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V. Türkise

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Sprach Rimnild, des Königs Töchterlein: »Reit ins Blaue! Bleibt dir blank mein Spiegelein, Bin ich dir treue Fraue! Zeigt es trüben Schein, War mein Denken nit rein. Trägt es blutroten Fleck, Dann nimm ein' neue: Dann gab ich mein Mädchentum weg, Gegen dich untreue!«

Die Ballade von Hind Horn und Maid Rimnid (XIV. Jahrh.)

 

»Zwei Türkise aber – die sie Teuxihitl nennen – nehmen sie, roh geschliffen und in Silber gefaßt, verbunden mit silbernen Kettlein. Die tragen sie über der linken Hüfte, wenn sie über Land reisen, zum Schutze gegen Räuberscharen.«

Juan de Galdos (XVI. Jahrh.)

 

Sein Sekretär gab den Revolver in die Ledertasche.

»Nein,« sagte Frank Braun, »legen Sie ihn weg. Er ist nicht nötig.« Dann schwankte er, hielt die Waffe unschlüssig in der Hand. »Oder – ich könnte ihn als Geschenk geben, er wird willkommen genug sein.« Aber wieder zögerte er einen Augenblick. »Nein – den nicht. Es ist ein deutscher Armeerevolver – man soll nicht sagen, daß wir Waffen einführen über den Rio Grande. Alles, was die Mexikaner bekommen, liefern ihnen ja die Yankees selbst – so mögen sie auch von mir amerikanische Ware bekommen. Da – unten in der Schublade – liegen Smith und Wessons genug, nehmen Sie gleich ein halbes Dutzend. Und vergessen Sie die Patronen nicht, fünf Schachteln mit jeder Waffe.«

Sie packten die Revolver ein, schwer genug ward die Handtasche.

»Soll ich Ihre lieben Freunde rufen?« fragte der Sekretär. »Sie müssen Abschied nehmen.«

Er nickte. »Ja, holen Sie sie! Sind sie herbestellt?«

»Alle drei!« lachte der andere. »Es wird rührend genug werden.« Ging ans Fenster, schlug die Vorhänge zurück, winkte mit raschen Gesten. Es war ein junger Bursch, schlank und blankäugig, kaum dreiundzwanzig. Ein Steiermärker, gescheit genug, fähig und geschickt zu allem, was nötig war. Ein wenig zerfahren manchmal und oberflächlich, wenn ihm die Mädchen im Kopf spukten. Aber er riß sich zusammen, wenn es drauf ankam, fand sich zurecht in heikelster Lage – das war, was man brauchte an dieser Stelle. Ernst Rossius hieß er, war weggelaufen vom Gymnasium, hatte sich herumgetrieben in drei Erdteilen als Journalist und Dolmetscher, als Steward und Trimmer und Stauer – als Landstreicher auch, wies gerade traf. War nun gestrandet in den Staaten, wie so viele Tausende. Er kam zu ihm eines Tages, bot sich ihm an.

»Empfehlungen?« fragte Frank Braun gewohnheitsmäßig. Das war seine erste Frage bei jedem Besucher; er nahm dann die Briefe, las sie nie, aber blickte so hinein, ließ den andern sprechen. Das gab ihm Zeit, sich ein Bild zu machen.

»Hier!« sagte der junge Mann rasch. Er griff in die Tasche, nahm einen Stoß Papiere heraus, reichte sie ihm. Es waren lyrische Gedichte. Der Namenszug stand unter jedem und irgendein Datum.

Frank Braun brummte: »Nette Empfehlungen – pfui Teufel!« Aber er las doch. Die Gedichte waren schlecht, unreif und nachempfunden. Und doch – hier und dort – war ein Klang, ein kurzer Satz – irgendein Wort nur, das diesen Bengel da gab, den Ernst Rossius und sonst keinen. Irgendein: ›Vielleicht‹ rief aus diesen Versen.

»Was können Sie?« fragte er.

Der Junge sagte: »Alles. Oder auch: nichts – wie mans nimmt. Ich kann alles – und nichts ordentlich.«

Das gefiel ihm wieder, er lachte. »Meinetwegen bleiben Sie, wenn Sie Lust haben.«

So blieb er.

Die Detektive kamen herein; sie waren sehr erschreckt über die offenen Koffer. Wenn er sonst wegfuhr, zwei oder drei Tage nur, nahm er nur die große Ledertasche mit. Ein paarmal, im Anfang, hatte ihn einer der Leute begleitet; später hatte er nur gesagt, wohin er fahre und wo er sprechen würde. Da waren sie brav in New York geblieben, hatten seinen Bericht genommen und alle die hübschen Reisespesen in die Tasche gesteckt.

Aber dies sah anders aus. »Wie lange wollen Sie fortbleiben?« fragte der Hagere mißtrauisch.

»Einen Monat. Sechs Wochen vielleicht,« antwortete er.

O, so lange? Warum denn nur? Und wohin er denn reise?

Ruhe müsse er haben, das sei alles. Allein müsse er sein, still arbeiten für sich. Aufs Land wolle er, an die See.

Aber sie glaubten ihm keinen Buchstaben. O, sie wüßten Bescheid – mehr als er denke! Nach Kanada wolle er, das sei gewiß. Den Wellandkanal in die Luft sprengen, oder eine Eisenbahnbrücke. Die Zeitungen seien ja voll davon. Ein paarmal sei es mißlungen – aber man kenne die Deutschen – sie versuchten es wieder und noch einmal, bis –

Der Kleine, Dicke hob die Ledertasche auf – schwer, schwer. »Dynamit?« fragte er scheu.

Dann baten sie, beschworen ihn, flehten fast. Er solle sich schonen, um Himmelswillen. Der Kaiser würde auch ohne ihn fertig. Das sei Leichtsinn, sei verbrecherische Tollkühnheit, so sein Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn ihn die verdammten Kannucken fingen – totschössen – als Spion –! Sie würden es sich nie vergeben können, daß sie ihn nicht besser beschützt hätten. Sie liebten ihn so –

»Und euren guten Job!« lachte er.

Es klopfte, der alte Diener meldete den Briefträger. »Führen Sie ihn ins Vorderzimmer,« befahl er. Er wandte sich an seinen Sekretär. »Werden Sie mit den Leuten fertig?« fragte er auf deutsch.

»Ich denke schon,« antwortete der Junge.

