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II. Berylle

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»Deum testent invoco, si me Augustus, universo praesidens mundo, matrimonii honore dignaretur totumque mihi orbem confirmaret praesidendum: carius mihi et dignius videret, ut tua dici meretrix, quamillius imperatrix

Epistolae Heloisiae.

»Der Beryll, in der Farbe von Meer und Luft, ist des Heiligen Thomas Stein, des Ungläubigen und doch Gläubigen, der lange Seereisen machte und selbst zum fernsten Indien kam, von Gott gesandt, den Völkern zu predigen.«

Andreas, Bischof von Cäsarea (um 560 A. D.)

 

Immerhin, in diesen Tagen, während sie den Kontinent durchquerten, wuchs in ihm der Entschluß, mit hinüberzufahren mit den beiden. Langsam und allmählich, aber ganz sicher und fest: es war schließlich das beste, was er tun mochte.

Freilich, seine Gründe waren ganz andere als die der beiden. Für die gab es nur eins: Deutschland! Ihr Vaterland, angegriffen von zehnfach überlegener Zahl, dem sicheren Verbluten nahe, wenn es nicht mit letzter Kraft die Feinde niederwerfen konnte. Und zu dieser Kraft gehörten auch sie, die beiden! Sie empfanden das nicht als eine Pflicht, die sie erfüllten mußten – es war Selbsterhaltungstrieb: sie waren nichts als ein kleinstes Teilchen des gewaltigen Deutschlands – und dies Deutschland kämpfte und wehrte sich bis zum letzten Blutstropfen. Es mußte sterben – oder aber es mußte siegen: und das mußten auch sie tun, die beiden. Es schien ihnen, als ob es gar nicht anders denkbar sei, als daß ein jeder Deutscher so fühlte wie sie: sie hegten nicht den leisesten Zweifel, daß auch er, Frank Braun, mit jedem Atemzuge, jedem Pulsschlage nur eines empfände: Vaterland, Deutschland, Mutter. – So wie sie –

Er fühlte nichts dergleichen. Das sah er wohl, wie in solcher Zeit jeder einzelne zurücktrat, wie er verschwand und sich auflöste, aufging in der Masse, zusammenschmolz mit Millionen andern. Und wie plötzlich, über Nacht, ein Wesen erwuchs, jung, gewaltig, titanenhaft: das Volk.

Er aber gehörte nicht dazu. Alles, was er war, war er ja geworden in stetem Kampf gegen die andern, war er ja nur als er selbst, nur als Individuum. Die andern? Nun, Menschen, überall. Und Deutsche zumeist. Massen, Volk, Herde.

Mit dabei sein, auch mit dabei sein – das war frisches Leben für Millionen Menschen. Sie waren nichts – und die große Stunde erst schuf sie. Schuf sie, zwar als ein kleinstes Teilchen nur in dem Riesenleibe des Volkes, aber doch als ein Stück, das mitatmete, mitlebte, mitkämpfte.

Ihm aber würde es alles rauben. Würde ihn – wie die andern alle – zu einem Stäubchen machen, zu einem jämmerlichen Fleischfetzchen im blutenden Leibe des Volkes.

Tod war für ihn – was für die andern Leben war.

Zurücktreten, untertauchen, verschwinden und sich auflösen – nein!

Das, was sie Vaterland nannten, rief die Seelen. Und die Seelen jauchzten laut – sie gaben dem Leibe hohen Mut, Ausdauer und Kraft, gaben ihm den Willen zum Siege. Seine Seele hörte die Botschaft wohl, laut und hell, sah auch, wie die andern kamen – alle! Aber er blieb kühl und kalt – berauschte sich nicht – folgte nicht dem schallenden Rufe.

Sein Leib, ja, der mochte mitgehn. Beine und Arme, Bauch und Hirn. Zwei Schenkel, die einen Gaul wohl fassen konnten, ein Auge, scharf genug, um das Ziel zu treffen, eine Faust, die oft genug den blanken Säbel geschwungen. Am Ende mochte es herzlich gleichgültig sein, weshalb er mitging – wenn er nur kam!

Gebrauchen würden sie ihn schon können. Krieg war ihm ja nichts Neues, er hatte vier mitgemacht oder fünf. Und wenn es auch nur Affenkriege waren, Revolutionen in Mexiko, in Haiti, Venezuela und Peru, so war das doch gleich für den einzelnen Mann. Dort wie drüben schoß man mit warmen Kugeln, stach und schlug man mit langen Messern. Freilich, barbarisch noch, kindlich fast, ganz und gar nicht kunstgerecht. In Europa heute betrieb man nun wissenschaftlich das große Morden.

O ja! Auch er wollte mit dabei sein! Aus Patriotismus nicht – rein aus Lust am Abenteuer. Er war in der Südsee, träumte in Samoa, als die Welschen Tripolis raubten, hörte in Kaschmir von den großen Balkanschlachten erst, als alles vorüber war. Zwei Gelegenheiten hatte er schon verpaßt – diesmal mußte er dabei sein.

Aber es war nicht anders, als ob er zu einem Kriege reiste, den wildfremde, ihm völlig gleichgültige Völker miteinander führten. War, wie damals in El Paso, als er mit dem texanischen Kuhreiter den Silberdollar hochwarf: Kopf oder Schwanz? Für Villa oder Huerta? Nur daß er diesmal keine Wahl hatte, zu welcher Seite er reiten sollte.

Und er dachte, daß das wohl das einzige sei: dieses bestimmte, sichere Gefühl, daß er für Deutschland und nicht gegen Deutschland kämpfen würde. Aber es war kaum mehr als ein Reinlichkeitsgefühl, etwas Anererbtes, Anerzogenes, das ihn leitete. So wie er kein fremdes Hemd anziehen würde, solange sein eignes noch hielt in den Nähten.

* * *

Es war, als sie aus Saltlake-City hinausfuhren. Da saß der Mann ein wenig vor ihnen, drei Sessel entfernt, oder vier. Er saß da und spuckte, spuckte regelmäßig alle zwei Minuten in den großen messingenen Spucknapf. Nicht in den, der vor ihm stand; er spuckte im Bogen in den andern, weg über zwei Sessel, gerade auf sie zu. Nicht einmal fehlte er sein Ziel, traf stets, genau in die Mitte.

»Ein ausgezeichneter Spucker!« lobte der Zweite.

