jedes ›Nein‹ von den Lippen schleckte. Was ging es die Leute an, daß im Kern seines Herzens eine weiche Güte sich breit machte, die mit litt und mit liebte – überall und immer? Hochmütig war er bei alledem – nein, nein, dieser Mensch hatte kein Recht, in seine Brust zu sehn. »Man gibt eben so her,« sagte er, »ich, wie tausend andere.«

»Sie geben mehr weg, als Sie für sich selber gebrauchen!« rief der Referendar. »Ich weiß es, ich weiß es genau.«

Frank Braun zog die Schultern hoch. »Und wenn es so wäre – so tue ichs, weil ich leichtfertig bin und leichtsinnig und keinen rechten Begriff von Geld habe und von allen möglichen Pflichten. Aber sehn Sie, zuweilen habe auch ich einen lichten Augenblick und dann weiß ich, daß es eine Affenschande ist, Ihnen Geld zu geben. Die Dollarnoten, die ich Ihnen gebe, nehme ich andern weg, die sie besser gebrauchen können. Ihren sichern Zusammenbruch schiebe ich um ein paar jämmerliche Tage auf und derweil geht ein anderer zugrunde, der sich leicht hätte hocharbeiten können. Es ist verbrecherisch, Ihnen Geld zu geben.«

Der Referendar wischte die Tränen von den zerfetzten Wangen. Er starrte ihn an, lange, sprachlos, fassungslos. »Sie – Sie wollen – mir nicht mehr helfen?« stotterte er.

Er wollte ›Nein‹ sagen – und es ging nicht. – ›Nun ist es genug,‹ dachte er. ›Nun gib ihm – und du mußt ihm mehr geben diesmal.‹ – Und dann wieder: ›Das ist feige – du mußt ihn fortschicken.‹ – Aber es ging nicht, ging nicht: langsam schob er die Hand zur Tasche, um sein Scheckbuch zu nehmen.

Dann, plötzlich sprang er auf: »Nein!« schrie er. »Nein! Nein! – Hängen Sie sich auf!« Er warf ihm die Kupferschnur hinüber. »Das ist ein prächtiger Strick – hängen Sie sich auf!«

Der Referendar nahm die Schnur vom Boden auf, atmete tief und schwer. Seine Stimme klang weich und still, aber doch seltsam fest. Er sprach: »Sie haben recht – es ist sicher das Beste.« Er spielte mit der Schnur, betrachtete sie lange, sagte dann: »Darf ich mich hier aufhängen, Herr Doktor?«

»Danke schön!« lachte der Journalist. »Das wäre eine schöne Schweinerei. Polizei – Untersuchung und ein großes Geschrei in den Zeitungen – das ist gerade, was uns noch fehlte. Gehn Sie zum Zentralpark heute nacht – Sie werden eine wundervolle Auswahl finden von Bäumen und Laternen.«

»Es ist nur –« sagte der Referendar, »jetzt habe ich Mut.«

Und wieder war es Frank Braun, als ob er vor dem Publikum stehe – irgendeine Phrase mit großer Geste hinauswerfe, deren sicherer Wirkung er gewiß war. Er trat zu ihm hin, schlug ihn leicht auf die Schulter. »Bitte, wie Sie wollen, Herr Frylinghuis. Benutzen Sie Ihre starke Stimmung und meine Räume. Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden schon alles ordnen hinterher. – Gehen Sie durch zum Schlafzimmer, dort, neben dem Badezimmer ist mein Ankleideraum. Da sind genug starke Haken in der Decke.«

»Danke,« sagte der Referendar, ganz ruhig und sehr gefaßt. »Darf ich die Butterbrote aufessen? Bitte eine Tasse Tee! Und wenn Sie die Güte hätten, mir noch eine Zigarre zu geben?«

»Bitte, bedienen Sie sich!« erwiderte er. Sie saßen herum; der Referendar aß, trank und rauchte.

»Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?« fragte Frank Braun. »Mitteilungen? Briefe?«

»Meine Eltern sind lange tot –« erwiderte der Referendar. »Nähere Verwandte habe ich nicht. Wenn Sie so liebenswürdig sein wollten, an meine vorgesetzte Behörde zu schreiben – und dann an mein Korps.«

»Sehr gerne!« nickte er. »Was soll ich schreiben?«

»O, daß ich tot bin,« sagte der andere. »Nur erwähnen Sie nichts von der Art, bitte.« Ein kleines Lächeln zuckte um seine Lippen. »Er steht wie der Frylinghuis – heißt es in Marburg – das ist doch etwas, etwas. Und ich möchte nicht gerne, daß sie sagen würden: ›Er hängt wie der Frylinghuis‹.«

Dann stand er auf. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Für alles, was Sie für mich taten. Und auch dafür, daß Sie heute die Augen mir weit öffneten.«

Frank Braun sprach kein Wort. Faßte mit den Zähnen die Unterlippe, biß, biß.

»Leben Sie wohl, meine Herrn!« sagte der Referendar. Er gab jedem die Hand, verbeugte sich, die Hacken zusammenschlagend. Nahm seine Schnur, ging langsam nach hinten.

Rossius sah ihm nach, wandte sich dann, ihm nachzueilen.

»Was wollen Sie?« rief Frank Braun.

»Ihn zurückhalten!« antwortete der Sekretär. »Der tuts wirklich!«

Frank Braun zischte: »Bleiben Sie!«

Der Redakteur lachte: »Wirklich? Der hängt sich ebensowenig auf, wie ich oder Sie! Sie sollen mal sehn, wie nett er wiederkommt nach kurzer Zeit – und dann kostets ein Extraschmerzensgeld.«

Frank Braun antwortete nicht. Er stand, aufgereckt, unbeweglich, mitten im Zimmer; blickte nach hinten.

Das Manuskript der Rede des Referendars lag zwischen den Tassen. Tewes nahm es auf, blätterte darin herum. »Das kann ich gebrauchen für meinen Metzgermeister, fast wie es da ist. – Geben Sie mal Ihren Federhalter, Rossius! Ein paar Striche hinein – dann drei Sätze zum Anfang und ebensoviel zum Schluß – diese Erbschaft spart mir eine halbe Stunde Zeit.« Und er saß schon, verbesserte, strich, schrieb, wie einer, der das Handwerk gründlich kennt. Reichte dem Sekretär ein paar Seiten hinüber. »Da, tippen Sie! Nur die Seiten, die stark korrigiert sind – und die, die gar zu schmutzig sind. Die übrigen bekommt mein Metzgermeister, glatt wie wir sie geerbt haben.«

Von hinten her hörte man einige Laute. Rossius richtete sich auf. »Er singt!« sagte er.

»Talmischwanengesang!« lachte der Redakteur. »Was ist es denn?«

Sie schwiegen, lauschten. Halblaut, aber hell und deutlich genug klang es durch die Räume:

»Bruder sauf einmal! – Du bist ja noch jung!
Im Alter ist zur Knackerei noch immer Zeit genung!
Denn die vollen Gläser sind für junge Leute –
Darum laßt uns heute
Frisch und fröhlich sein!«

Frank Braun dachte: ›Das Leiblied der Hasso-Nassovia in Marburg. Wann hörte ichs doch zuletzt?‹

Und es klang:

»Bruder, rauf einmal! – Du bist ja noch jung!
Im Alter ist zur Kneiferei noch immer Zeit genung!
Denn die langen Schläger sind für junge Leute –
Darum laßt uns heute
Frisch und fröhlich sein!«

Wieder dachte er: ›Der hat nie gekniffen – und wird es jetzt nicht tun. Der hat keine Angst – vor dem Strick so wenig, wie vor dem Schläger!‹

Und der dritte Vers:

»Bruder küß einmal! – Du bist ja noch jung!
Im Alter ist zur Impotenz noch immer Zeit genung!
Denn die hübschen Mädchen sind für junge Leute –
Darum laßt uns heute
Frisch und fröhlich sein!«

»Nicht übel, seine Lebensphilosophie,« nickte der Journalist. »Raufen und Saufen und Küssen – das möchte ich auch lieber, als politischen Mist zusammenschmieren oder für Metzgermeister Festreden hinsauen! O ja – aber man muß darnach gewachsen sein – und du bist es nicht, mein Junge!«

Nun, heller noch, lauter als bisher:

»Bruder, pump einmal! – Du bist ja noch jung!
Im Alter ist zum – –«

Da brach es ab. Etwas fiel um, stieß polternd auf die Dielen.