Er ging hinüber, schloß die Türe hinter sich. Er nahm seine Post in Empfang, quittierte die eingeschriebenen Briefe. Er sagte dem Mann, daß er ein paar Wochen ins Seebad ginge, ließ ihm Vollmacht für seinen Sekretär. Das war nicht ganz in der Ordnung, aber ein paar Dollarnoten brachten es rasch ins reine.

Dann kam ein Laufbursche, brachte einen großen Busch roter Rosen und ein Briefchen dazu. Von Ivy Jefferson kam es, der kleinen blonden Ivy Jefferson, der er den Hof machte seit ein paar Monaten schon. Er kannte ihren Vater und ihre Mutter – die spielte in der Fünften Avenue eine Rolle und er in Wallstreet.

Er nahm das Papier von den Rosen – das duftete jung und gut, wie das frische Fleisch von Ivys achtzehnjährigem Nacken. Er lächelte – die Rosen waren ein gutes Zeichen. Er hielt sie gut, die blonde Ivy, und mit ihr Vater und Mutter – die schon tun mußten, was sie wollte, dies verwöhnte, eigenwillige, einzige Kind. Mit ihnen aber – zwanzig Familien, mehr noch – das war eine gute Rückversicherung, wenn ihm doch etwas passieren sollte da unten. Er hielt sie alle – gegen ihr Gefühl – nur mit der einen Karte: Ivy.

Ihr Empfangstag war es, im Februar, der Tag, an dem sie eingeführt wurde in die Welt, an dem alles da war, was nur in New York zur ersten Gesellschaft gehörte – o, zur allerersten. Vor ein paar Jahren schon hatte ihn in London der alte Jefferson dazu eingeladen – so leichthin nur, so im Plaudern: dazu müssen Sie hinüberkommen! Und er hatte – ebenso – geantwortet: gewiß, dazu komme ich.

Nun war er da, war in New York. Der lange Tewes brachte ihm eines Morgens die Zeitungen, die alle der blonden Ivy riesiges Bild gaben. Ivy Jefferson wird eingeführt in die Gesellschaft – ach, das war wichtiger als alle Schlachten in Polen und Frankreich.

»Sagten Sie nicht einmal, daß Sie die Jeffersons kennen?« fragte der Journalist. »Haben Sie schon Besuch gemacht?« Er verneinte. »Dann müssen Sie hin – heute noch!« Und er gab nicht nach, packte ihn auf, nahm ihn mit hinunter nach Wallstreet zu des Alten Büro in der Jeffersonbank. »Dahinein, Doktor!« rief er.

Er wartete draußen, lief auf und ab mit langen Schritten, bis Frank Braun herauskam. »Nun – was ist?« fragte er. »Hat er Sie eingeladen?«

»Ja, das hat er,« antwortete er. »Ungern genug.«

Der Journalist krähte: »Kann ich mir denken. Nur Alliierte sind da – Munitionsmenschen und Anleihefritzen! Sie sind der einzige Deutsche – ganz gewiß.« Er rieb sich die Finger vor Vergnügen. »Ach, ich kann mir das Gesicht denken, das der alte Jefferson gemacht hat! Süß und sauer und gekränkt – und wieder liebenswürdig – und sehr ergeben. Er wußte gleich: wie er's machen würde, wars falsch. Lud er Sie nicht ein – würde seine teure Gattin ihn mächtig ausgezankt haben, ob seiner Taktlosigkeit und Feigheit – und nun, da er Sie einlud, wird sie ihn schelten eben deshalb.« Er brannte eine große Zigarre an, stieß den Rauch weg in dicken Wolken. »Aber nun kommt die Hauptsache, Doktor: Sie müssen dem Jeffersongirl den Hof machen auf Teufelkommraus. Müssen alle andern bei ihr ausstechen. Denn das Frätzchen hält viele Fäden – oder wird sie halten, wenn sie's heute auch selbst noch nicht einmal weiß. Ihr ists – heute noch – vermutlich ganz gleichgültig: britisch oder deutsch. Sie müssen sie gewinnen! Die Kleine kann uns – oder Ihnen – einmal sehr nützlich sein. Sehn Sie –«

Und er redete, redete. Erklärte ihm, stoßweise in raschen Sätzen, zwischen hinausgepufften Rauchwolken, wie die Jefferson-Bank arbeitete, vor und hinter den Kulissen. Und wie der alte Börsenbär – und seine Frau nicht weniger – alles tun möchten um ein Lächeln ihres blonden Töchterleins.

»Woher wissen Sie das alles?« fragte Frank Braun.

Tewes blieb stehn, schwenkte den langen Arm in der Luft. »Wozu bin ich politischer Pressemensch in New York seit nun dreiundzwanzig Jahren? Drüben muß man Behörden kennen – hier Familien!«

Frank Braun bekam seine Einladung. Er ging hin um des Tewes willen und mehr noch, weil ihn Lotte van Neß so drängte. »Er hat dreimal recht,« sagte sie. »Mach ihr den Hof, zeig, was du kannst. Nimm sie – gib ihr die ersten Küsse.«

»Küsse – ohne Empfindung!« warf er ein.

»Pah!« machte sie. »Was tut das? Küsse sind Küsse – ob sie gemeint sind oder nicht.«

Das war nicht schwer, da den Hahn zu spielen. Ein paar französische Bankleute und Diplomaten, aber alt; amüsant genug, aber völlig unfähig, so wie man englisch sprach. Italienische Künstler, Maler und Sänger, zweiter Klasse alle, überlaut und bedientenhaft zugleich. Dann manche Engländer, mit sehr guten Formen, ruhig und kalt. Unterhaltend, aber ohne Witz, sehr höflich und zuvorkommend, aber stets mit der beleidigenden Geste: »Wie gut von mir, hinüber zu kommen zu euch – Pack!«

Und Amerikaner natürlich, viele Amerikaner.

Junge Burschen, gutgewachsen, gesund, groß und kräftig, diese Söhne der ersten Häuser – welch ein Gegensatz zu dem hohlwangigen, engbrüstigen und plattfüßigen Volk, dessen Millionen tagein und aus die Untergrundbahn aus der Erde heraus ans Licht spie! Studenten von Harvard, Yale und Princeton, die rudern konnten und reiten, boxen und motorfahren, die Baseball spielten und Fußball und gleich gewandt waren im Hockey wie im Tennis. Und die – ohne Frage – ihren Frack so leicht trugen wir ihr Polohemd.