Der Assistent krähte: »Der Kerl sollte ein Unterseeboot sein! Und seine Spucke ein Torpedo. Und der Spucknapf ein englischer Kreuzer.«

Frank Braun starrte den Fremden an. Der hatte früher nicht dagesessen, er mußte wohl erst eingestiegen sein, eben im Bahnhof. Oder aber – er war herübergekommen aus einem andern Wagen.

Frank Braun starrte ihn an. Er glich seinem Onkel, dem alten Sanitätsrat ten Brinken – auf ein Haar glich er ihm. Es war ein kleiner Mann und häßlich genug. Glattrasiert; dicke Tränensäcke hingen unter den Augen. Wulstig die Lippen, fleischig die große Nase. Tief hing deckend das Lid über dem linken Auge, aber das rechte stand weit offen, schielte lauernd heraus.

Nur: sein Onkel spuckte nicht, das tat er nicht. Er säberte wohl, hie und da – genau so wie dieser Mann.

Der Sanitätsrat war es nicht, gewiß nicht. Auch war der ja tot, ganz und gar tot. Hatte sich aufgehangen; vor drei Jahren nun, gottseidank.

Der Zweite stand auf. »Ich gehe in den Speisewagen!« erklärte er. »Ich hab in meinem Leben schon viele gute Dagos spucken sehn – aber so schwarz wie den da noch keinen, verdammt noch mal! Das stört mich weiter nicht, aber die Regelmäßigkeit macht mich kribbelig. Bis hundertundfünfzehn kann ich zählen – klatsch springt's in den Napf! Er rührt sich nicht – und ich zähle von neuem.«

»Zählen ist wohl deine besondere Freude!« lachte der Assistent. »Willst du nicht wieder eine Liste aufmachen wie in den Quarantänetagen?«

»Zähl du allein weiter!« gab ihm der Zweite zurück.

Der Onkel saß da, still und stumm und starr. Er las nicht, er rauchte nicht, er rührte sich nicht. Er spuckte.

Frank Braun zählte nun die Pausen ab, er brachte es auf hundertunddreiundzwanzig. Dann waren es zwei mehr und wieder vier weniger. Es werden genau zwei Minuten sein, dachte er. Und er zählte wieder.

Zählte fünfmal, zehnmal, vierzehnmal –

Nun stand der Mann auf. Blickte hinüber, rasch, ganz flüchtig nur; ein schleimiges verfaultes Lachen troff von den Hängelippen.

Und in diesem einen Augenblick glaubte Frank Braun, daß es – o ganz bestimmt! – der Ohm Jakob wäre und kein anderer.

Dann aber – und zu gleicher Zeit – glich er auch wieder dem toten Chinesen, der herumschwamm um das Fieberschiff.

Oder aber: der war ja eben sein Onkel, war der Geheime Sanitätsrat ten Brinken. Er faßte sich an den Kopf –

Der Assistent rief: »Gottlob, das Schwein ist weg!«

Frank Braun sah auf, ja, der Mann war fort; soeben ging er durch die Türe in den nächsten Wagen.

»Komisch,« sagte er, »der Mann glich sehr meinem Onkel.«

»Na, dann ist Ihr Herr Onkel auch keine große Schönheit,« meinte der Assistent. Frank Braun sagte: »Nein, das war er wohl nicht. – Ich will ihm nachgehn.«

»Wem?« fragte der andere.

»Dem Mann. Dem Spucker.« Frank Braun stand auf, langsam und schwerfällig. Seine Stimme klang eingetrocknet. »Er sah genau aus wie der Chinese!«

Der Assistent horchte auf: »Wie wer – sah er aus?«

»Wie der Chinese,« antwortete Frank Braun. »Wie der Chinese, wissen Sie, der am Fieber starb und den ich einnähte. Der wieder hochkam am andern Tage und herumschwamm ums Schiff.«

»Sagen Sie mal, Doktor,« unterbrach ihn der kleine Assistent, »es ist Ihnen wohl ein bißchen zu warm hier, was? Jetzt gleicht der Kerl dem Chinesen und eben Ihrem Onkel!!? Oder war der tote Chinese etwa Ihr Onkel? Dann gratulier ich! – Immerhin, gehn Sie einen Highball trinken – aber recht kalt bitte, es wird Ihnen gut tun.«

Frank Braun sah ihn groß an. »Er glich beiden,« stotterte er. »Ich muß ihm nachgehn.«

»Von mir aus!« lachte der Assistent. »Dann gestatten Sie wohl, daß ich Ihren Platz nehme, bis Sie zurück sind – hier scheint die Sonne mir gerade ins Gesicht. Und grüßen Sie mir den chinesischen Spuckonkel.«

Frank Braun hörte kaum hin. Er dachte: es ist heller Tag – es ist ein Uhr mittags, und heißer sommerheller Tag. Wir sind mitten in den Staaten – in einem Pullmanwagen der Union-Pacific. Zwischen Saltlake-City und Denver. Es ist ganz heller Tag.

Er sah den Mann im nächsten Wagen stehn; fast schien es, als ob er auf ihn gewartet hätte. Er blickte sich um, grinste, ging weiter. Frank Braun folgte ihm. Durch sieben, acht Wagen durch, bis hin zum ersten.

Der war leer, kein einziger Reisender saß dort. Der Mann ging gerade hindurch, zum vordersten Sessel, drehte ihn herum, setzte sich. Dann spie er aus – mitten in den großen Messingnapf vor ihm. Frank Braun nahm einen andern Sessel, ein wenig entfernt, starrte hinüber. Er zählte –

Hundertundneunzehn – hundertundzwanzig – hundertund – Der Napf schien nicht mit Wasser gefüllt; es klatschte nicht, wenn er spuckte. Es gab einen leisen, ganz leichten metallischen Ton, fast wie ein Zirpen, wie ein Pfeifen oder Piepsen. Ganz schwarz flog es durch die Luft, schlug in den blank gescheuerten Napf – ping – ping – Frank Braun starrte auf den Napf – lauschte.

Es kratzte da herum, schob und rieb am Metall. Es war, als ob irgend etwas da herumliefe, ganz geschwind, rings im Napf herum.

Hundertundachtzehn – neunzehn – zwanzig. Da schoben sich die dicken Lippen zusammen, da sprang es durch die Luft. Schwarz, ganz schwarz. Mitten in das runde Loch des Metalls, auf das die Sonne hell lachte. Wie blankes Gold leuchtete es.