Tewes lachte laut auf. »Pump einmal – natürlich – das ist seiner Lebensweisheit tiefster Kern! Und er hat vollkommen recht – solange er noch Leute findet wie Sie, Doktor, denen ein bißchen sentimentale Studentenerinnerung das Herz wie Butter weich macht. Ah, ich kenne sie gut, die Alten Herren von Bonn und Heidelberg und Straßburg! Das spielt den Bürger, den lieben, langen Tag und die Wochen und Monate – aber sowie nur einer kommt und schwatzt was von Rheinfahrten und Bummelliedern, von Quodlibet und langen Messern, von Durchziehern und Landesvätern und andern Kösener Herrlichkeiten – da vergessen sie, daß sie Ärzte sind und Zeitungsfritzen und was immer! Da leuchtets aus ihren Triefaugen, da schwabbelts in ihren Schmerbäuchen, kribbelts in ihren Wurstfingern und im fetten Bierherz, pupperts von der alten Burschenherrlichkeit! Und die alten Stinker – hol mich der Teufel – werden weiß Gott jung für fünf Minuten – und besaufen sich an der Handvoll abgegriffener Worte, als ob sie den schönsten Mosel tränken!«

›Schweig doch!‹ dachte Frank Braun. ›Was weißt du davon!‹

Aber der Redakteur höhnte fort. »Die Einleitung war gut – rauf einmal, sauf und küß! Nun kommt er gleich zurück: pump einmal! – Was werden Sie zahlen, Doktor, für die Serenade?«

Nichts kam. Stille blieb es hinten und stumm. Der Sekretär stand auf von seiner Schreibmaschine, machte ein paar Schritte.

»Bleiben Sie!« flüsterte Frank Braun.

»Schreiben Sie!« rief Tewes. »Der Herr Referendar wird herkommen.«

»Er wird nicht kommen!« beharrte Ernst Rossius. Er setzte sich hin, spannte den Bogen ein, tippte ein paar Worte. Sprang dann plötzlich doch auf, rannte schnell durch die Räume.

»Dummkopf!« brummte der Journalist. »Ich brauche mein Manuskript. Wir haben genug Zeit verschwatzt.«

Da scholl des Sekretärs Stimme, schrill, schreiend. »Doktor!« rief er. »Doktor!«

»Was gibts?« gab Tewes zurück.

»Kommen Sie, kommen Sie schnell!« klang es wieder.

Sie gingen durch die Zimmer mit raschen Schritten. In der Ecke hing er, zwischen den Kleidern, die Fußspitzen nur wenige Zoll vom Fußboden. Neben ihm lag ein umgestoßener Stuhl.

»Ein Messer!« verlangte der Sekretär. Aber Tewes sagte: »Nein – Sie können den Draht nicht rasch genug durchschneiden. Schieben Sie den Stuhl heran.«

Sie hoben ihn auf, stellten ihn auf den Stuhl, hielten ihn fest, lockerten die Schlinge am Halse. Rossius nahm einen zweiten Stuhl, stieg hinauf, löste oben die Schnur vom Haken. Und Sie stellten ihn auf den Boden hin.

Er kam zum Bewußtsein, nach wenigen Minuten schon. Taumelte, schwankte, hielt sich an der Wand, vergrub den Kopf in die Arme. Begriff dann – wandte sich um mit einem Ruck.

»Lumpen!« brüllte er, »Lumpen! Warum habt ihr mich nicht hängen lassen!«

Er schlug um sich, wild, rasend, mit beiden Fäusten, schrie, tobte wie ein Besessener. Traf Frank Braun mit einem guten Faustschlage über Schläfe und Auge, stieß einen wuchtigen Tritt gegen das linke Bein des langen Journalisten.

»Danke,« schrie der, »das traf! Immer sanft, mein rasender Roland!«

Da faßte ihn Rossius von hinten, klammerte sich fest mit beiden Armen um seinen Leib.

»Laßt mich los, ihr Hunde!« kreischte der Referendar. »Laßt mich los.«

Der Sekretär hielt ihn gut und der lange Tewes griff seine Hände und hielt sie fest. »Schrei dich nur aus, mein Junge,« lachte er, »das erleichtert.«

Noch rang er, noch versuchte er sich loszureißen. Aber die wilde Kraft des Augenblicks verließ ihn bald, müde sank sein Kopf zur Brust, seine Beine schlotterten, als wollte er umsinken. So führten sie ihn, schleppten ihn mehr, nach vorne, setzten ihn in den großen Ledersessel.

Frank Braun schellte seinem Diener.

»Wollen Sie Wein?« fragte er den Referendar. Der stöhnte: »Whisky –«

Man gab ihm Whisky, und er trank, ohne Wasser, in großen Zügen. Er sprach kein Wort, saß für sich allein, trank, grübelte.

Der Sekretär setzte sich an die Schreibmaschine. Hinter ihn trat der Journalist, diktierte ihm halblaut. Frank Braun ging ins Badezimmer, kühlte das rasch geschwollene Auge.

Dann kam er zurück, setzte sich neben den Referendar, gab ihm eine Zigarre, reichte ihm Feuer. Der tat ein paar tiefe Züge.

»Was haben Sie da?« fragte Frylinghuis plötzlich.

»Sie haben ihn abgestochen!« lachte der Redakteur. »Die erste glatte Abfuhr, die Sie in Ihrem Leben ausgeteilt haben – sie hat wundervoll gesessen.«

Da reckte sich der andere. Und er lachte, ein stilles Lachen, kindlich, gutmütig, fröhlich fast. »Schade, daß –« begann er. Aber er sprach es nicht aus.

Tewes nahm es auf. »Schade, daß ich nicht auch eine Abfuhr mit bekam, was? Na – vielleicht das nächste Mal! Und nun – wie fühlen Sie sich?«

»Danke,« sagte der Referendar. Stand auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer. Dann setzte er sich wieder, hob sein Whiskyglas, führte es zum Munde. Aber er trank nicht, stellte es wieder auf den Tisch.

»Und jetzt?« rief er. »Und jetzt?«

Frank Braun füllte einen Scheck aus, gab ihn ihm. »Versuchen wirs noch einmal,« sagte er. »Bitte – nehmen Sie! Und – gehn Sie nun.«

Der Referendar nahm das Papier, schob es in die Tasche, dankte. Suchte seinen Hut, reichte allen die Hand, verbeugte sich. »Verzeihn die Herrn die Störung,« sagte er.

Dann ging er.

Der Journalist summte: »Bruder – pump – einmal!« Dann fragte er spöttisch: »Na, wieviel, Doktor?«

»Was gehts Sie an?« rief Frank Braun.

»Narr!« spuckte der Tewes. »Buttergelber Narr! Drei Stellen – was? Schämen sich wohl, die Ziffer zu nennen? Na, wenigstens haben Sie die Quittung zuvor bekommen – und können hübsch damit paradieren: eine Woche lang und mehr.«

Dann ging er ans Telephon.

»Wen wollen Sie anrufen?« fragte Frank Braun.

»Den Deutschen Verein in Newark – wo Sie reden sollen morgen!« rief der Redakteur. »Absagen für Sie, wenn Sie nichts dagegen haben. Und dann will ich Dr. Hertling anklingeln, daß der für Sie einspringt. Denn so können Sie nicht vors Publikum treten, lieber Herr, so nicht!«

* * *

Der Journalist hatte recht. Sein Auge schwoll auf, wurde rot und blau erst, dann gelb und grün – sein Sekretär stellte jeden Morgen sachkundig eine neue Farbenmischung fest.

»Regenbogig ists heute, Doktor!« lachte er. »Wissen Sie, daß Sie mächtig gewonnen haben in den Augen unserer Detektive? Die fragten natürlich – da habe ich ihnen erzählt, daß Sie im Athletikklub mit Jess Villard geboxt und ihm drei Runden gestanden hätten. Die Kerls waren ordentlich stolz auf Sie. – Haben Sie noch was zu tun für mich heute morgen? Sonst will ich zur Staatszeitung fahren – da brauchen sie mich.«

»Fahren Sie,« antwortete er. »Kommen Sie zur Teezeit wieder.«

Das Telephon rief; er sprach mit Ivy Jefferson ein paar Minuten. Nein, er könne nicht mit ihr ausreiten – morgen auch nicht. Er würde sich schon melden, wenn er sich wieder sehn lassen könne.

Dann war es Lotte van Neß, die ihn anrief. Und wieder sagte er: nein – und nein! Er ginge wirklich nicht – sie möge herkommen, wenn sie wolle.

Es war ihm ganz lieb, daß er zu Hause bleiben mußte diese Woche. Er lag auf dem Diwan, stundenlang, grübelte über die müde Leere, die ihn wieder faßte. Dachte nach, was es wohl sein möchte – und was er wohl tun könnte dagegen. Und immer wieder kam ihm der Gedanke an den anonymen Brief – irgendein Gift, dachte er. Und: von Frauen kommt es.