Juden waren nicht da – keiner und keine. Der Kaiser mochte sich Herrn Ballin zum Frühstück bitten, und der König von England Sir Ernest Cassel! Dies aber war ein amerikanisches Haus – eines der allerersten: eher hätte der Russenzar den Baron Günzburg zum Tee geladen und mit Herrn Mandelbaum Bridge gespielt, ehe auch der reichste Jude über diese Schwelle gekommen wäre. Hier galt er schon fast als aussätzig – er, der Deutsche.

Ivy Jefferson stand da, neben ihren Eltern, einen Riesenbusch weißer Orchideen im Arm. Sie empfing, schüttelte über vierhundert Hände, sagte jedem eine rasche Phrase. Er kam spät genug, machte seine Verbeugung, nahm ihre Hand. Er wußte, von Europa her, daß sie Deutsch verstand – so sprach er zu ihr in seiner Sprache. Ihr Vater hörte es gleich, machte ein langes Gesicht – warf einen mißtrauischen Blick seiner Frau zu – dann ihm einen sehr vorwurfsvollen. Und begrüßte ihn, sichtlich kühl, auf englisch. Er antwortete, höflich und kurz, wandte sich wieder dem Mädchen zu. Sagte lachend und laut genug: »Soll ich Englisch sprechen? Ihr Vater stirbt vor Angst, daß einer Deutsch spricht in seinem Hause.« Da sprach die kleine Ivy – auf Deutsch – holpernd und ungelenk, aber doch auf Deutsch: »Es ist mein Tag heute: sprechen Sie Deutsch!« Er sagte:

»Danke!«, wandte sich zum Gehn. Aber sie hielt ihn fest. Absichtlich und offen. O, sie war erwachsen nun, war »in der Gesellschaft« seit dieser Stunde, war unabhängig allen gegenüber und ihren Eltern erst recht. Das mußte sie zeigen – und hier war die erste Gelegenheit.

Und – nur um noch etwas zu reden – sprach sie: »Jeder sagt mir ein paar Artigkeiten über mein Aussehn – Sie kein Wort. Wie gefalle ich Ihnen?«

Er maß sie, im Zehntel der Sekunde. »Gut,« sagte er langsam. »Sehr gut. Nur – Ihre Zofe ist eine Gans.«

»Weshalb?« fragte sie.

Er zog die Lippen herab. »Sie haben ein Wimmerl – da auf der Schulter – ein kleines nur. Wozu gibt es Muschen?«

Sie wurde rot – unter Schminke und Puder – das sah er wohl. Ihr Blick traf ihn, beleidigt und gekränkt – flog hinüber zur Schulter. Sie biß die Zähne zusammen –

»O!« flüsterte sie.

Dann wandte sie sich scharf ab – ließ ihn stehn. Streckte die schlanke Hand einem andern entgegen.

Er ging, verlor sich in den Menschen. Er überlegte – einen Augenblick zweifelte er – nickte dann befriedigt. Er dachte: »Es war doch gut. Zweihundert Männer gaben ihr die Hand – sagten alle dasselbe. Mich wird sie merken.«

Er saß, irgendwo an einem Tische, hinten in dem gotischen Speisesaal. Aß ein wenig, trank, sprach mit höchst gleichgültigen Menschen. Ging hinüber mit ihnen in den Wintergarten, in den Ballsaal dann, stand an einer Seite ganz allein, sah zu.

Ja, tanzen konnten sie, diese amerikanischen Jungen. Gleichmäßig hinüber und herüber, immer dasselbe. Seelenlos, ohne jede Empfindung, unendlich langweilig – aber geschmeidig, unermüdlich, stundenlang.

Er stand und wartete.

Er sah sie vorbeischreiten, zweimal, fünfmal, viele Mal. Sie blickte wohl hinüber zu ihm, aber sie nickte ihm nicht zu. Manchmal, wenn sie sich setzte auf ein paar Minuten, schien es ihm, als ob ihr Auge hinüberirre – auffordernd erst, dann entrüstet und wieder herausfordernd. Warum kam er nicht, sie zum Tanz zu bitten? Aber er stand nur, still, unbeweglich, schaute zu, wartete.

Hochmütig, ein wenig gelangweilt.

O nein, es war nicht Absicht bei ihm. Er ließ es gehn, wie es ging. Er wartete. Er dachte: sie wird kommen.

Wieder tanzte sie vorbei – da brach die Musik ab. Sie kam zurück mit ihrem Partner, streifte ihn dicht, blieb stehn, wandte sich zu ihm.

»Da, schauen Sie!« sagte sie.

Es klebte eine kleine schwarze Musche auf ihrer Schulter.

»Das ist lieb!« nickte er.

Sie stellte ihren Partner vor, einen großen Studenten. Sie gaben sich die Hände, boten sich Zigaretten an. Dann nahm sie seinen Arm, verabschiedete den andern.

»Tanzen Sie nicht?« fragte sie.

»Nein,« sagte Frank Braun.

Wieder begann sie: »Ich bin etwas müde – ich möchte Eis haben. Kommen Sie!«

Jetzt war die Gelegenheit da, jetzt. Aber nichts fiel ihm ein, und er sagte nichts. Er dachte: ›Wenn mich der Tewes sähe! – Esel! würde er machen, Dummkopf!‹

Aber sie gab nicht nach. »Wollen wir Englisch sprechen – wenn wir allein sind? Mir fällts soviel leichter.«

Er nickte leicht: »Wie Sie wollen.«

Wieder eine Pause. Er holte ihr Eis, sie setzten sich an einen kleinen Tisch, ganz in der Ecke. Und wieder begann sie: »So habe ich Sie mir gedacht – sehr verschlossen. Manchmal so – und manchmal anders.«

»Gedacht?« fragte er. »Wann gedacht?«

»Gestern!« lachte sie. »Über eine Stunde haben sie sich gezankt, Papa und Mama, Ihretwegen. – Sie sind gefährlich. Sie sind ein Verschwörer.«

»Ach,« sagte er, »ich bin harmlos genug.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein,« rief sie, »das sind Sie nicht. Unsere Hausdame ist aus Wien – die weiß von Ihnen. Mama hat sie ausgefragt. Sie hat mich dann gewarnt vor Ihnen.«

Er blickte auf. »Und?« fragte er.