Pang – ping – es kratzte gleich. Lief gleich. O, es hatte Leben, was der Mann da spuckte.

Frank Braun beugte sich vor, starrte hinüber. Und er sah genau: ein schwarzes Köpfchen hob sich aus dem runden Loch, spitze Öhrchen reckten sich hoch, kleine, grüne Augen lugten zu ihm her. Es hob sich an den Rand, fiel zurück, sprang dann hinauf. Saß einen kleinen Augenblick auf dem hellen Gold in der Sonne. Sprang hinab, huschte unter die Sessel.

Er atmete auf, wie befreit. Also das war es: ein armes Mäuslein saß versteckt in dem Napf. In Todesangst vor dem scheußlichen Hagel des fremden Mannes. Das war es nur! Es hat sich gerettet, das kleine Ding, dachte er, gottseidank!

Aber es zirpte wieder, kritzte und kratzte. Er dachte: es sind noch mehr da drinnen, ein ganzes Nest voll vielleicht. Und es kam heraus, groß und klein, eins um das andere, saß auf dem Sonnengold, lugte in die Welt, sprang hinab.

Noch eins und wieder eins. Immer mehr –

Viele, viele – –

Wieder spitzte der häßliche Kerl die Lippen. Nein, er spitzte sie nicht, er ballte sie plump wie einen unförmigen Bleitrichter. Schwarz spie er – und dieses Schwarze bewegte sich in der Luft – ehe es noch in den Napf sprang, piepste es. Frank Braun hörte es gut. Und dann wieder nach zwei Minuten und abermals nach zwei Minuten.

Der Mann spuckte schwarze Mäuse.

Seltsam – das erschien ihm gar nicht unnatürlich. Er erinnerte sich des Menschen, den er einmal im Zirkus Busch gesehn hatte, in Berlin, und später in Madrid im Teatro Romeo. Der nahm eine große Kuppel, voll von Wasser, darin schwammen Fische, Molche und Frösche. Setzte sie an und trank sie aus, mitsamt ihrem Inhalt. Bog sich weit zurück, blähte die Backen auf und blies: da sprang ein schöner Springbrunnen aus seinem Mund. Und durch die Luft sprühten die Fischlein, goldene, silberne, grüne, die Salamander und Frösche und Kaulquabben – auch ein paar dicke Blutegel waren dabei. Sie zappelten bunt durcheinander auf dem Boden, und der Diener sammelte sie eilends auf, setzte sie in ein frisches Aquarium. Da schwammen sie alle wieder vergnügt herum – jedenfalls war es besser da als in dem dunklen Bauche des Wundermannes.

Vielleicht war es auch so mit dem Kerl da vor ihm. Vielleicht hatte der Mann eine Mausefalle in der Tasche, wohlgefüllt, oder gar eine Zigarrenkiste voll. Stopfte rasch ein Tierchen ins Maul, wenn niemand hinschaute, spie es dann aus. Oder auch, er hatte schon vorher ein paar Dutzend verschlungen, die er nun wieder zum besten gab, tief aus dem Magen heraus.

Ein Bluff war es, ein frecher Bluff!

Wie er grinste, wie er höhnisch grinste! Nun stand er auf, langsam und behäbig. Trichterte die schleimigen Lippen, blähte den Bauch und die Backen. Und wie Sprühraketen stob es aus dem Maul, Mäuse, Mäuse, hundert schwarze Mäuse. Sprang auf die Sessel, pfiff, schrie, lief herum, überall hin. Verschwand dann irgendwo.

Wie der Kerl grinste! – Und wie er dem alten Sanitätsrat glich!

Frank Braun öffnete die Lippen. »Ohm Jakob!« flüsterte er.

Er fiel vornüber, irgend etwas riß ihn hinab auf die Knie. Er hielt sich am Sessel mit der Linken, stützte die Rechte auf den Boden. Einen dumpfen Krach hörte er, dann das schrille Heulen der Dampfpfeife.

Der Zug stand, etwas war geschehn. Er sprang auf, lief in den nächsten Wagen. Er sah die Leute in heller Aufregung; einige rissen die Fenster auf, blickten hinaus, manche drängten weiter nach hinten.

»Was gibt's denn?« rief er.

Keiner wußte es. Er schob sich weiter durch den Wagen mit den Leuten. Nichts im nächsten und im übernächsten nichts.

Dann aber sahen sie, was geschehn war. O, nichts Besonderes. An einem Übergang hatte der Wächter geschlafen, die Schranke nicht heruntergelassen. Und – dummer Zufall! – vor einem Landwagen waren die Gäule gescheut und waren losgerannt, mitten hinein in den Zug. Die zwei Pferde lagen da mit dem Gefährt, elend zerfetzt. Eins war schon tot, dem andern gab ein mitleidiger Passagier mit dem Revolver den Gnadenschuß. Aber der Kutscher war mit dem Schreck davongekommen, war im hohen Bogen über den Zug geflogen und auf der andern Seite angelangt. Er rieb sich die Arme und die Beine, fühlte herum: heil war alles. Kaum eine Schramme hatte er.

Auch der Zug war heil. Ein paar Kratzer am Lack des Wagens. Nur eine Scheibe zertrümmert, da war die Deichsel durchgegangen.

Nur die eine Scheibe war zerschlagen – und freilich, noch etwas, das hinter der Scheibe war.

Der blonde Schädel eines Reisenden, der nun rot war von Blut.

Das war der kleine Assistent, der auf Frank Brauns Platze saß. Der war tot.

Man brachte die Leiche fort, bettete sie vorne im Gepäckwagen.

Kaum zehn Minuten dauerte der Aufenthalt. Dann pfiff die Pfeife. Aber der Zug wartete noch eine kleine Weile, um einen andern vorbeizulassen, der ihm entgegenbrauste. Frank Braun blickte hinüber –

Da saß, breit am Fenster, der häßliche Mann, der wie sein Onkel Jakob aussah. Er spie hinaus – eine kleine schwarze Maus lief über die Schienen.

* * *

Still, geräuschlos, eine riesige Schildkröte mit hochgewölbtem Panzer, kroch die Fähre über den Hudson. Frank Braun saß oben, blickte zurück auf die Zinken und Zacken Manhattans, das matt leuchtete in der Novembersonne.

Neben ihm saß der Zweite. »Sie wollen also durchaus fahren?« fragte er ihn. Der nickte nur. Sah ihn an, ein wenig verächtlich. »Ich fahre,« sagte er.