Sein Diener meldete Frau van Neß. Aber sie kam nicht allein; Dr. Samuel Cohn war mit ihr. Das war auch einer nach Lotte Lewis Herzen: deutsch und jüdisch zugleich. Ein guter Einschlag ins Phönizische, so mochte ein reicher Rheder in Karthago ausgesehn haben. Dieses Wellenhaar und die runden, großen Augen, ein bißchen kurzsichtig. Wulstige Lippen über großen, blanken Zähnen, weißgelblich die Haut und ein wenig ungesund – das verlangte Sonne. Sehr fleischig, überfettet fast – nicht genug Bewegung. Ungepflegt dazu – ein junggeselliger Vierziger – der eine Frau brauchte, die für ihn sorgte. In Neuyork geboren, aber deutsch in Erziehung und Empfinden – deutsch auch in seiner Kultur, viel mehr als jüdisch. Sehr gesucht als Arzt und nicht weniger als Redner bei allen Gelegenheiten in ganz Neuyork. Klug und gescheit – und gut dazu.

»Bleiben Sie ruhig liegen,« sagte er. »Nun, was macht das Auge?«

»Es spielt Chamäleon!« antwortete Frank Braun. »Sehr liebenswürdig, daß Sie herkommen, Doktor, aber es ist wirklich nicht nötig. Kühlen – nicht wahr – mit essigsaurer Tonerde –«

Aber Frau van Neß unterbrach ihn. »Ich habe ihn gebeten, mitzukommen. Er soll dich untersuchen.«

Frank Braun sah ihn an, schüttelte den Kopf. »Das ist der Neunte nun, Lotte, bei aller Hochachtung vor Dr. Cohns Kenntnissen – glaubst du wirklich, daß er mehr findet, als die andern?« Er seufzte, ließ sich zurückfallen in die Kissen. »Bitte, untersuchen Sie nur, wenns sein soll!«

Der Arzt ging an seine Arbeit, machte sie gewissenhaft genug. Sprach wenig, fragte nur die notwendigen Fragen. »Das ist ganz gewiß,« schloß er, »ihr Körper ist völlig gesund, innen und außen. Da das blaue Auge – und dann natürlich der chronische Rachenkatarrh vom Zigarettenrauchen.«

»Ich soll weniger rauchen,« rief Frank Braun, »wirklich, ich weiß es!«

»Das können Sie halten, wie Sie wollen,« erwiderte der Arzt. »Mit dem Raucherhusten können Sie dreimal dreihundert Jahre alt werden. Aber wolln Sie mir bitte noch einige Auskunft geben.«

»Fragen Sie nur,« antwortete er.

Ob er jemals Malaria gehabt habe? Wann und wo?

Ja, vor manchen Jahren einmal, in Singapore und Colombo, aber er habe nie wieder einen Rückfall gehabt, in den Tropen nicht und nicht in gemäßigtem Klima. Ob der Anfall stark gewesen sei? Ja, sehr stark. Womit behandelt? Mit Chinin natürlich – mit mächtigen Dosen. Ob er wisse, wo er die Krankheit erwischt habe?

Er sann nach. Zum Ausbruch gekommen war sie auf dem Lloyddampfer – aber bekommen hatte er sie wohl in der Südsee.

Wo? – In Neuguinea.

Ganz harmlos klang es: »Ach, da waren Sie auch? Davon müssen Sie mir erzählen gelegentlich. Sagen Sie doch, gibts dort noch richtige Kannibalen, Menschenfresser? Haben Sie jemals welche gesehn?«

Frank Braun lachte. »Obs da Menschenfresser gibt? Soviel Sie haben wollen – überall in Neuguinea, Neu-Mecklenburg, Neu-Pommern, Bugainville und Buka. Jeder einzelne Papua und Kanake von jedem Stamme wird Ihnen ganz bestimmt alle heiligsten Eide schwören, daß er niemals Kai-Kai gekostet habe – Menschenfleisch ist das. Aber jeder wird gleich hinzufügen, daß der Nachbarstamm nichts Besseres kenne. – Doch kannibalisch sind alle Stämme, wenn sie nur die Gelegenheit haben, ungestraft solche Leckerbissen zu genießen.«

»Alle!« fragte der Arzt. »Meinen Sie wirklich, daß jeder einzelne dort Menschenfleisch frißt, wenn er's kriegen kann?«

»Alle Stämme sagte ich,« antwortete Frank Braun. »Die Missionare behaupten, daß es in jedem Stamme immer nur einzelne Individuen seien, die auf diese Delikatesse schwören, während manche andere desselben Stammes sie nicht anrühren würden. Der Geschmack ist eben verschieden – selbst im Menschenfresserlande.«

»Hm,« machte der Arzt, »ich habe da neulich in der Zeitschrift für Tropenkrankheiten einen ganz interessanten Aufsatz gelesen. Der Verfasser behauptet, daß diese Wilden, die solch unstillbaren Hunger nach Menschenfleisch haben, an einer Krankheit litten – die in ihren Symptomen in etwas der Malaria gleiche. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Symptome mit denen Ihres Leidens einige Ähnlichkeit haben.«

Frank Braun lachte hell auf. »Sie sind entzückend, Doktor!« rief er. Das ist Neuyork – das ist echt amerikanisch! Aber, leider Gottes, habe ich nie den leisesten Appetit auf Menschenfleisch gehabt. Sagen Sie mir, ist der Verfasser Ihres Aufsatzes auch ein Amerikaner?«

»Nein,« erwiderte der Arzt, »es ist ein Deutscher, Professor an dem Institut für Tropenkrankheiten in Hamburg; er war lange Jahre in der Südsee. Sie sollten auch nach Hamburg gehn – da ist der einzige Platz in der Welt, wo man ein klein wenig versteht von diesen merkwürdigen Tropenleiden.«

»Danke für das gute Rezept,« lachte Frank Braun. »Ich werde es benutzen, sowie die Herrn Engländer den Weg zur Apotheke freigeben. Von welchem Insektenstich stammt denn Ihre Kannibalenmalaria?«

»Von gar keinem Insekt,« antwortete Dr. Cohn. »Der Hamburger Arzt behauptet, daß sie von einer Art Fledermaus herrühre, von irgendeinem fliegenden Hunde, der im Schlafe seine Opfer überfällt und mit kleinstem Biß sich eine Öffnung schafft, um Blut zu saugen. Es klingt phantastisch genug, daß dieser Biß nicht nur ähnliche Folgen haben solle, wie der Stich der Anopheles, sondern auch den Durst und Hunger nach Menschenblut und Menschenfleisch erwecken solle. Aber unmöglich klingts nicht, wenn man weiß, was ein Stich der Tsetsefliege, ein Biß von Schlangen oder tollen Hunden alles hervorbringen kann. Da sind fixe Ideen und Wahnvorstellungen aller Art gar nichts Außergewöhnliches.«

Frank Braun horchte auf, wurde stutzig, schwieg; warf dann einen langen Blick auf Lotte van Neß. Sagte endlich lauernd:

»Was hältst du davon, Lotte?«

»Ich weiß nicht,« antwortete sie.

Das stärkte sein Mißtrauen. »Sag mir, warst du nicht auch in Neuguinea, mit deinem Mann?« fragte er.

»Nein,« sagte sie. »Wir kamen mit einem englischen Dampfer von Neuseeland herauf. Waren auf den Hebriden, auf den Salomoninseln – fuhren dann gleich durch nach Yokohama.«

»Ah –« nickte er. »Also in der Südsee warst du? Hast du auch Malaria gehabt?«

Sie sah ihn seltsam an, ihr Auge schimmerte in überlegenem Lächeln, ihre Lippen zogen sich hinauf, zuckten leise. »Nein,« sagte sie leichthin, »nie!«

Aber er dachte: ›Du lügst!‹ – Er wandte sich wieder an den Arzt. »Glauben Sie, daß diese seltsame Krankheit ansteckend ist? Auch von Mensch zu Mensch?«

Dr. Cohn wiegte den Kopf. »Möglich – oder auch nicht: ich habe keine Ahnung. Hier wirds Ihnen keiner sagen können – dazu müssen Sie schon hinüberfahren.«

Frank Braun nickte zustimmend. »Ja, drüben wissen sie's sicher! Sagen Sie mal, Doktor, deucht Sie nicht, daß ganz Europa von dieser Krankheit befallen ist und ein guter Teil der andern Welt noch dazu? Es kommt mir nämlich so vor. Wie wäre es, wenn Sie Ihre Theorie den Völkern der Erde bekannt gäben – vielleicht in einem Briefe an die ›Times‹ oder die ›World‹ oder ›Sun‹? Den Deutschen und Engländern, Russen, Franzosen, Türken und der ganzen Gesellschaft kund und zu wissen täten, daß das alles nur ein bedauerlicher Irrtum sei, nur die Folgeerscheinung einer sehr ansteckenden Südseekrankheit, die kannibalistische Gelüste erwecke und sie zwänge, sich gegenseitig aufzufressen? – Wenn die Völker das einsehn, ist morgen der Krieg zu Ende, und alles zieht regimenterweise nach Hamburg zum Institut für Tropenkrankheiten, um sich impfen zu lassen. Ihnen aber, Doktor, und Ihrem erleuchteten Kollegen von der Alster wird Frau van Neß ein Denkmal setzen lassen, vor den Hamburg-Docks in Hoboken – nicht wahr, Lotte?«

Sie sagte: »Nimm dich zusammen, ich bitte dich! Kannst du nicht ernsthaft bleiben?«

Er trat dicht vor sie hin, sah ihr scharf ins Auge, sagte: »Du kennst mich lange genug, Lotte Lewi. Du solltest wissen, daß ich nie ernsthafter bin, als wenn ich so scherze.«

Aber sie blickte weg, zuckte die Achseln. »Wie du willst.«

Er trat ans Fenster, trommelte an den Scheiben. ›Das ist es,‹ dachte er, ›das!‹

Aber was denn nur? Was? Er strengte sein Hirn an, fand nichts. Keine Zusammenhänge, keine Übergänge, weder Ursachen, noch Folgen – nichts! Er war krank – ja – fühlte sich müde – leer – ausgepreßt, wie eine Zitrone. Also mußte etwas da sein, das das alles schuf – das ihn aussog und austrank.