Sie lachte: »Darum sitze ich hier.«

Er antwortete nicht. Er sah sie an, lange und still. Sie sprach, sprach, aber er hörte nicht hin. Sie war dunkelblond, ihr Haar war nach hinten gekämmt in großen Wellen. Die Brauen schienen ein wenig zu stark – aber das Auge selbst war grau und schön und die Nase schmal und wohlgebildet. Und ein nervöses Zucken in den Flügeln. Klein der Mund, gutgeschweift die Oberlippe. Ein bißchen zu lang der Hals, zu fallend die Schultern und nicht voll genug. Flach der Busen noch, allzu flach. Und doch war sie hübsch – so jung – so erste Blüte noch.

»Was starren Sie mich an?« rief sie. »Sprechen Sie doch.«

Er hielt ihr Auge nun. Schwieg, wie sie schwieg.

»Was wollen Sie?« fragte sie.

Er ließ sie nicht. Sagte: »Ich kam her – Ihretwegen.«

Sie setzte ein Lachen an, das brach in der Mitte.

»Ihretwegen –« wiederholte er.

Einer kam, bat sie zum Tanz. Da sagte er – aber wie eine Frage klang es: »Ich werde nun gehn.«

Sie stand auf, reichte ihm die Hand. Und sie sagte: »Kommen Sie zum Tee – am – am – – Übermorgen!«

* * *

Wieder hob er die roten Rosen – jeder Stiel ein Meter lang – American Beauties.

Sog ihren Duft ein – legte sie vor sich auf den Tisch. Griff ihr Briefchen, riß es auf. – Er war zum Tee gegangen zu Ivy Jefferson. Er war allein mit ihr – nur einmal kam die Mutter herein, auf wenige Minuten nur. Nein, er hatte ihr nicht den Hof gemacht, ganz und gar nicht. Er war nicht nett zu ihr, nicht liebenswürdig.

Aber sein grünes Auge konnte verwirren – manchmal, wenn es gerade sein Tag war – und der Tag war sein guter Tag. Er hatte mit leichten Fingern ihre Hand gestreichelt und den Arm.

Er wurde ein guter Freund in diesem Hause. Er ging zweimal hin in jeder Woche oder dreimal. Er ging mit ihr zur Oper, ritt aus mit ihr. Viel zu oft, dachte er. Sie nimmt meine Zeit weg. Aber sie sagte: »Viel zu wenig! Sie sind mein ›Beau‹ – und Sie müßten jeden Tag kommen.«

Sie mußte ihren erklärten ›Beau‹ haben – wie jede Dame der New Yorker Gesellschaft – das war ausgemacht. Doch sie, Ivy Jefferson, nahm einen Deutschen – in dieser Zeit. Ihr Vater war entrüstet darüber, noch mehr die Mutter. Aber dann, erstaunlich rasch, gewöhnten sie sich daran. Und Frau Alice Jefferson – ihr ›Beau‹ war der englische Generalkonsul – erklärte jedem, der es hören mochte – daß sie es sehr stilvoll fände, was ihre Tochter tue, und sehr mutig. Wirklich, sehr mutig.

Mehr noch, sie wurden herzlich zu ihm und gut. Sie taten nicht nur so – sie mochten ihn wirklich leiden, gewöhnten sich an ihn – das machte der kleinen Ivy Wille. Einmal nur versuchte die Mutter, ihr ernste Vorstellungen zu machen.

»Muß es gerade ein Deutscher sein?« rief sie.

»Soll ich einen Italiener nehmen?« gab die Tochter zurück. »Mich lächerlich machen?«

Nein, nein, einen ›Dago‹ nicht. Aber es waren so viele Engländer da, Kanadier, dann Franzosen und Belgier, auch ein paar Russen. Denn, daß es kein Amerikaner sein konnte, stand fest. Das hatte die kleine Ivy von ihr, diese instinktive mißtrauische Nichtachtung für alle Männer ihres Landes, die sie teilte mit so mancher Dame der großen Gesellschaft.

O ja, im Beruf – da waren sie gut. Geld schaffen, so oder so, auf tausend Wegen, das konnten sie. Aber als Männer? – Keine von all diesen Damen sprach es je aus – und doch hing es überall in der Luft. Sie waren anders mit Amerikanern – anders mit den Fremden. Da zitterten ihre Nüstern, da kam ein Glanz in ihre Augen.

Etwas fehlte diesen amerikanischen Männern von Klasse – allen fast. Sie waren aus gutem Holz – manche aus Erz oder festem Stein. Sie waren gut gekleidet und gut gewachsen, hatten Muskeln und Sehnen. Und doch –

Sein Freund, der Attaché der spanischen Gesandtschaft, faßte es gut. »No tienen cojones!« lachte er.

Das war es, ganz gewiß, das allein. Und die Frauen merkten es, fühlten es – bewußt und unbewußt. Asexuell waren sie – oder auch Masturbanten von Jugend auf – keine Empfindung, keine Erregung, kein rotes Blut.

Noch weniger: Sinne –

Und dann: so ungebildet waren sie, so ohne Kultur und unwissend.

Die Dame der Gesellschaft stand viel höher. Sie mußte hinabsehen auf den amerikanischen Mann – aber der Europäer war ihr sehr gleichberechtigt – stand höher zumeist.

Und dann – und das war viel mehr – er gab ihr: »Thrill« –

»Thrill« – eine Erregung, groß oder klein, ein Kitzel im Blut und in den Nerven – etwas, das aufpeitschte.

Das tat kein Amerikaner.

– Er las Ivys Brief – drei Seiten – in großer steiler Schrift. Sehr häßlich sei es von ihm, daß er weggehe, sehr gemein! Warum er nicht mit ihnen käme nach Neuport? Und daß er nur nicht sich einbilden solle, daß sie nicht rausfände, was er vorhabe! Sie werde es herausbekommen – und wenn es ihr fünfzigtausend Taler kosten solle! Und sie schicke ihm keinen Kuß – nein, das tue sie nicht.

Er stutzte; setzte sich hin, schrieb ihr. Wenn sie nur einen Schritt tue, ihm nachzuforschen, würde sie ihn nie wiedersehn. Er habe Gründe – und wenn sie klug sei – würde sie es begreifen. Er danke für die Rosen – die würde er mitnehmen. Er sei zurück, bald genug – und er schicke ihr ja Küsse. Sieben – und noch einen dazu.