Frank Braun zog eine Zeitung aus der Tasche. »Lesen Sie! Die ›Bergensfjord‹ ist eingeschleppt nach Kirkwall, fünfhundertundsechzig deutsche Gefangene. Das ist der letzte Fang.«

Der Zweite zuckte die Achseln. »Ich fahre doch.«

»Hören Sie,« fuhr Frank Braun fort, »die ›Potsdam‹ lieferte den Engländern über dreitausend, die ›Hellig Olav‹ achthundert, die ›Nieuw Amsterdam‹ brachte fast zweitausend den Franzosen nach Brest, ›Frederik VIII.‹ brachte –«

Der Seemann unterbrach ihn. »Und ›König Haakon‹ fast tausend nach Dover, die ›United States‹ doppelt soviel nach Falmouth. Ich weiß. Kenne auch die Ziffern, die die Italiener nach Gibraltar brachten. Alles zusammen zwanzigtausend und mehr. Ich fahre doch.« Er schwieg einen Augenblick, blickte träumerisch in die Fluten. »Vielleicht hab ich Glück. Die ›Noordam‹ soll durchgekommen sein.«

»Sie soll!« Frank Braun schnalzte mit der Zunge. »Sie soll!« Und morgen meldet die ›World‹ freudejauchzend, daß sie in Hull ist oder in Cherbourg!«

Der andere antwortete nicht. Schweigend kreuzten sie den gewaltigen Strom, über den all die Dampfer, Schlepper und Fährboote wie riesige Wasserkäfer hin und her liefen. Drüben in Hoboken wurde der Seemann wieder gesprächiger. »Hier ist mir immer, als ob ich beinahe schon zu Hause wäre. Nur Deutsche überall, alles spricht Deutsch.«

Sie gingen vorbei an den weiten Piers des Bremer Lloyd und der Hapag. Da lagen die mächtigen Schiffe der Deutschen, die größten der Welt, still, untätig, regungslos. Hoch reckte sich über die Häuser hinweg die »Vaterland«. Der Zweite blieb stehn, hob den Arm. »Da schaun Sie,« rief er, »unsere Schiffe!«

Und Frank Braun sagte: »Warten Sie, bis die fahren!«

Aber der Seemann schüttelte den Kopf: »Versuchen Sie's bei andern, Doktor! Es werden genug Deutsche an Bord der ›Ryndam‹ sein. Halten Sie denen eine Rede!«

»Das werde ich tun,« nickte Frank Braun und biß die Lippen. »Das werde ich tun – verlassen Sie sich drauf! Ich werde ihnen eine Rede halten.«

Sie kamen zum Pier der Hollandlinie. Dicht gedrängt standen die Menschen in der großen Halle, viele blonde Männer, Frauen und Kinder. Die weinten, aber die Männer lachten, sangen auch. Die zwei schoben sich durch zur Holzbrücke, die auf Deck führte. Da stand der Zahlmeister des Schiffes; Frank Braun erkannte ihn an der Mütze.

»Wieviel Passagiere?« fragte er.

»Weiß nicht genau,« brummte der Holländer. »Zweieinhalbtausend oder mehr. Übervoll wieder – Kajüten und Zwischendeck.«

»Deutsche?«

Der Holländer lachte: »Was denn sonst? Österreicher noch und Ungarn! Kein halbes Dutzend Neutrale. Fahren Sie auch mit?«

Frank Braun verneinte. »Glauben Sie, daß Sie alles gut hinüberbringen?« fragte er.

Da nickte der Holländer. »Alles kommt hinüber, nur keine Angst! Dafür garantieren wir. Genau bis Falmouth! Die Engländer werden sich freuen. Gute Fleischware bringen wir, und ganz umsonst.«

Frank Braun stieg auf die Treppe, nicht einen Augenblick besann er sich. Er klatschte in die Hände, so laut er konnte, schrie dazu: »Achtung! Achtung! Aufpassen!« Er schwenkte seine Zeitung hoch in der Luft herum.

Die Menschen wurden aufmerksam: »Ruhe!« schrie einer. Und ein anderer: »Zuhören! Er hat eine neue Ausgabe! Laßt ihn lesen!!« Und sie wiederholten: »Ruhe! Zuhören! Lest das Telegramm!« Sie sammelten sich um die Treppe, enggedrängt, unten in der Halle und oben auf Deck an der Reeling.

Rasch begann er. Stotternd erst, unsicher. »Lauter!« schrien ein paar dahinten. »Ich verstehe kein Wort!« rief ein Dicker von Bord her.

»Ihr sollt nicht abfahren, Leute!« schrie Frank Braun. »Ihr sollt nicht abfahren mit diesem gottverdammten Holländer! Keiner von euch kommt nach Deutschland, kein einziger! Sie liefern euch ab wie Heringe, zwölf Stück aufs Dutzend, hundert Dutzend auf die Tonne! Gefangene seid ihr schon, sowie ihr hinauskommt von Sandy Hook – und ihr zahlt noch obendrein euer gutes Geld dafür! So lange geht's noch – wie ihr auf dem Meere seid – drüben aber kommt ihr in die Konzentrationskamps! Wißt ihr, was das ist – Konzentrationskamps?«

Dicht vor ihm lachte einer, ein breiter bärtiger Seemann. »Mags sein, was es will!« rief er. »Jedenfalls besser, als hier herumzulungern, ohne Arbeit, ohne Brot! Sie, Herr, könnens vielleicht abwarten hier – aber ich? Und so viele? Ein Bettler wird man hier im besten Falle, ein Verbrecher sonst und Dieb. Da bin ich lieber ein ehrlicher Kerl und Kriegsgefangener im englischen Lager.«

»Sie wissen nicht, was Sie reden, Mann!« fuhr ihn Frank Braun an. »Hier hat ein jeder doch eine Möglichkeit – drüben keine. Hier kann jeder wenigstens versuchen zu arbeiten – für sich und das Vaterland. In England muß er arbeiten – für England! Sie wissen nicht, wie es zugeht in den Gefangenenlagern – Sie nicht und keiner von Ihnen. Ich weiß es. Ich kenne sie gut – vom Burenkrieg her. Männer, Frauen, Kinder steckten sie zusammen wie Fliegen, das verseucht und verpestet sich gegenseitig. Rein kommen viele – aber gesund heraus nur sehr wenige. – Geht nicht an Bord, Leute, bleibt, wo ihr seid!«