Lotte – Lotte Lewi? Die ihn liebte durch alle die Jahre, mehr als je eine andere Frau? Es war lächerlich und absurd.

Und doch wuchs in ihm dieses starke Gefühl: es hat mit ihr zu tun. Irgendwie hängt es zusammen mit dieser Frau – oder nicht allein mit ihr nur – o nein – mit andern auch –

Er trat zurück zu den beiden, die ruhig miteinander sprachen.

»Verzeihung, Doktor,« sagte er. »Ich wollte Sie nicht verletzen.«

Dr. Cohn gab ihm die Hand. »Vielleicht tritt ein neues Symptom auf, das uns einen Fingerzeig geben könnte. Dann lassen Sie's mich wissen!«

Er verabschiedete sich, herzlich und warm; Frank Braun geleitete ihn zur Türe.

Als er zurückkam, trat die Frau schnell auf ihn zu:

»Du hast einen Verdacht!« sagte sie. »Auf mich.«

Er antwortete: »Ja – auf dich.«

Schneidend klang ihr Lachen. »Auf mich! – Du?!« Dann nahm sie seine Hand, fuhr ruhig fort: »Sag mir, welchen?«

Er ließ ihr die Hand, die ihre Finger streichelten. »Welchen? Welchen –? Ah – ich weiß es nicht.«

* * *

In dieser Nacht wachte er auf, hell wach, völlig klar im Augenblick. Er drückte auf den Knopf, hielt seinen Finger darauf, minutenlang. ›Ich muß sehr gründlich schellen,‹ dachte er, ›sonst wacht der alte Esel nicht auf.‹ Dann kam der Diener, in Hemd und Hose, sehr verschlafen; fragte nach seinem Begehr.

Ja, was wollte er denn eigentlich? »Bringen Sie Wein,« sagte er, »von dem, den wir letzte Woche bekamen. Ich will ihn versuchen.«

Es war schwül in dieser Nacht. Doch hatte er keinen Durst. Er stand auf, warf den Kimono über, ging in sein Arbeitszimmer, trat an das offene Fenster. Der Mond war hinter den Steinmauern, aber er sah seinen Glanz in der bleichen Straße. Sehr still war es.

Dann kam der Diener zurück, im Frack diesmal und im steifen Hemde. Hielt mit beiden Händen die Silberplatte, auf der die Flasche stand und ein Glas.

Frank Braun setzte sich in den Lehnsessel, »Schenken Sie ein, Fred!« sagte er.

Der Wein war kühl, spritzig und voller Blume. ›Saarwein,‹ dachte er, ›Maximin Grünhäuser‹. Er sah auf das Etikett, freute sich, daß er richtig geschätzt hatte.

Unbeweglich stand der Diener neben ihm, wie aus Wachs, farblos und bleich. »Warum sind Sie nicht rasiert, Fred?« fragte er. Wartete nicht auf Antwort; fügte hinzu: »Es ist gut – Sie können zu Bett gehn.«

Er hörte die weichen Schritte des Alten, hörte die Türe leise schließen. Er trank sein Glas aus, stand auf, setzte sich an den Schreibtisch.

Etwas trieb ihn, die Feder zu greifen, den Block zu nehmen, zurechtzuschieben. Etwas diktierte, sagte: ›Schreib!‹

So schrieb er.

* * *

Die Geschichte vom weißen Wolf.

Da waren viele starke Wölfe, wo der Forst aufstieg zum Hochgebirg. Wo der Fluß herabsprang über felsiges Geröll, wo die Eichen aufhörten und die Kiefern standen und Föhren. Wo die Krähenschwärme die Bäume weiß färbten, wo die schwarzen Vögel den Falken jagten und zu Tode schlugen hoch oben im Äther.

Viele Wölfe, junge und alte. Graue und braune, gelbe auch, ein großes Volk, das das Land beherrschte, wie die Krähen die Luft. Mit denen teilten sie ihre Beute, oft genug, ließen ihnen den Rest des Mahles, wenn sie satt waren.

Einer war unter ihnen, ein weißer.

Er kam zur Welt wie sie und wuchs auf wie sie. Sog an der Mutter Zitzen, fraß das rote Fleisch, das sie brachte – wie seine Brüder. Wurde groß und stark – sprang aus mit ihnen zur Jagd. Wie alle andern.

Aber er war weiß. Gelb waren sie alle und grau und braun – dieser war weiß. Ohne einen Fleck – weiß.

Sie mochten ihn nicht, keiner. Sie sagten, daß er ein Lamm sei, das die Wölfin gefunden habe am Waldesrand. Mitgeschleppt zum Bau – nachdem sie seinen Vater gefressen, den blökenden Hammel, und seine Mutter, das zitternde Schaf. So satt habe sie sich gefressen, so voll und rund, daß sie kein Schaffleisch mehr habe anrühren mögen auf Wochen hinaus. Da habe sie ihn großgesäugt mit ihren Jungen.

Nun habe er Wolfsmilch gesogen und sei groß geworden und stark. Aber ein Lamm sei er doch – ein weißes Bählämmchen – und sei nur auf der Welt, weil die alte Wölfin so übervoll sich gefressen.

Wenn sie ein Reh erjagt hatten, oder eine Hirschkuh, wenn sie herumsaßen und lagen um das verendete Wild, gierig den scharfen Zahn einhieben, das Fell zerrissen und die Lefzen blutig färbten, dann schnappten sie nach ihm, bissen ihn weg. Und ein alter Wolf, ein sehr dunkler, sagte, ihn nähme er nicht mit zur Jagd, ihn nicht. Er leuchte durch die Büsche – das bringe Unglück.

Einmal, als sie laut bellend einen Hirsch jagten, er und zehn andere, über die Wiesen hetzten zu dem reißenden Wasser, wo er nicht weiter konnte, als sie im engen Halbkreise den Starken umlauerten, der mit gesenktem Haupte vor ihnen stand, die mächtigen Waffen zu gutem Stoße bereit, spielten die andern dem Weißen einen Streich. Sagten, er soll von vorne kommen, solle tun, als ob er springen wolle, daß der Hirsch allein nur auf ihn achte. Dann wollten sie den anfallen, von den Seiten und von hinten, sich an seinen Hals hängen, ihm die Adern zerbeißen –

Er tat, wie sie ihm sagten. Aber der alte Hirsch kannte das Spiel, ließ keinen aus den Augen, drehte das mörderische Geweih im Halbkreise von rechts nach links, hin und wieder zurück. – Sie bellten den Weißen an, daß er feige sei, sich hübsch zurückhalte, wo es sicher sei, daß er nicht wage heranzukommen. Ein Lamm sei er, und kein Wolf, das wisse man lange, ein weißes Lämmchen! Und sie hetzten ihn: er solle doch springen, wenn er Mut habe.

Da sprang er mit offenem Rachen geradezu auf den Feind. Der faßte ihn gut, nahm ihn hoch auf die spitzen Waffen, schleuderte ihn weit durch die Büsche. Wandte sich dann, dampfend und röhrend, gegen die andern: die flohen und jagten davon.

Lange lag der weiße Wolf zwischen dem dichten Laub, färbte das grüne Moos rot mit seinem Blute. Erwachte endlich, hinkte und kroch durch den Wald zu der großen Lichtung, wo sich die Rudel trafen, wenn die Sonne sank. Da lachten sie alle und höhnten und spotteten: nun sei es ausgemacht, daß er ein Lamm sei! Nur Schafsblut könne so dumm sein, einem Hirsch mitten ins Geweih zu springen.

Das waren seine ersten Wunden. Aber sie heilten und er wurde blank und weiß wie zuvor und kräftiger noch und viel stärker. Nun ging er allein auf die Jagd; begann mit Hasen und Fasanen, hetzte Rehe bald, brach in die Hürden ein. Würgte einen großen Schäferhund, überfiel einen starken Rehbock und zerriß ihn. Aber wenn er zur Nacht in die Lichtung der Wölfe kam, spotteten sie, ob er Heuschrecken gefressen habe und Frösche? Einer verlangte zu wissen, ob Krötenfleisch gut schmeckte, und ein anderer sagte, er habe ihn am Flusse gesehn, wo er saftiges Gras weidete, wie das Rindvieh.