Er gab den Bogen in den Umschlag, schrieb die Adresse. Dann rief er seinen Sekretär. Der kam mit den Detektiven – die grüßten und freuten sich.

»Da sehen Sie!« rief Ernst Rossius, »Rosen und ein kleines Briefchen.«

Der Kleine, Dicke trat auf ihn zu: »Recht viel Vergnügen, Doktor! Und bitte – eine Rose zum Gedenken – ich will sie meiner Frau mitbringen.«

Frank Braun nahm die Rosen, teilte sie in drei gleiche Teile – gab jedem der drei Halunken.

»Haben Sie auch eine Frau?« fragte er den Hagern.

»Nein,« sagte der, »aber ich kenne ein Mädchen.« Der Sekretär schob ihm schnell einen Scheck zu. »Unterschreiben Sie,« sagte er. »Dreihundert Dollar für die Leute.« Er setzte seinen Namen hin, gab einem das Papier. Schüttelte drei Hände, sagte dreimal: »So long –«

»Das war billig genug!« rief er, als sie draußen waren. »Wie haben Sie's angestellt?«

Rossius lachte. »Schade, daß Sie alle Rosen weggaben. Sie hätten mir auch ein paar lassen können für mein Fräulein Braut.«

»Noch dieselbe?« fragte er.

Der Junge verneinte. »Eine andere – seit letzter Woche. – Da – die Rosen – das war es! Ich habe den Kerls eine Geschichte vorgelogen: Sie hätten eine Liebschaft – sehr geheim natürlich. Und sie gingen mit der Dame auf eine kleine Hochzeitsreise. Das leuchtete ihnen ein – und die Rosen stärkten ihren Glauben. Dann die hundert Dollar für jeden –«

* * *

Frank Braun blieb in Torreon, im Staate Chihuahua. In Monterey hatte er sich von seinem Begleiter getrennt. Der fuhr südwärts nach Veracruz zu General Carranza. Sie waren übereingekommen, daß sie sich trennen wollten, daß jeder arbeiten sollte auf eigene Faust. Wenn sie zusammen blieben, gemeinsam von Villa zu Carranza fuhren, oder umgekehrt – immer würde der andre sie mißtrauisch genug aufgenommen haben.

Er wäre gern vorher noch hinunter gefahren zu dem dritten der drei Condottieri, dem kleinen glutäugigen Emiliano Zapata, der Guerrero hielt und Michoacan und Morales – aber es würde ihm zuviel Zeit nehmen, das stand fest. Und dann, der würde nie nach Norden ziehn, der nicht. Der war ein Stutzer im Räubergewerbe, einer, der sich und sein Pferdchen mit Silber schmückte, der Mädchen küßte und Jarape tanzte, viel Pulque trank und sein schwarzes Schnauzbärtchen keck in die Höhe drehte. Der war nie weiterzuschieben – und das wußten die Japsen sicher so gut, wie er selbst. Besser wie dort unten, konnte er das, was er wissen wollte, hier im Nordwesten erfahren: wenn irgendwo, so waren hier Nippons Agenten am Werke.

Er wartete. Pancho Villa mußte kommen, morgen, übermorgen – von Durango her. Nächste Woche vielleicht oder übernächste – aber kommen würde er. Er hatte seine Leute hierher bestellt, aus allen Teilen des Landes, wo immer sein Name galt: wie eine Heerschau sollte es werden. Und sie trafen ein, Hauptleute und Generäle, mit kleinen Trupps und mit großen. Lagerten in der Stadt und draußen, in Gomez Palacio und Lerdo.

Frank Braun ritt herum durch das Lager, schloß Freundschaften, schwatzte den lieben, langen Tag. Aus New York hatte er sich allerhand Kinkerlitzchen mitgebracht, Zigarren, die Feuerwerk machten, Streichhölzchen, die nicht anbrannten, und solch geistreiche Scherze. Die verschenkte er den Herrn Offizieren. O, er kannte seine Mexikaner! Wie die Kinder freuten sie sich, lachten wie Schulbuben, sie, deren schmutzige Finger dick klebten von Menschenblut.

Er horchte sie aus – das war leicht genug. Sie waren alle für Villa; o gewiß, er sei der starke Mann. Keiner aber hatte eine sichere Meinung, was werden sollte. Anarchie in diesen Köpfen, wie überall im Lande.

Und nur in einem, einem einzigen Punkte stimmten sie alle überein. Jeder Soldat, vom General bis zum letzten Maultiertreiber, jeder kleinste Obsthändler und Stiefelputzer, jeder Advokat und Politiker. Jede Frau auch, von der Señora bis zur Bordelldirne –

Das war der Haß, der tief eingefleischte Haß gegen den Yankee.

Kaum einer konnte sich ein Bild davon machen, wie das alles so recht gekommen war. Aber das wußten sie gut: alles, alles hatte der Amerikaner gemacht, vom ersten Tage an. Von ihm kam das Geld und die Waffen, die den mächtigen Diaz stürzten, durch ihn fiel Madero und Gutierrez und Huerta. Und die Carranzaleute, die gegen sie kämpften, hatten wieder amerikanisches Geld, schossen mit Yankeekugeln.

Und sie, die Villistas? Nun – sie auch, freilich! Das war es ja eben! Man fraß sich auf im ganzen Lande, man brannte, mordete, raubte und stahl. Allen zum Schaden – und zum Nutzen nur einem, dem Gringo, dem Amerikaner. Und es sollte keine Ruhe kommen, kein Frieden mehr, sie sollten weiterkämpfen und sich totschlagen gegenseitig. So paßte es Wallstreet und Washington – und darum geschah es.

Davon war jeder fest überzeugt. Wenn nur einer kommen wollte und sie führen: ah, im Augenblicke würden sie alle eins werden, Villisten und Zapatisten, Carranzisten und Diazleute, alle, alle, von Sonora bis Yukatan. Das war die einzige, die letzte Rettung für das verblutende, jämmerlich zerfetzte Land, der Kampf nach außen, der Krieg gegen den elenden, gewissenlosen Gringo, der ihr schönes, reiches, blühendes Land zu dem elendesten der Erde gemacht hatte.