Da reckte sich über die Reeling ein Großer, Schnauzbärtiger. »Kameraden,« schrie er, »Kameraden! Das mag alles wahr sein, was der Herr da redet. Aber ich bin Offizier und manch anderer noch – und Reservisten, Angehörige unseres herrlichen Heeres – sind wir alle. Drüben kämpfen unsere Brüder und unsere Väter und Freunde um Tod und Leben, verspritzen ihr Blut für Kind und Weib und für des Vaterlandes Ehre! Wollt ihr da feige zurückbleiben? Heute morgen erst war ich beim Generalkonsul, sprach mit ihm gerade über das, was der Herr da euch erzählt, fragte ihn, was zu tun sei? Und der Generalkonsul, der Vertreter unseres Volkes, sagte mir, daß es eines jeden Deutschen Pflicht sei, auf dem schnellsten und besten Wege heimzukehren, um seine Dienste dem Vaterlande zu weihen. Das wißt ihr ja auch alle – wie vielen von euch sind nicht die Mittel zu dieser Fahrt eben vom Konsul gegeben worden. ›Werden wir durchkommen?‹ fragte ich den Konsul. Und er antwortete: ›Das steht in Gottes Hand! Handeln Sie nach Ihrem Gewissen und tun Sie Ihre Pflicht!‹ – Kameraden! Daß wir alle das tun wollen, beweist, daß wir alle hierherkamen! Was auch immer geschehn möge – wir haben unsere Pflicht getan – unsere stolze Pflicht als deutsche Männer!«

Da schrien sie, da jauchzten sie und johlten. »Es lebe Deutschland! Es lebe der Kaiser!«

Frank Braun trommelte mit den Fingern auf dem Geländer der Brücke. Er wartete ungeduldig, nervös, bis die Menge ein wenig ruhiger wurde. Dann begann er von neuem. »Leute,« schrie er, »Leute, Leute –«

Er drang nicht durch. Aber der Offizier über ihm verschaffte ihm Ruhe. »Kameraden! Laßt ihn ruhig reden! Er meint es gut – ganz gewiß. Nur weiß er nicht, daß es etwas gibt, das noch höher steht als persönliche Freiheit und selbst das Leben: Vaterlandsliebe und Ehre!! Laßt ihn ruhig reden, Kameraden!«

Sie schrien wieder in heller Begeisterung. Dann aber, wie auf Kommando, schwiegen sie. Und Frank Braun rief, zitternd vor Aufregung: »Leute, der Generalkonsul ist ein Hanswurst! Er ist ein Phrasendrescher, ein Narr, der nicht weiß, wo Gott wohnt! Schlimmer noch, er ist ein bürokratischer Verbrecher –«

»Genug,« schrien sie, »genug! – Halts Maul!« brüllten sie. »Reißt ihn da runter, den Kerl!«

Aber er gab nicht nach. Seine Stimme wurde hoch, kreischend, drang hell durch den Lärm. Überschlug sich, galoppierte weiter, sprang klirrend über Gräben und Hürden.

»Ein Verbrecher ist der Konsul! Ein Schuft aus Dummheit! Er allein liefert den Briten und Franzosen mehr Gefangene ans Messer als die Joffre und French zusammen! Um euch einmal auszutauschen – die von euch, die dann noch leben – müssen unsere Brüder ebensoviel Engländer fangen – und das kostet Ströme deutschen Blutes. Denn die Alliierten sind nicht so dumm, nach Hamburg zu fahren und nach Bremen auf neutralen Schiffen. Kein Kalb, kein Schaf ist so dumm, daß es selbst zum Metzger läuft: ›Da bin ich, bitte schlacht mich!‹ – Leute, fahrt nicht! Folgt nicht eurem blöden Leithammel, dem Generalkonsul! Bleibt, wo ihr –«

»Kameraden! Kameraden!« Und die Kommandostimme dröhnte wie Marschmusik durch die weite Halle: »Kameraden, denkt ihr nicht, daß es nun genug sei! Einen Hammel nennt der Herr den Vertreter des deutschen Kaisers, einen Hanswurst, Schuft und Verbrecher! Kälber nennt er euch und dumme Schafe. Ich selbst habe ihm Ruhe verschafft – aber einmal hat auch unsere deutsche Langmut eine Grenze! Wenn Gott es will, so kommen wir alle durch, Kameraden, und darum werde ich – für meine Person – fahren!«

»Ich auch!« schrien sie. »Ich auch! Wir fahren alle!« Einer stimmte an: »Deutschland, Deutschland über alles«. Und sie sangen es, tausendstimmig.

Frank Braun nagte die Lippen. Langsam ging er die Planken hinab. Der holländische Zahlmeister faßte seinen Arm, führte ihn ein paar Schritte weit unter die Brücke. »Hier ists besser,« sagte er, dick lachend, »sicherer.« Da stand er schweigend, neben dem Niederländer und dem zweiten Offizier.

Sie sangen: »Heil dir im Siegerkranz« und »Gott erhalte!« Und sie sangen weiter, als die Glocke das letzte Signal zum Einsteigen gab, jauchzten in heller Begeisterung die »Wacht am Rhein«.

In langen Scharen zogen sie über die Brücke, winkten zurück den Frauen und Kindern.

»Waren Sie einmal in Chicago?« fragte der Holländer. »Bei Armours?«

Frank Braun nickte.

»Genau so drängen die Hammel über die Brücke, die zum Schlachtmesser führt,« fuhr der andere fort. »Und die Ochsen und die Schweine. Genau so! Ich sage Ihnen, Herr, von allen den Menschen, da hat jeder einzelne, als er seinen Fahrschein nahm, in unserem Büro gefragt: ›Bringen Sie uns sicher nach Rotterdam?‹ Und jedem einzelnen hat der rothaarige dünne Levinne geantwortet: ›Bin ich ä Prophet?‹ – Aber sie zahlten doch und sie kamen doch. Genau so wie das letzte Mal, da brachten wir fast dreitausend den Engländern nach Falmouth.«

Der Zweite sah ihn an, brach dann sein Schweigen: »Sie haben recht, Sie haben vollkommen recht. Aber – Sie sind ein Holländer – werden nie verstehn, was heute vorgeht in einer deutschen Brust.« Er wandte sich halb, streckte die Rechte aus. »Leben Sie wohl, Doktor, ich will an Bord.«