Alle lachten sie. Und der alte, dunkle, fragte ihn, ob er auch wiederkäuen könne?

Da dachte er, daß er ihnen schon zeigen wolle, daß er Wolfsblut habe, wildes und echtes und besseres noch als sie. Er schlich durch die Wälder, lange Tage lang, bis er die Spur eines Einsiedlers fand. So nannten sie die Hirsche, die allein lebten und ganz für sich, nicht im Rudel mit den andern. Die fürchteten sie alle, und kein Wolf wagte es, sie anzufallen – sie flohen nicht, ließen sich nicht müde hetzen, wußten den Rücken zu decken, trafen mit tötlichen Dolchen jeden, der ihnen zu nahe kam. Er sah die Spur und folgte ihr, fand den mächtigen Hirsch am Waldesrande, schlich heran. Heulte auf, heulte, als ob dreißig aus dem Walde brächen und nicht er nur allein. Sprang zu, hing dem Hirsche am Halse, biß, biß, biß durch, brach nieder mit der schweren Last des stürzenden Tieres. Trank das Blut aus der zerfetzten Kehle, sprang dann auf, schrie weithin, daß es alle Lüfte zerriß, den wilden Ruf der Wölfe, die ein großes Wild zur Strecke gebracht.

Sie kamen heran, einer und noch einer und viele. Sie hörten, was er erzählte, trunken von seiner Jagd, trunken von dem heißen Blute – daß er, er ganz allein, den gewaltigen Einsiedlerhirsch gejagt und getötet habe. Sie gaben ihm keine Antwort, saßen nieder und fraßen, fraßen. Aber als sie zum Platzen satt waren, als nur noch Knochen herumlagen und jämmerliche Fetzen für das Krähenvolk, da meinte einer, er glaube die Geschichte nicht. Und die andern stimmten ein: gefunden habe er den Hirsch, tot, verendet, am Waldesrand. Schon seit Tagen sei der verreckt – man habe es gut schmecken können: Aas sei das und kein frisch erjagtes Wild. Da schlich er fort durch die Nacht, über die weiten Wiesen –

Ein Einsiedler wurde er, wie der Hirsch, den er erjagt, lebte allein durch die langen Zeiten. Sehr einsam war er. Da wuchs sein Mut und seine Kraft und sein Stolz.

Manchmal traf er die andern, wenn sie Spuren folgten. Dann sagte er, das sei sein Wild und es gehöre ihm. Fiel sie an, schnappte zu, biß sie fort. Einmal traf er den großen, dunkeln – im gelben Frühschein, ehe die Sonne herauf war. Er bellte nicht, heulte nicht, fiel ihn an im Augenblick. Würgte ihn tot.

Und die andern schlichen in die Büsche.

Das wußte der ganze Wald, daß ein weißer Wolf da war, und daß er es war. Und die Herden wußten es und die Hunde und Hirten und die Jäger auch. Er stieg hinauf – hoch, hoch, wo nur noch Felsen ragten, nur Vögel noch flogen und verkrüppelte Kiefern im Winde ächzten. Er zog hinab über die Wiesen und Felder, weit hinein, bis dahin, wo die Menschen wohnten. Aus ihren Ställen schleppte er seine Beute.

Er war ein weißer Wolf – war ein Wolf und war weiß – und das wußte jeder im Walde.

Sie setzten einen guten Preis auf ihn, hundert blanke Goldstücke. Und dazu noch sein weißes Fell, das schien den Jägern begehrlicher noch als das rote Gold. Sie zogen aus zu Dutzenden mit guten Gläsern und Flinten, trieben mit vielen Treibern durch die Wälder. Sie sahen ihn auch – einmal und mehr – schossen schnell – und manche brühwarme Kugel sengte sein weißes Fell. Sie stellten Fallen auf und scharfe Fangeisen, legten vergiftetes Fleisch an des Flusses Ufer, dorthin, wo er zu trinken pflegte. Aber er fraß nur die Beute, die er selbst gewürgt, ließ ihre Fleischstücke liegen für dumme Krähen und Füchse. Einmal schlug, versteckt unterm Laub ein Eisen zusammen über sein Bein, da riß er, riß und zerrte, daß sich die Haut löste über den Knochen, sich abstreifte wie ein Strumpf. Er zog das Bein heraus, blutig, roh und zerfetzt. Lag im Dickicht, durch manche Nächte, leckte, bis sich das Fleisch wieder deckte, frische Haut sich bildete über Narben und Rissen.

Und von neuem brach er in ihre Hürden, heißhungrig, wilder als je. Riß einen Ochsen, zerbiß ihm den Hals. Schlürfte das Blut, ließ das Fleisch liegen.

Viele Wölfe waren im Walde, sehr viele, gelbe und graue und braune. Was lag daran? Die Hirten schützten ihre Herden mit Stachelzäunen und scharfen Hunden – und wenn dennoch ein Tier zerrissen wurde, so fluchten sie und vergaßen es dann. Und die Jäger jagten die Wölfe, wie alles Wild, schossen sie, töteten sie – das war nichts Sonderliches. Ein Wolfsbalg nur – und nichts weiter. Aber der weiße – den mußten sie haben. Ihn haßten sie, ihn begehrten sie, von ihm träumten sie – Bauern und Hirten und Jäger – alle.

Im Winter zogen sie aus.

Sie gaben einem Hammel einen Trank, der sein Blut vergiftete, aber ihn leben ließ auf einen Tag und mehr. Ein gutes Gift, das seine große Wirkung erst zeigen sollte an dem Tiere, das das Bockfleisch fraß. Sie hängten ihm eine große Glocke um, trieben ihn in den Wald – da kamen bald die hungrigen Wölfe.

Aber der Weiße riß ihn nieder, er schlürfte sein Blut, ließ den andern das rote Fleisch.

Am andern Morgen kreisten die Menschen ihn ein. Stellten Eisen in großem Halbkreise, gruben Fanggruben, vom Flusse her rings am Waldesrand. So dicht, so versteckt, daß kein Marder durchgekommen wäre. Sie kamen von den Wiesen her, viele Hunderte, Jäger mit ihren Büchsen, Hirten mit dicken Knüppeln, Bauern mit langen Forken und Flegeln. Und Hunde, viele Hunde – die bellten hell in der Treiber Geschrei.

Der weiße Wolf hörte sie gut und er wußte, daß es ihm galt, und ihm allein. Ihm – weil er weiß war. Er sprang durch den Wald, rannte und lief unter den Eichen her, dann hinauf zwischen den Föhren. Da brachen die Hunde herunter, von den Felsen her, und hinter ihnen Jäger und Treiber; er sah sie wohl, gerade als er hinaustrat aus dem Wald. Aber sie sahen ihn nicht weniger, den weißen – da flogen die Flinten an die Backen, da krachte es auf, da jagten die Kugeln über den Schnee. Eine traf, eine nur. Am Halse irgendwo – nur eine Fleischwunde, die das Fell blutig färbte. Er drehte um, jagte zurück in den Wald.

Rannte zum Fluß hin, brach durch den Schnee in eine tiefe Grube, fiel auf ein Fangeisen, das zuschnappte, seine linke Flanke faßte. Er riß sich los, ließ einen großen Lappen zwischen den Zähnen der Falle. Er sprang in die Höhe, die Seite des Lochs hinauf, fiel zurück. Versuchte es wieder und noch einmal, rutschte hinab über die schwarze, kotige Erde, faßte endlich doch den Rand mit den Vorderbeinen. Hob sich, sprang hervor. Da schrie einer, da traf ihn ein schwerer Schlag mit dem Dreschflegel. Etwas zerbrach in ihm, das fühlte er wohl. Aber er rannte weiter.

Wieder schoß es und wieder traf es ihn, zerschlug ihm ein Bein. Aber er hinkte, kroch, schob sich durch das Holz, tiefer hinein und tiefer. Lag dann irgendwo, schweratmend, halb versteckt unter Laub. Über und über bedeckt mit Dreck und mit Blut, zerfetzt, zerschossen, zerschlagen. Und im Leib brannte das Gift, zerfraß seine Eingeweide – das sengte wie das rote Feuer der Menschen.

Zwei sah er kommen von unten her. Die blieben stehn, bückten hin zu ihm.

»Dort liegt einer,« lachte der Hirt. »Der hat auch vom Hammel gefressen – schieß doch!«

Aber der Jäger sagte: »Nein, das ist ein ganz gemeiner, den kannst du später totschlagen mit dem Knüppel. Komm, wir verlieren nur Zeit – dort hinaus muß er sein, der weiße!«

Da heulte der Wolf: »Schieß, schieß – ich bin der weiße Wolf

Aber die zwei zogen vorbei. Und der Hirt lachte: »Verreck du nur allein, elendiges Biest.«

Er sah ihnen nach, lange – lange, bis sie verschwanden zwischen den Eichenstämmen.