Warum denn? Weshalb? Welche Gründe hatte ihr Feind, der Yankee? Auch das wußten sie, wurden nie müde, darüber zu sprechen. Er wollte ihr Land, wollte Sonora, Coahila, Chihuahua und das reiche Tamaulipas mit den Ölfeldern. Wollte sie berauben und bestehlen, wie er einst Kalifornien stahl, Neumexiko, Texas und Arizona. Aber er war viel zu feige, es einfach zu nehmen. Er machte es hinten herum, hetzte sie gegeneinander, ließ sie totschießen einer den andern, durch lange Jahre hindurch. Dann, wenn im ganzen Lande kaum mehr ein Mann da war, der eine Flinte tragen konnte, dann erst würde der tapfere Yankee kommen. Würde dann: Ruhe stiften. Würde nehmen, was ihm beliebte! So war Gringopolitik!

Sie gossen den Agavenschnaps hinunter in großen Gläsern, sie schlugen mit den Fäusten auf den Tisch, spien und schrien und lärmten. Und dann – einer und noch einer – schluchzte auf, weinte. O, es wäre schon besser, wenn die Gringos endlich kämen! Bald sei ja doch alles zu Ende – bald genug. Wie ein Stier stöhnten sie auf, wie einer, dem die Kreuzklinge des Espada hoch zwischen den Hörnern steht. Der in den Knien liegt, sehnsüchtig wartet auf den raschen Gnadenstoß des Puntillero.

Und da schrien die New Yorker Blätter: »Deutsche hetzen Mexiko gegen die Staaten auf.« Deutsche?! O je! Hier hetzte nur einer, einer – und das war der Yankee.

* * *

Am nächsten Sonntag ritt Villa ein. Man hatte die Stadt geschmückt, zerrissene Teppiche hingen aus den Fenstern und bunte Bettlaken. Auch ein paar Fahnen flatterten herum.

Die Leute blieben in den Häusern, aber manche Dirnen drängten sich an den Fenstern und in den Türen. Erwiderten lachend die saftigen Späße der einziehenden Männer. Die ritten und liefen durch die Gassen, ohne viel Ordnung, wie es jedem gerade behagte. Zerlumpt und zerrissen, bunt bewaffnet, alle in ihren mächtigen, spitzen Hüten.

Er stand auf dem kleinen Balkon, blickte hinab – noch war der Generalissimus nicht vorbei. Da klopfte es. »Herein!« rief er, wandte sich zurück.

Ein Offizier kam durch die Tür, hochgewachsen, mit mächtiger Adlernase. Und es fiel ihm auf, daß der wenigstens glatt rasiert war.

»Bitte die Störung zu verzeihn,« sagte er höflich genug. »Ich muß Sie verhaften.«

Er fragte: »Wer sind Sie?«

»Ich bin des Generals Adjutant.« rief der andere. »Es tut mir sehr leid – aber ich muß Sie abführen.«

»Wer gab den Befehl?« verlangte er.

Der Adjutant sagte: »Ich selbst. Sie sind ein Fremder, kommen aus den Staaten. Sie haben keinerlei Papiere. Wir müssen den Fall untersuchen. Bitte, folgen Sie mir.«

Frank Braun betrachtete den andern genau. Er trug hohe, neue Ledergamaschen – hatte im Gürtel drei Revolver stecken; in der Hand wippte eine kleine elegante Reitgerte. Kein Rock, keine Weste; das blaue Hemd war verstaubt und verschwitzt. Es stand halb offen, da sah er ein Stück weißer Wolle mit blauen Querstreifen.

»Arbekampfes?« fragte Frank Braun.

Der Fremde stutzte. »Das hat mich noch keiner gefragt in Mexiko!« Er trat an das Fenster, wandte sich zum Zimmer hin, daß er ihn gut sehn konnte, in vollem Licht. »Sind Sie auch –?« fuhr er fort. »Nein, nein – Sie sind ein Deutscher!«

Frank Braun nickte. »Das bin ich. Und Ihre Untersuchung können Sie gleich hier anstellen, wenn es Ihnen recht ist. Bitte, wollen Sie Platz nehmen?«

Sie setzten sich beide, sprachen zusammen, verstanden sich schnell. Er kenne Villa, erzählte Frank Braun, sei mit ihm in Sonora geritten, vor vier Jahren nun, als es gegen den Maitorena ging. Was er nun wolle? Je nun, sehn, wie die Stimmung sei, hier im Lande. – Welche Stimmung? Für Villa, oder Carranza – oder wen sonst? Nein, das sei ihm ganz gleichgültig – ihn interessiere nur eine Stimmung: die zu Washington – für oder gegen –?

»Sie hassen die Yankees?« fragte der Adjutant.

»Soll ich sie lieben?« gab er zurück. »Dafür, daß ihre Kugeln zu Tausenden meine Landsleute niederstrecken?«

Zögernd kam es: »Ich bin aus Neuyork –«

»Aus Hesterstreet?« fragte Frank Braun.

Da lachte der andere auf. »Sie wissen Bescheid! Aus Hesterstreet nicht grade – aber nicht sehr weit davon.« Er wurde nachdenklich. »Ich bin amerikanischer Bürger – heute noch. Und ich war es mit Leib und Seele – als Kind und Knabe und Jüngling. Glaubte felsenfest an Gleichheit und Freiheit und Gerechtigkeit – an das große Symbol im Neuyorker Hafen – kannte nichts, was nicht Sterne und Streifen war. Bis –«

Er stockte. Und Frank Braun wiederholte: »Bis?«

Der Adjutant sagte: »Bis ich sah, daß das alles freches Gelüge ist und hundsgemeiner Schwindel! Sehn Sie, Herr, ich bin zum Soldaten geboren – habe nie was anders geträumt. Mein Vater war entsetzt darüber, aber meine Mutter freute sich – sagte, daß ich Makkabäerblut habe. Zuschneiden lernte ich, aber endlich, als ich zwanzig Jahre alt war, setzte meine Mutter es durch, daß ich mich melden durfte beim einundsiebzigsten Regiment. Das ist keine reguläre Truppe, nur ein Freiwilligenregiment, Nationalgarde, die ein paar Abende im Monat drillt. Aber es gab doch Uniformen und Flinten und Säbel. Roch nach Soldat. – Überall hingen die Plakate herum, an allen Ecken verteilte man lockende Zettel der Werbebüros. Es sei die Pflicht jedes patriotischen Bürgers –! Patriotisch war ich bis in die Knochen hinein. Meine Pflicht war es: da meldete ich mich.«