Frank Braun drückte ihm die Hand, ohne ein Wort. Über ihm, auf der Brücke, schrie einer: »Da steht er! Versteckt hat sich der Kerl!«

Er blickte nach oben; im selben Augenblick fiel ein wuchtiger Stockhieb ihm über den Kopf. »Nimm das!« schrie es. »Zum Andenken! Und das da!«

Aber der Zweite griff den Stock, entriß ihn dem Schläger, zerbrach ihn im Augenblick. Und oben auf der Brücke schrien sie: »Schäm dich doch! – Du bist betrunken! – Bringt ihn an Bord!«

So schnell ging das alles; Frank Braun hatte nicht einmal gesehn, wer ihn eigentlich schlug. Der Holländer nahm ihm den Hut ab, strich ihm durch die Haare. »Macht nichts!« lachte er. »Eine kleine Beule! Fürs Vaterland!«

Frank Braun ging vor, stellte sich dicht neben die Brücke. Recht breit und groß – mochte doch jeder ihn sehn! Mochte doch noch einer kommen mit gehobenem Stocke. Fast herausfordernd blickte er auf die Menschen.

Aber keiner kam, keiner achtete auf ihn. Nun sank die Dämmerung durch die Halle, schon warfen ihr spärliches Licht die wenigen Bogenlampen.

Und immer mehr kamen, immer mehr. Er starrte in die Massen, sah einen an um den andern, hörte ihre letzten Worte. Er vergaß den Hieb; wäre am liebsten wieder hingetreten zu jedem einzelnen: »Fahr nicht! Ich bitte dich, fahr nicht!« Unaufhörlich flüsterten es seine Lippen. Aber keiner blieb zurück, nicht ein einziger.

Einer, ein großer, nahm das schlafende Kind aus den Armen seiner Frau, küßte es leise. »Ich bring es dir mit,« sagte er. »Ich schwör dirs, Junge, ich bring dir das Eiserne Kreuz mit! Ich habe zwei geerbt – vom Vater eins und eins vom Großvater. Du sollst drei haben, Junge!«

Aber die Frau schluchzte: »Kehr du nur wieder!«

Einer, ein junger, schlanker, küßte sein New Yorker Mädel. »Leb wohl, Fay,« lachte er. »Bleib mir treu, wenn du kannst. Und sonst, versprich mir's, nimm wenigstens keinen Engländer!«

»Farewell kid, dear kid,« weinte sie.

Einer, ein starker stiernackiger, wankte trunken über die Brücke, ganz allein. Krampfte sich fest ans Geländer, lallte: »Zwei Brüder – zwei Brüder – haben sie mir totgeschossen – zwei Brüder schon. Vier sind noch da im Krieg – ich bin der Siebente – Wartet nur, Franzosen! Zwei Brüder« –

Keiner hörte auf ihn.

Einer –

Und wieder einer und noch einer – –

In strammem Schritt zogen zehn Männer herauf, die Stöcke geschultert wie Gewehre. Und ihre Sangesbrüder standen unten, sangen das Abschiedslied: »In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn –«

Ein dicker Graubart drängte sich vorbei, stieß ihn mit dem Ellenbogen, bat um Entschuldigung. Frank Braun erkannte ihn, es war ein deutscher Professor der Kolumbia-Universität. Ein schwarzrotgoldenes Burschenband leuchtete über dem mächtigen Bauch.

»Sie wollen auch mit?« fragte er ihn.

»Nein,« sagte der Alte. »Wollte Gott, es ginge noch! Aber mit dreiundsechzig werden sie mich kaum als Rekruten gebrauchen können! Da – meine zwei Jungens schick ich – und meine Tochter auch – die geht zum Roten Kreuz.«

»Professor,« drängte er, »Professor, hören Sie –«

Aber der Alte hörte nicht. Er schloß seine Söhne in die Arme, küßte seine Tochter. »Kinder,« sagte er, »ihr haltet für den Vater das Treuversprechen, das ich schwur, als man das Band da mir gab. Ich bin stolz auf euch in diesem Augenblick: macht, daß ich es bleibe, daß ich stolzer werde auf euch mit jedem Tage! – Gott schütze euch!«

Man verstand ihn kaum. Überall ein Rufen und Lärmen, ein Weinen und Schluchzen, dazwischen das schrille Schreien der Dampfpfeife. Und über alles hin die Klänge des Liedes, das sie nicht mehr losgaben, das sie anstimmten eins ums andere Mal, Strophe um Strophe, immer von neuem:

»Lieb Vaterland – magst ruhig sein –«

Die Taue fielen, und die Ankerkette krächzte hinauf. Sie schoben die Brücke zurück, schlossen die Reeling. Langsam bewegte sich die ›Ryndam‹.

Er stand allein im Augenblick. Alle die Zurückgebliebenen eilten weg, nach vorne auf die Spitze des Piers. Da fuhr der Dampfer vorbei, da konnten sie noch einen letzten Blick erhaschen. Konnten die Tücher schwenken, singen, auf Wiedersehn schreien. Schon spielte, wie stets, die Schiffskapelle das Abschiedslied: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus – Städtle hinaus –«

Er blickte den Hudson hinab, sah der ›Ryndam‹ nach. Seine Lippen murmelten: ›Da schwimmt sie – da schwimmt sie‹. Und er schämte sich dennoch, daß nicht auch er an Bord war.

Dann, plötzlich, fiel ihm der alte Sang ein, vom Bewerland:

»In einem Pißpott kam er geschwommen
Hochzeitlich geputzt hinab den Rhein –
Und als er nach Rotterdam gekommen,
Da sprach er: ›Juffräuken, willst du mich
frein?‹«

Er lachte bitter. Weiß Gott, so war es doch! Hochzeitlich geputzt waren sie alle, genau wie des Liedes Mauseheld. Und sie alle fuhren zu ihrer geliebten Braut, die Vaterland hieß! Nach Rotterdam wollten sie, wie der Mäuserich. Nur – der hatte Glück: er kam zu der Stadt, trotz seines seltsamen Fahrzeuges. Sie aber, die zweitausend Ratzen da, die würden nie hinkommen: ihr Pott, ihr verdammter holländischer Pott, war ja schon eine riesige Ratzenfalle!

Er schrak auf. Eine Hand legte sich leicht auf seine Schulter. Es war der lange Tewes, ein Redakteur des »Deutschen Herold«.