»Ich bin der weiße Wolf,« stöhnte er – –

* * *

»Bleib noch,« sagte Lotte van Neß. »Professor von Kachele kommt heute abend.«

Er setzte sich wieder. »Der? Wie weit ist er mit deinem Horoskop?«

Sie lächelte: »Er ist sehr gründlich, scheint es – da werde ich noch warten müssen. Übrigens hat er diese Studien unterbrochen – ich habe ihn gebeten, die Arbeit auszuführen, die er für dich skizziert hatte. Du hattest damals keine Zeit, aber ich habe mir alles erzählen lassen, ihn dann beauftragt, es für mich niederzuschreiben. Gestern wurde es fertig – darum kommt er.«

»Du hast die Arbeit gekauft, Lotte?« fragte er. »Ja – was willst du damit?«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht gebe ich sie einer Zeitschrift – vielleicht schenke ich sie dir – was weiß ich. Warum soll ich nur Steine kaufen und Bücher, warum nicht einmal ein Manuskript?«

Der Professor kam, konnte es kaum abwarten, seinen Vortrag zu beginnen. Er aß viel, aber hastig und schlingend, stets bereit, von dem mitzuteilen, was ihn erfüllte. »Später, lieber Professor,« bat Frau van Neß, »später! Essen Sie erst!«

Sie gingen in die Bibliothek; dort rückte sie ihm einen großen Sessel hin. Sie selbst saß auf ihrem Diwan, schob viele Kissen zurecht, stützte die Ellenbogen auf.

»Nun beginnen Sie!« bat sie.

Er fing im Augenblick an. Sprach sehr rasch, stolpernd und eilend, unterbrach sich zuweilen auf eine kurze Sekunde, blätterte in seinem Manuskript, suchte irgendein gelehrtes Zitat, las es. Seine Stimme klang harsch und überlaut, nicht heiser, aber röchelnd manchmal und seltsam blökend.

Frank Braun saß hinten, zwischen den Büchern, auf einem riesigen Sessel. Die Beine übergeschlagen und lang vorgestreckt, die Arme auf den weichen Lehnen. Er sog an einer Zigarette, lauschte, versuchte das Ohr zu gewöhnen an das Poltern dieser Stimme.

Aber er hörte nur Laute. Worte, die keinen Sinn hatten – Sätze, deren Inhalt er nicht begriff.

Es war wieder einmal da, ganz plötzlich. Diese müde Leere, dies jämmerliche Gefühl des Ausgetrunkenseins. Jeden Tag nun faßte ihn das – eine, zwei Stunden – ohne Übergang, wie ein dichter Nebel, der aufstieg aus allen Ritzen.

Er schlief nicht, er träumte nicht – er hörte Klänge nur, kratzend und reibend, Töne, häßlich und unharmonisch – weither. Er wollte aufstehn, aber es ging nicht. Blieb sitzen, wie er saß, still, unbeweglich. Duldete, litt unter den Qualen dieser reißenden Stimme.

Dann klang Lottes weiche Cellostimme, da fiel der Bann. Er sprang rasch auf, ging zu auf den Professor, nahm ihm das Manuskript aus der Hand.

»Es war sehr interessant, Baron,« rief er. »Erlauben Sie, daß ich noch einiges nachlese.« Er wartete keine Antwort ab, ging aus dem Zimmer, hinüber in Lottes Schlafzimmer. Warf sich lang auf das Sofa, schloß die Augen.

Aber auf einen Augenblick nur – er war ganz wach nun, jede Müdigkeit schien geschwunden. Er sah das Manuskript in seinen Händen, begann zu lesen.

O ja, es interessierte ihn. Sehr, von den ersten Zeilen an –

Diese schürfende Arbeit! Ägyptische Texte, wieder koptische, hebräische, lateinische und griechische. Dann auch Gehez, die alte Kirchensprache Äthiopiens, assyrisch und babylonisch. Und weiter auf zwei Wegen, byzantinisch einmal, albanisch, mittelslawisch und magyarisch – und wieder abessynisch, amharisch, arabisch und hinein in die Negersprachen. Quer durch Afrika bis hin nach Dahome – und hinauf über Europa von Südosten aus. Und eines ins andere fließend so klar und überzeugend – eine lange Geschichte durch die Jahrtausende – von dem Sternenhimmel hinab zu den blutigen Opferhöhlen Neuyorks: ein Astralmythus, aber mit den Händen zu greifen heute noch.

Er erinnerte sich gut der schlanken, braunen Negerpriesterin, deren nächtlichem Opferfest er beigewohnt hatte, vor manchen Jahren nun. In Haiti, im Honfoûtempel zu Petit-Goaves. Die ihr eigen Kind schlachtete mit eigener Hand, sein Blut den Gläubigen kredenzte, mit Rum vermischt.

Der Professor sagte nun, daß das alles nur ein Mythos wäre, und beileibe nicht blutige Wirklichkeit. Ein Traum nur, aber einer, der zur wilden Wahrheit wurde. Die Wüstenphantasie eines sternedeutenden Hirten, eines träumenden Dichters nur, aber eines, dessen gewaltiges Schaffen durch manche Jahrtausende rings um die Erde lief.

Die Sonne ging unter und die Sonne ging auf – das sahen alle Geschöpfe, die auf Erden wandelten. Der Dichter aber in der Wüste sah mehr, viel mehr. Er sah und er sagte, daß sie, jung und schön, einen Tag nur alt, geraubt worden sei, erschlagen und gemordet von einer grausamen Gottheit. Die neue Sonne aber, die auferstand am nächsten Tage, strahlender noch und leuchtender als die andere, die sei der Toten jugendschönes Kind. Ihr Kind – und doch wieder die Sonne selbst, die auferstand in erneuter Pracht aus der Todesnacht. Das war das Sternenmärchen des Träume träumenden Hirten in der Wüste, der uralte Mythos vom zerstückelten Kinde.

Labartu hieß in Babylon die Sternengottheit, die das Sonnenkind stahl, in Stücke zerschlug und fraß – und sie war Baals Weib. Doch sie war keine andere, als die indische Kali, die furchtbare Durga, die Würgerin, die Gattin Schiwas, des Zerstörers. War seine ›Sakti‹, sein Ausfluß, war das Handeln seines Denkens – und die blutige Hand seines Hirns. Und wie sie des Himmels Kind fraß, die junge Sonne, so stellte sie auch den Kindern der Menschen nach, tötete sie im Mutterleibe oder kurz nach der Geburt. Und darum mußte man ihr Opfer bringen, mußte sie versöhnen, daß sie gnädig vorbeiginge an der jungen Mutter Haus. Das forderte Labartu für sich und für Baal. Und was ihr in Babylon recht war, schien ihr billig in Sydon und Tyrus und Karthago, wo sie sich Astarte nannte und als Molochs Gattin über Phöniziens Kinder herrschte.

Ihr floß hingeopfert das junge Blut aller Erstgeburt. Nur Mädchen verlangte die entsetzliche Durga – man ertränkte sie in Milch zu der Göttin Lust, noch heute im weiten Hindostan. Aber alles wollte Astarte – jedes junge Kind, das die Mutter brach. Das war ihr grausames Recht im Morgenlande. Und man gab es ihr, demütig und zitternd – alle Völker und nicht zuletzt Israel. Verschwand nicht – geheimnisvoll genug – jeder erstgeborene Sohn in dem ältesten Teil der Bibelgeschichte? Ismael zuerst und dann Esau. Abel wieder, Davids erster Sohn von der Bathseba. Und des Richter Jephta tanzfrohes Töchterlein – o – viele noch, viele –

Sollte nicht auch Isaak diesem Gedanken geschlachtet werden? Aber Jehovah wies das Opfer zurück. Mit dem Opfer zweier Tauben löste Israel später die Erstgeburt ab von der Gottheit Recht – dennoch opferten Salomon und viele andere jüdische Könige und Großen immer wieder Kinder der wilden Göttin. Schnitten ihnen die Kehlen durch mit eigener Hand, ließen ihr Blut fließen, zerstückelten sie – wie es Baaltis befahl.

Nach Rom kam der Kultus der kindermordenden Göttin – das erzählte Plinius. Zog von Griechenland hinauf über den ganzen Balkan, bis weit ins Donautal – zog nach Westen dann. Wuchs zum wildesten Leben auf im 17. Jahrhundert, als Elisabeth Bathory, die Blutgräfin, die Säle ihrer Schlösser mit gräßlichen Schreien füllte, jämmerlichen Todesschreien von elend zerpeitschten, grausam abgeschlachteten Ungarmädchen.