Er lachte auf, schwippte mit der Reitgerte hell durch die Luft. »Sie untersuchten mich – und der Doktor sagte, ich sei ein prachtvoller Kerl, auf den das ganze Regiment noch einmal stolz sein würde. Dann aber – nach zwei Tagen schon – kam der Bescheid – daß ich untauglich sei, körperlich untauglich. Ich heulte die ganze Nacht hindurch – lief gleich am Morgen zu unserem alten Arzte, ließ mich noch einmal untersuchen. Kein Mensch in Neuyork sei so gesund wie ich, erklärte der. Ich sparte meinen Wochenlohn, ich ging zu den ersten Ärzten der Stadt, ließ mich begreifen und betasten, stundenlang. Eine schöne Sammlung prachtvoller Zeugnisse bekam ich – die schickte ich zum Regiment. Aber wieder kam der Bescheid: untauglich. Sie wollten mich nicht, wiesen mich zurück – weil ich Jude war. Nicht einmal als gemeinen Soldaten wollten sie den Juden!«

Er sprang auf, streckte ihm seinen Arm unter die Nase. »Fühlen Sie doch!« rief er. Frank Braun griff zu, wie Stahl waren diese Muskeln. Dann hob der Jude das rechte Bein. »Fassen Sie an – festere Schenkel haben nie einen Gaul umspannt.« Wieder tat er ihm den Gefallen, griff ihm ins Bein, versuchte das Fleisch zu kneifen. Aber es war unmöglich – das war aus Stein gemeißelt.

»Jeder krumme, plattfüßige Ladenjunge hinkt mit der braunen Uniform durch Neuyorks Straßen,« schrie er. »Aber mich wollten sie nicht – weil ich beschnitten bin! Ich war – untauglich!«

Er ließ sich schwer in den Stuhl zurückfallen, pfiff laut ein paar Takte vom Sternenbannerlied. »Sie lehrten mich in der Schule, daß das Yankeeland das herrlichste und das freieste der ganzen Welt sei. Dachten vermutlich, daß jeder Jude glückselig sein müsse und dankbar in alle Ewigkeit, wenn ihn ein Ozean trennt von des Zaren Knutenhieben. Aber meines Vaters Kille stand nicht in Rußland, aus Galizien stammen wir her. Sein Bruder war Rebbe – der machte ein bißchen Geld mit Petroleumland bei Drohobytsch. Zog nach Wien dann – und alle seine Jungen gingen aufs Gymnasium. Bekamen eine weit bessere Schulbildung, als ich sie hatte. Einer ist Ingenieur, einer Student auf der Universität und zwei, zwei sind – Leutnants! Heute stehn sie alle vier im Felde, kämpfen gegen die Mörder unseres Volkes. Das ist besser, als im Neuyorker Ghetto – wo man nur das Maul aufreißen kann!«

Seine Reitgerte schlug scharfe Hiebe durch die Luft. »Ich lese die Neuyorker Zeitungen. Jeden Tag predigen sie – wie einst in der Schule – Amerika ist das freieste Land der Welt! Deutschland und Österreich sind versklavte, reaktionäre Länder, die letzten und schlechtesten der Erde. Aber dort sind meine Vettern Offiziere – und hier war ich ihnen zu schlecht als gemeiner Soldat!«

Er bog seine Gerte, als ob er sie zerbrechen wollte. Er biß die Zähne übereinander, schluckte, würgte, atmete dann tief. Sprang rasch auf, bot ihm die Hand.

»Sie kennen meinen Chef?« rief er. »Gut! – Ich werde Sie heute nachmittag abholen und zu ihm bringen. Und wir können uns dann weiter unterhalten – wenn Sie Lust haben.«

Frank Braun erwiderte den starken Druck. »Ihren Namen?« bat er.

Der Jude lachte. »De Piedraperla – wie gefällt Ihnen das? Pearlstone heißen meine Eltern in Neuyork – Perlstein meine Vettern drüben. Aber sagen Sie Perlstein – mir klingts besser.« Er öffnete die Tür, wandte sich noch einmal zurück.

»Über alldem habe ich ganz vergessen, Sie zu fragen, was Sie eigentlich hier wollen,« rief er. »Aber wenn Ihre Mission die ist, gegen die Yankees zu hetzen – so sind Sie vollkommen überflüssig. Hier träumt keiner, Tag und Nacht, von etwas anderm, als von dem Haß gegen die Gringos, die das Land ruinieren.«

* * *

Frank Braun blieb zum Abend in seiner Wirtschaft, wartete. Aber der Adjutant kam nicht. Da ließ er sein Pferd satteln, ritt hinaus in das Lager, fragte nach Villas Quartier Das fand er bald; in einer Hazienda hauste der General, vor der Stadt. Der verwilderte Garten wimmelte von Soldaten. Die standen, saßen, lagen herum, sogen an ihren Zigarettenstummeln.

Nach Villas Adjutanten fragte er, dem Obersten Piedraperla. Aber keiner kannte den Namen, niemand konnte ihm Auskunft geben. Neugierig, hilfsbereit kamen sie heran, umstanden in großem Kreise seinen Gaul.

Wie der Mann denn aussähe?

Schlank, groß, glatt rasiert, elegant, braungebrannt, schwarze Augen und Haare –

Sie rieten hin und her – und fanden es nicht.

»Solch eine Nase hat er,« rief er und zeichnete mit dem Finger einen mächtigen Bogen in die Luft.

Nun lachten sie los, sprangen vergnügt herum wie Schulkinder. Den kannten sie gut, o ja, den mit der großen Nase! Don Benjamino sei es – natürlich! Und sie riefen, schrien, alle durcheinander: »Don Benjamino!«

Also Benjamin heißt er – Benjamin Perlstein, dachte Frank Braun.

Da flog eine Fuchsstute durch die Büsche, schweißüberdeckt. Der Reiter parierte sie, sprang ab, warf einem der Soldaten die Zügel zu. »Ach, da sind Sie!« rief er. »Ich komme gerade von Ihrer Fonda, dachte mir schon, daß Ihnen die Zeit zu lang geworden sei. Sie müssen entschuldigen, wir hatten alle Hände voll zu tun, diesen Nachmittag.«

Er nahm seinen Arm, führte ihn dem Hause zu.