»Doktor,« krähte er, »das war sozusagen ein Reinfall!«

Frank Braun nickte nur, antwortete nicht.

»Ich hätte es Ihnen vorher sagen können,« fuhr der andere fort. »Ich war jedesmal da, habe siebzehn Schiffe abfahren sehn seit August. Immer dasselbe, da hilft nichts!«

Er wartete eine Weile, sprach dann weiter, als keine Antwort kam. »Dennoch, Sie sprechen gut! Sie haben das Zeug dazu. Und den Namen obendrein. Sie müssen uns helfen – für die deutsche Sache!«

»Was gehts mich an?« flüsterte Frank Braun.

»Komm, komm!« Der Journalist streichelte ihm begütigend den Rockärmel. »Wir brauchen Sie, Doktor, brauchen Sie. Sie stellen was vor – und Sie können reden – die kleinen Pfiffe haben sie bald weg. Phrasen, schöne dicke Phrasen, so wie sie der Major vorhin hinknallte – das will die Masse. Worte, die jeder kennt, die jedes Kind auswendig kann. Das kann jeder Vereinsredner bei uns. Sie sollen mal sehn, wie das flutscht! Dann aber, was die nicht können und was der Major auch nicht kann: so hie und da einen klugen Gedanken dazwischen – irgend was Neues – für die paar besseren Menschen. Denn die sind uns so wichtig wie die Massen auch, glauben Sie mir! Und die müssen auch was haben, damit sie sich nicht erbrechen, bei dem ewigen Einerlei von Schwarzweißrot und Volkesnot, von deutscher Treue, Kaiser und Reich, vom Erbe Bismarcks und solchen schönen Sachen.«

Er faßte ihn unter dem Arm, ging auf und nieder mit ihm, redete auf ihn ein, unausgesetzt. Er müsse helfen; es sei seine Pflicht. Er dürfe sich nicht drücken in diesen Tagen. Er wisse ja, wie tagtäglich das Deutschtum hier im Lande beschimpft und bespien werde, man müsse sich zusammenschließen, zur Wehr setzen. Das Komitee der deutschen Arbeit sei nun fest gegründet – da müsse er mitmachen!

Frank Braun hörte alles, aber so weither nur. Und es schien ihm, als ob der Lange da gar nicht zu ihm spräche – sondern zu irgendeinem dritten – irgendwo –

»Ja, ja –« sagte er leichthin.

Der Journalist ereiferte sich: »Mir kommen Sie nicht aus,« pfiff er, »mir nicht! Wenigstens den Versuch müssen Sie machen. Schlägts fehl – nun so schadets nichts. Und gehts gut, hetzen wir Sie herum im ganzen Lande. Es ist kein Vergnügen – ich sags Ihnen im voraus. Aber Sie müssen – Sie müssen!«

Er unterbrach sich, blieb stehn, faßte ihn am Rockknopf.

»Sagen Sie mir, Doktor,« rief er, »würden Sie rüberfahren, wenn Sie eine halbwegs sichere Möglichkeit hätten, nach Deutschland zu kommen?«

Frank Braun dachte: ›Wie ich den Kapitän frug – genau so!‹

Der Redakteur ließ ihn nicht antworten. »Da haben Sies! – Und nun sehn Sie: hier können Sie mehr leisten für Deutschland, zehnmal mehr, zehntausendmal mehr, als wenn Sie drüben im Schützengraben lägen. Also nicht wahr, Sie werdens versuchen, Doktor? Am Sonntag zum Deutschen Tag in Baltimore!«

Er nickte: »Ja, ja –«

Der Journalist zog ein Notizbuch hervor. »Ihre Adresse, bitte? Und die Telephonnummer?« Er klappte das Buch wieder zu, schob es in die Tasche. Und es klang sehr befriedigt, als er sagte: »So, das wäre erledigt – Sie werden von mir hören, Doktor, ich werde Ihnen alles Nähere mitteilen. Morgen rufe ich Sie an.« Er wandte sich zum Gehn – drehte rasch wieder um, begann von neuem: »Fast hätte ichs vergessen – da wartet eine Dame, die Sie sprechen will. Eine alte Bekannte.«

»Wie heißt sie?« fragte er.

»Frau van Neß ist es,« sagte der Lange. »Kommen Sie, kommen Sie!« Er griff seinen Arm.

Frank Braun widerstrebte. »Ich kenne sie wirklich nicht,« sagte er, »habe nie den Namen gehört.«

»Aber sie kennt Sie, Doktor, verlassen Sie sich darauf!« beharrte der Redakteur. »Sie hat mir erst den Gedanken eingegeben, Sie zu angeln für unsere Sache. Kommen Sie, kommen Sie, ich habs eilig. Zur Redaktion muß ich.«

Er zog ihn mit. Da stand die Dame, schlank, mittelgroß, im tiefen Schwarz. Ein langer Trauerschleier fiel über ihr Gesicht.

»Da ist er,« sagte der lange Tewes. Und er stellte vor: »Frau van Neß.« Dann wandte er sich schnell: »Und nun verzeihn Sie – habe wirklich keine Zeit mehr.«

Mit mächtigen Schritten sprang er durch die leere Halle.

Die Dame schlug ihren Schleier zurück, rotblondes Haar leuchtete über den grünen Augen. Nein, nein, dachte er, nicht schwarz! Sie sollte nicht schwarz tragen!

Dann erkannte er sie: Lotte Lewi war es, vom Tiergarten.

Er sagte: »Sie sind es, Lotte –«

Sie lächelte: »Sie? Immer wieder: Sie?«

»Also du, Lotte,« verbesserte er. »Du – wenn du das lieber magst. Wo sahn wir uns zuletzt?«

»In Venedig,« sagte sie, »sechs Jahre sind es her. Auf dem Markusplatz traf ich dich wieder, und du sprachst: ›Lotte Lewi, die Phönizische! Rote Haare, grüne Augen und dünne schwarze Streifen darüber. So schlank wie Baaltis – und die Nägel gefärbt mit Hennah. Mädchensehnsucht, die jede Sünde kennt. Und verlangt nach neuen. Tiergarten – bestes Halbblut – muß Belladonna in ihren Haaren tragen‹.«

»Weißt du so genau, was ich sprach?« fragte er.