Ruhte nie, ward immer wach durch das ganze Mittelalter bis hin auf unsere Tage – überall in Europa. Blühte in schwarzen Messen, war nicht auszurotten trotz der Kirche strengem Kampf mit Schwert und Feuer.

Schlachtete nicht Herr Gilles de Rais mit eigener Hand über achthundert Kinder? Er, Marschall von Frankreich, berühmter Feldherr, Fahnenträger der Jungfrau von Orléans! Und die Marquise von Montespan, des vierzehnten Ludwig Geliebte und von ihm Mutter französischer Prinzen, ließ – mehr als einmal – auf ihrem eigenen nackten Leibe als köstlichem Altare in der Schloßkirche zu St. Denis durch den Abbé Guibourg neugeborene Kinder zerstückeln!

Den Teufel Astaroth rief sie an – wie der Baron von Rais das tat – der sollte ihr helfen, des Königs Liebe festzuhalten, wie dem Marschalle Gold zu machen. Astaroth – so nannte sich Astarte in dieser Zeit.

Von Karthago aber zog der Mordkult tief hinein nach Afrika, vielleicht auch quer durch von Abessinien her. Basileia, die Königin, nannten die Griechen Molochs Gattin Astarte, Bersilia machten die Semiten, Berzelya die Kopten daraus – das heißt die, die mit eisernen Händen die Kinder tötet. Und noch heute heißt in Abessinien Werzelya die entsetzliche Göttin, die Säuglinge raubt und zerstückelt und das Ungeborene grausam aus der Mutter Leib reißt.

Herüber dann vom Kongostrand mit den schwarzen Sklaven nach Amerika. Und wieder hieß – im Vaudoux – die Göttinpriesterin, wie bei den Griechen: Königin! Mamaloi – weil der Nigger das R nicht sprechen kann – Mama – Roi: Mutter und Königin!

Immer noch, immer trinkt sie der Kinder Blut: sie, Durga – Astarte – Mamaloi, die Würgerin. Heute noch – mitten in Neuyork!

Er stand auf; ging zurück in die Bibliothek, wo Professor von Kachele sprach, wie zuvor. Über Horoskope jetzt, über die seltsame Weissagung des Alexandriner für das Jahr –

Er unterbrach ihn, reichte ihm das Manuskript zurück. »Bei alle dem, Professor,« sagte er, »verstehe ich dennoch nicht, wie so plötzlich Ihr schrecklicher Sternenmythos irgendwo wieder lebendig werden kann. Sie überblicken die gesamte Entwickelung, tragen die ganze Geschichte durch alle Jahrhunderte zusammen, finden die Zusammenhänge. Aber Sie glauben doch nicht, Baron, daß etwa meine Mamaloi in Petit-Goaves auch nur die kleinste Ahnung davon gehabt habe? Daß Marschall Gilles de Rais, daß die ungarische Gräfin oder die französische Marquise sich bewußt waren, daß ihre zerstückelten Knaben oder Mädchen regelrechte Opfer des uralten Ritus waren?! Wie nun, Professor, denken Sie sich, daß urplötzlich, und in ganz neuer Form, der alte Gedanke in einem Menschenhirn auftauchen kann?«

Der Professor schwieg, rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her.

»Ich weiß wohl, das ist eine Lücke in meiner Arbeit,« sagte er endlich. »Ich könnte sie ausfüllen – vielleicht! Aber, wissen Sie, ich denke nicht gern darüber nach – spreche noch weniger gern davon.«

Er rieb sich mit den Fingern an der Nase, langsam, auf und ab. »Es ist absurd, an einen Gott zu glauben und an einen Teufel nicht,« begann er dann, »einer ist undenkbar ohne den andern. Der Teufel ist so stark wie der Herrgott auch. Er kommt hervor, wann er will und wo es ihm beliebt. Bei mir« – seine Stimme sank, wurde flüsternd, zitternd, und fast furchtsam – »bei mir hat er auch nicht lange gefragt, ob es mir recht sei. Alte Weiber, häßlich, stinkend und verpestet – das gefällt ihm, dem hohen Herrn, wenns grade seine gute Laune ist. Das hat schon Goethe gewußt – lesen Sie doch den zweiten Teil des Faust! Und ich – Sie wissen das ja Doktor – habs am eigenen Leibe erfahren.«

Er zog ein mächtiges Taschentuch heraus, schnaubte sich die Nase, wiehernd und dröhnend. Nahm die Brille ab, putzte sie sorgfältig, blinzte aus den gelben halbblinden Augen.

»Seh ich aus wie ein Faun?« fuhr er fort, »Würde einer ahnen, daß in mir der Satan-Phallus steckt, Pan, der Bocksgott, der kein Hirn hat und nur mit der Rute denkt?! Und doch hat es ihm beliebt, in diesen elenden Knochen seinen Tempel aufzurichten. Dies Mirakel, Doktor, sitzt grade vor Ihnen, sehr lebendig und wirklich – läuft mitten durch die Straßen Neuyorks – freut sich sehr, daß es zurzeit einmal wieder menschenwürdig arbeiten kann und keine Urinuntersuchungen anzustellen braucht. Was ich tat, Doktor, das weiß ich sehr genau – mit allen kleinsten Einzelheiten. Aber warum ichs tat – wieso dieser ungeheuerliche Gedanke mich plötzlich festnahm – einen stillen Gelehrten, den nüchternsten Professor in ganz Deutschland – davon weiß ich nichts, gar nichts. Er war da, krallte sich fest in mein Hirn – gab mich nicht frei. Seither weiß ich, was es heißt: besessen sein. Und seither wundert mich nichts mehr, kein Traum, keine Laune, kein wildester Gedanke: alles, alles ist möglich in Menschenhirnen.«

Frank Braun fragte: »Sie meinen also, Professor, daß –«

Aber er ließ ihn nicht aussprechen. »Ja, ja und ja!« rief er. »Ich meine – und ich habe meine Meinung teuer genug bezahlt – daß kein Mensch auch nur eine Viertelstunde seiner selbst sicher ist. Daß eines jeden Menschen Hirn ein Saal ist, in dem in jedem nächsten Augenblick irgend etwas – ein Gott, ein Teufel oder wie Sie es nun nennen wollen – die schönsten Tänze tanzen kann. Sehr fromme, sehr heilige – und sehr scheußliche auch, gemeine und grausame – wie das Schicksal will. Und wenn die schöne und gütige Dame, die vor Ihnen sitzt, wenn Frau van Neß in dieser Nacht sich entpuppen sollte als die wildeste Priesterin der Baaltis, wenn sie Knaben zerstückeln und ihr rotes Blut trinken sollte, so würde ich das keineswegs als etwas Außergewöhnliches ansehn. Ich würde es bedauern, aber als Gelehrter würde ich den interessanten Fall meiner Arbeit zufügen, rein sachlich, als ein neues Beispiel des uralten Labartukultus.«

Er schob seine Brille wieder auf die Nase, stand auf, legte das Manuskript auf den Tisch.

»Eine Zigarre mit auf den Weg, Baron?« fragte Frank Braun.

»Nein, danke,« antwortete der Professor. »Ich rauche noch immer nicht, trinke noch immer nicht, bin noch immer der nüchtern langweiligste Mensch von der Welt. Und wenn Ihnen dennoch das, was ich sage, phantastisch klingt – so denken Sie an das, was mich nach Amerika jagte.«

* * *

Über eine Stunde schon war der Professor fort. Aber die beiden saßen noch immer in ihren Sesseln in der Bibliothek, rauchten, nippten an ihren Gläsern. Sie sahen sich nicht an, keines das andere, sprachen kein Wort, schwiegen.

»Willst du das Auto haben,« fragte sie, »um nach Hause zu fahren?«

Er sah hin zu ihr, antwortete: »Ich möchte hier bleiben diese Nacht.«

Sie stand rasch auf, hob die schmalen Lippen. »O, wie du willst. Da steht der Wein, bediene dich. Ich werde Toilette machen – schicke dir die Zofe, wenn ich fertig bin.«

An der Türe blieb sie stehn, lächelte zurück. »Sag mir doch – möchtest du nicht sehn in dieser Nacht, ob ich vielleicht Astarte bin – die Blut trinkt? Du nanntest mich einmal die phönizische Göttin – Priesterin – was?«

Er antwortete nicht, ließ sie gehn.

Er dachte: ›Alles ist möglich im Menschenhirn.‹

Er sann nach –

Was denn nur? – Was mochte möglich sein?

O ja, sie hatte schon recht: er wollte hier bleiben heute nacht, wollte sie beobachten, belauern. Aber was nur, was wollte er finden? Sie, Lotte, als bluttriefende Priesterin – und er etwa das Opferböckchen, das zerstückelte Kind?

Es war so lächerlich, so absurd, wie des Dr. Cohn Geschwätz von der Südseekrankheit.

Und doch blieb der Verdacht – und doch konnte er diesen Gedanken nicht hinunterwürgen.