Sie nickte leicht: »Ganz genau. Was du sprachst und was ich sprach. Und was geschah – Einen Tag hatte ich dich und eine Nacht.«

Er fragte rasch: »Du bist in Trauer?«

Sie lachte. Sie merkte wohl, wie er wegwollte über die Erinnerung. Ruhig sprach sie: »Warum? Glaubst du, daß ich jetzt dich losließe?«

Da hob sich seine Lippe, wie befreit klang sein Lachen. »Du auch? Eben erst hat mich der Redakteur mit Beschlag belegt. Glaubst du, daß jeder mich nehmen kann, wie und wanns ihm beliebt?«

Sie wurde ernst: »Ja, das glaube ich,« sagte sie still. »Jeder kann dich nehmen – jeder, der eben will und mag. Manchmal denke ich, daß du gar kein Mensch bist, nur ein Saiteninstrument, das so aussieht wie etwas Lebendiges, seltsam genug. Alles, was nur mag, nimmt dich und spielt auf dir – Menschen, Dinge, Gedanken! Du, Frank Braun, du bist nur immer die Puppe – in all deinen Tragikomödien!«

Er spottete: »Und nun willst du wieder einmal die Drähte ziehn, Lotte? Du mußt doch wissen, daß ich wenigstens einen Willen habe –«

»Welchen?« fragte sie.

»Den – fortzulaufen,« gab er zurück.

Da nickte sie: »O ja. Und das ist vielleicht das beste an dir. Für dich – und wohl auch für die andern. So bleibst du jung.«

»Wie du, Lotte,« warf er hin.

Sie seufzte: »Meinst du? Ich bin dreißig nun. Immerhin, ich weiß gut, daß ich niemals besser aussah. Als ich fünfzehn war, als du mich verführ – oder nein: als ich dich zwang, mich zu verführen – war ich nicht so schön. Und nicht, als ich dich wiedernahm mit neunzehn, und auch nicht das letzte Mal in Venedig. Ich weiß es wohl: ich bin schön heute. Darum –«

Er unterbrach sie: »Unsere Liebschaft ist alt, Lotte.«

Sie sah ihn ruhig an. »Unsere Freundschaft meinst du. Alt genug – sechzehn Jahre nun. Aber unsere Liebschaft? Laß mich zählen. Einen Nachmittag in Berlin – später einmal unsere Osterfahrt: fünf Tage. Und wieder in Venedig einen Tag und eine Nacht. Acht Tage also, wenn mans nach oben abrundet.«

Sie ließ ihren Blick nicht von ihm, aber er erwiderte ihn nicht, sein Auge schweifte durch die weite Halle. Sie seufzte leicht auf, sagte: »Wir sind die letzten. Laß uns gehn.«

Ein paar Schritte gingen sie schweigend nebeneinander. Dann begann sie wieder: »Fragst du nicht, warum ich in Trauer bin?«

»Ja,« sagte er, »ist dein Vater gestorben? Oder deine Mutter?«

»Der Vater starb vor drei Jahren schon,« erwiderte sie. »Schlagfluß. Und ein schönes Begräbnis hatte der Geheime Kommerzienrat Lewi, sehr prunkvoll und sehr christlich, ganz nach dem Herzen der Mutter. Sie zog dann fort von Berlin, lebt nun auf dem thüringischen Rittergut mit ihrem Vater, dem alten Baron Kühbeck.«

»Vor drei Jahren schon?« fragte er. »Und immer noch trägst du Trauer?«

Sie sagte: »Nicht um des Vaters willen. Ich heiratete kurz vor seinem Tode einen Amerikaner – in Baumwolle – einen Geschäftsfreund des Vaters, der noch viel reicher war als er selbst. Er starb – vor sechs Wochen nun.«

»Mein – mein Bei –,« versuchte er. Aber er brachte es nicht heraus.

»Schon gut, mein Freund!« nickte sie. Und wieder gingen sie schweigend ein paar Schritte.

»Damals,« begann er, »sagtest du, du seist verlobt mit irgendeinem Grafen. Damals, in Venedig. Nicht wahr?«

Eine kleine Freude flog über ihr Gesicht. »O, du erinnerst es! Ja, es war so, die Mutter wollte es durchaus. Aber der Vater war so dagegen – ich glaube, ihm wärs am Ende noch sympathischer gewesen, ich hätte dich geheiratet!«

»Und dir?« fragte er.

»Mir?« Sie lachte. »Mir? Mir wohl auch – das weißt du ja. Aber du warst fort – den nächsten Tag. Und damals war ich noch ein wenig stolz – oder dumm, wie dus nehmen willst. Statt dich zu suchen – heulte ich, wie ichs schon früher getan. Dann kam der Yankee – und der Vater drängte mich, genau so wie die Mutter mit ihrem hübschen Grafen. Der oder der: mir wars ganz gleich. Ich habs an den Knöpfen von Papas Weste abgezählt: so wurde ich Frau van Neß.«

Sie traten aus der Halle heraus; sie hob den Schirm, winkte ihrem Chauffeur. Das Auto fuhr vor, er öffnete den Schlag.

»Auf Wiedersehn,« sprach er.

Da lachte sie hell auf. »Nein,« rief sie, »nein! Diesmal nicht! Steig ein!« Er zögerte. Da hob sich ihre Stimme. »Steig ein!« befahl sie.

»Lotte,« sagte er, und sehr weich klang es, »Lotte – haben wir zwei nicht oft genug die Waffen gemessen?«

Sie antwortete: »Und warst du nicht jedesmal der Sieger? Sags doch! Aber heute kenne ich dich, Frank Braun, kenne dich besser, als du mich kennst, besser, als du dich selbst kennst.«

»Und du meinst: heute wirst du siegen, Lotte?« fragte er.

» Heute – ja!« sagte sie fest. »Jetzt in dieser Stunde. Sieh, was möchte es dir nutzen, wenn du fortgingest? Ich würde morgen in deiner Wohnung sein. Und am nächsten Tage – und wieder – du würdest schon nachgeben – einmal – du weißt, daß du es tun würdest.« –

Er biß seine Lippen. »Gibs doch zu!« rief sie.

»Vielleicht,« schluckte er.

»Sicher,« sagte sie. »Und weil du das fühlst – darum bin ich stärker als du – jetzt. Steig ein!«

Er stieg in das Auto, und sie folgte ihm. Sie setzte sich neben ihn und warf den Schlag zu. Dann ließ sie den Schleier fallen.

»Nach Hause,« befahl sie.


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