Er leerte ein letztes Glas, folgte der Zofe. Ging ins Badezimmer, duschte mit kaltem Wasser, entkleidete sich, nahm den seidenen Schlafanzug.

Sie saß auf dem großen Bett, als er hereinkam, ihr rotes Haar fiel offen hinab auf das Spitzenhemd. Sie hielt ein paar kleine, blitzende Dinger in der Hand, spielte damit, legte sie rasch auf den Nachttisch, als sie seinen leisen Schritt hörte. Er sah, wie das hell blitzte, sah, daß es kleine Scheren waren und hübsche offene Messerchen.

Und sie nahm einen Ring von der Tischplatte, schob ihn an ihren Finger.

Er trat hin zu ihr. »Ein neuer Ring?« fragte er. »Wieder ein Amulett?«

Sie streckte ihm die Hand hin. »Vielleicht. Aber neu ist er nicht.«

Es war ein häßlicher alter Silberring. Schlechte Fassung, die einen grünlichen Stein hielt, in den ein Wappen eingeschnitten war.

»Ich habe ihn gestern bei einem Althändler auf der zweiten Avenue gefunden,« lächelte sie, »hundert Dollar hat der schlechte Kerl mir dafür abgenommen, als er merkte, daß ich ihn durchaus haben wollte. Ich kann nicht handeln – es ist ein Jammer.«

»Nicht einen halben Dollar ist das Ding wert,« sagte er.

»Doch!« erwiderte sie. »Für mich ist er mehr wert. Sieh ihn dir an: ein Pelikan, der sich die Brust aufpickt, seine dürstenden Jungen zu tränken mit eigenem Blut.«

Er sah sie lauernd an: wieder dieser Gedanke!

»Weshalb interessiert es dich?« forschte er.

Sie zuckte leicht die Achsel. »Nur so! Es ist Magdeburgs Wappen – meiner Mutter Familie stammt aus Magdeburg.«

Sie stand auf, nahm vom Tisch ein großes Glas, bis oben gefüllt mit einer milchigweißen Flüssigkeit. Schritt zu ihm hin, streckte den Arm ihm entgegen.

»Trink, mein Freund,« sagte sie.

»Was ist es?« fragte er.

»Ein starker Schlaftrunk!« antwortete sie. »Dr. Cohn mischte mir ihn auf meine Bitte.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein!« rief er. »Wozu brauche ich einen Schlaftrunk?«

Sie sagte: »So will ich ihn trinken.«

Sie hob das Glas, trank es aus zur letzten Neige. Sprach: »Eines von uns braucht den Trunk – für diese Nacht. Du, wenn – Und ich, wenn – –«

Sie stellte das Glas fort, legte beide Hände auf seine Schultern. Sagte lächelnd: »Siehst du – so ist es.«

»Was: wenn –!? Lotte, was nur?« rief er ungeduldig.

Aber sie drängte ihm ihre roten Locken an Kinn und Hals. »Frag nicht,« bat sie. »Du weißt ja, daß ich nichts sage, wenn ich nicht will.« Sie hob ihren Kopf, blickte ihn an, wurde sehr ernst.

Und eine tiefe Güte klang aus dem Cellosingen ihrer Stimme. »Es ist sehr schwer, Geliebter, was ich tue – schwer, schwer. Aber ich tu es gern.«

›Wie meiner Mutter Stimme,‹ dachte er.

Sie zog ihn zum Lager hin. »Komm, komm – greif die Minuten. Eine halbe Stunde nur – dann schlafe ich fest. Und ich bin dein Ding, wenn ich wach bin – und wenn ich schlafe – erst recht. Wenn du nur wüßtest, wie sehr –«

* * *

Er ritt im Zentralpark, mit Ivy Jefferson, am andern Abend.

»Warum sprichst du nicht?« fragte die Blonde. »An was denkst du?«

Er antwortete nicht gleich; da rief sie: »O ich weiß es recht gut – an wen du denkst. An Frau van Neß und keine andere! – Sag, ob ich recht habe.«

»Ja!« nickte er. »Woher weißt dus?«

Die kleine Ivy lachte auf. »Woher? Die ganze Stadt weiß es!« Und, ein wenig nachdenklich, fuhr sie fort: »Ich sah sie diesen Sommer, als sie in Neuport war. Sie ist stolz – und interessant – und sehr reich. Und vielleicht – auch schön. Ich kann es schon begreifen, daß sie den Männern gefällt – und dir.«

»Bist du eifersüchtig?« forschte er.

Sie lachte wieder: »Gewiß bin ich eifersüchtig. Aber es ist ein Sport und ein Kampf – so mag ichs. Ich hab mirs überlegt – wir sind gleich stark, beide. Sie ist klüger vielleicht, aber ich bin viel jünger. Wir wollen sehn, wer gewinnt.«

Sie ritt dicht an ihn heran, schob die Pferde zusammen, daß sich ihre Flanken berührten. Ihre Lippen waren geschlossen, aber die Nasenflügel bebten; es war, als ob sie einen starken Duft einsauge.

»Sag mir,« murmelte sie, »warst du bei ihr in dieser letzten Nacht?«

Er sah ihr scharf ins Auge. Rasch, brutal fast, rief er – mitten in ihr Gesicht –: »Ja, ich schlief bei ihr!«

Sie warf den Kopf zurück, sprach halblaut: »Ich wußte es. Ich habs gefühlt.«

Gab ihrem Tier den Sporn in die linke Weiche, schlug zugleich mit der Gerte scharf zu, zwei – dreimal, über die Hinterhand. Jagte davon.

Er folgte ihr nicht. Ritt weiter, in langsamstem Schritt, sah ihr hochmütig nach. ›Du wirst anklingeln – ich nicht!‹ dachte er.

Nahm die Gedanken wieder auf, die Träume, die die kleine Ivy unterbrach, seine Träume von der letzten Nacht.

Küsse, Küsse und Umarmungen. Kühl war er und sehr kalt, aber ihre liebe Wärme schmolz die Schneedecken. Küßte seines Herzens reichen Boden, ließ Blumen wachsen und blühen, so viele bunte Blumen. Die tropften von seinen Lippen, regneten über sie hin, deckten sie, hüllten sie ein.

O, er liebte sie, liebte sie – bis sie einschlief in seinen Küssen.

Solange es ging, hielt sie die Augen offen. »Ich danke dir,« hauchte sie – als ihre Lider sanken.

Genau nach einer halben Stunde – wie sie gesagt.

Er drehte das Licht an, saß neben ihr. Blickte sie an, unverwandt, ohne sich zu rühren, still, stumm.

Alles Glück versank – es war wieder das schleichende Fieber der entsetzlichen Leere, das ihn faßte. Und wieder, im Hirne, das jämmerliche Mißtrauen – dieser nagende Verdacht –

Nahm sie den Trank – um ihn zu betrügen? Wartete sie nur – bis er schlief – um dann –

Dann? Was dann?

Er ließ kein Auge von ihr. Saß auf, lauerte. Drehte das Licht wieder aus, legte sich nieder, tat, als ob er schliefe – kämpfte mit starkem Willen gegen seine Müdigkeit.

Lauschte. Lauerte. Stundenlang.

Aber nichts, nichts. Kaum ihren Atem konnte er hören.

Dann schlief er ein.

Erwachte sehr spät. Sehr frisch. Sehr gesund. Und stark, wie seit Monden nicht.

Aber Lotte van Neß lag, wie sie lag in der Nacht zugedeckt bis ans Kinn – schlief fest.

Er stand auf, badete, zog sich an, frühstückte, kam wieder in ihr Zimmer. Sie schlief.

Er fuhr nach Hause; schellte sie an ein paar Stunden später. Aber nur die Zofe antwortete: die gnädige Frau schlafe immer noch. Und sie habe gestern Befehl gegeben, sie nicht zu wecken, bis sie von selber aufwache.

– Er trieb seinen Gaul an, trabte, setzte ihn dann in Galopp. So stark fühlte er sich, zehn Stunden hätte er im Sattel sitzen können.

Und er dachte, daß er ihr unrecht getan hätte, bitter unrecht. Daß er zu ihr müsse, heute abend noch. Vor ihr knien, ihre Hände küssen, ihr sagen, wie lieb er sie habe –

Dann plötzlich fiel ihm was ein. Diese spitzen Scheren, die blanken, scharfen Messerchen, die sie auf den Nachttisch legte, als er ins Zimmer trat? Er hatte sich vorgenommen, darauf zu achten – das hatte er vergessen. Hatte keinen kleinen Blick hingeworfen, als er vom Bette sprang.

Wozu waren sie da? Was wollte sie damit? Was war mit ihnen geschehn in dieser Nacht?

War sie dennoch – während er schlief –?

Was denn nur, was?

Nichts fand er.

Aber der Verdacht faßte ihn wieder, stark und fest, schlug ihm die Krallen ins Hirn – ließ ihn nicht – –


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