»Der General ist sehr mißmutig heute,« sagte er, »schlechter Laune und wild. Die Tänzerin liegt ihm im Magen!« Er lachte, gab einen guten Fußtritt einem Soldaten, der schlafend auf der Treppe lag. »Ja, eine spanische Tänzerin – verdammte Bestie! Sie hat uns den Kopf verdreht, Pancho Villa und mir und allen andern. Keinem schenkt sie ihre Gunst – ist kalt wie das Eiswasser, das sie einem in Neuyork auf alle Tische stellen.«

Frank Braun blickte auf. »Na, offen gestanden – von euch sieht keiner so aus, als ob er ein Weibsbild lange bitten würde.«

»Ist auch nicht die Mode bei uns,« antwortete der Oberst, »ganz und gar nicht. Aber die zwingts – der Teufel mag wissen: wie! Jeder ist eifersüchtig auf den andern, so ist jeder ihr Beschützer. Schade, wenn Sie acht Tage früher gekommen wären, hätten Sie noch einen guten Striemen auf meiner Backe sehen können – den hat mir die blanke Dolores hingehauen, die sich ›Goyita‹ nennt. Ich griff sie um den Leib – da riß sie mir die eigene Peitsche weg. Villa und Perez Domingo und alle die andern wälzten sich vor Lachen. Aber ich kann mich trösten: sie hat mehr Hiebe hier im Lager ausgeteilt. La Pegona, die Hauerin, nennen sie die Soldaten – die laufen durch alle Feuer für sie.«

Sie waren im Hause, gingen durch einen großen Patio, in dem verdurstete Blattpflanzen auf dem Marmor standen. Gelbe Vorhänge hingen vor einer hohen Türöffnung, daneben salutierten Soldaten. Don Benjamino schlug die Vorhänge zurück, rief ein paar Worte in das völlig dunkle Zimmer.

Von hinten her scholl ein halbes Fluchen, ein tiefes, fast unverständliches, abgerissenes Grunzen.

Der Jude ließ die Vorhänge fallen. »Kommen Sie,« sagte er, »es ist besser, daß Sie ihn allein lassen heute. Er ladet Sie ein zu morgen, zum Jaripeo in der Arena und hernach zum Nachtmahl hierher. Da wird er bei Laune sein, da werden Sie besser fertig werden mit ihm.«

* * *

Oberst Perlstein pfiff nach den Pferden. »Wollen wir ein bißchen herumreiten, ehe die Sonne fällt?« schlug er vor.

Sie sprangen auf ihre Tiere, ritten in langsamem Schritt durch den Garten. Am Tore hielten sie; der Adjutant ließ einige Offiziere kommen, gab Befehle.

Da faßte ein seltsamer Schwindel Frank Braun. Er hörte die Stimme des Obersten, jedes Wort und jede Silbe. Aber es war, als ob der in einer fremden Sprache redete, die er nicht verstand. Und dabei verließ ihn – überall zugleich – alles Gefühl. Seine Schenkel faßten nicht mehr den mexikanischen Holzsattel – sie hingen ins Blaue. Seine Hände hielten den Zügel nicht mehr, der fiel schlaff auf des Tieres Hals. Es schien ihm, als ob er nicht einen Tropfen Blutes mehr im Leibe habe, langsam sank er vornüber.

Ein Offizier sprang hinzu, griff ihn fest, richtete ihn auf. Und – so wie er nur diese menschliche Berührung fühlte, dieses Zufassen einer starken Faust um sein Handgelenk – war es vorbei. Er konnte die Zügel greifen – setzte sich zurecht im Sattel.

»Was ist Ihnen?« rief der Adjutant. »Mann – wie ein Bettlaken schaun Sie aus.«

Er schüttelte den Kopf – ein leichter Schwindel nur – es sei schon alles wieder gut.

Aber der Jude war nicht zufrieden. »Wir wollen nach Hause reiten – das ist besser. Sagen Sie doch – was haben Sie gegessen heute?«

Nein, nein, sein Magen sei in schönster Ordnung – heute und immer.

»Wenn Sie – nichts Giftiges gegessen haben. Dann hilft der beste Magen nichts! Und bei uns hier ist manches möglich – in dieser Zeit.«

Frank Braun schüttelte lächelnd den Kopf. Er möge sich beruhigen – eine leichte Nervenschwäche sei es, an der er leide, seit Monaten schon.

»Mag sein,« sagte der Oberst, »mag nicht sein. Jetzt stehn Sie unter meinem Schutz – und da lassen Sie mich sorgen.«

Er half ihm vom Pferde, führte ihn die Steintreppe hinauf in die Fonda, brachte ihn in sein Zimmer. »Legen Sie sich aufs Bett,« rief er, »ruhn Sie ein paar Stunden aus. Ich komme später nach Ihnen zu sehn.«

Er ging; Frank Braun hörte durch die offene Türe, wie er unten laut nach dem Wirt schrie, dann einen Soldaten hereinrief von der Straße her. Er sprach Spanisch mit dem, mischte ein paar indianische Brocken hinein. ›Es ist ein Yaqui‹, dachte Frank Braun.

»Du,« befahl der Adjutant, »du bleibst hier. Stehst in der Küche, jedesmal, wenn etwas gekocht wird für den Herrn da. Den Fremden, weißt du, den großen! Kennst du ihn?«

»Ja,« rief der Indianer, »den Blonden.«

»Eben der!« fuhr der Oberst fort. »Du paßt auf, verstehst du, daß nichts hineinkommt ins Essen, was nicht reingehört. Du läßt doppelte Portionen kochen – und kostest selbst alles, ißt von jedem die Hälfte.«

»Ja, mein Oberst!« rief der Yaqui. Er war sehr zufrieden mit dem guten Auftrag.

Dann wandte sich Perlstein an den Wirt. »Sie haben gehört – was ich dem Soldaten befahl? Wir haben Verdacht. Und Sie sind mir verantwortlich – Sie! Wenn etwas passiert – an die Wand mit Ihnen. Also hüten Sie sich!« Er wartete keine Antwort ab, ging rasch auf die Straße, sprang auf seine Stute.

Dann aufgeregtes Geschwätz vom Patio herauf. Frank Braun stand auf, schloß die Tür.

Er war nicht müde, nein. Nur leer, leer – o so leer. Dasselbe Gefühl, das er hatte, als er in Philadelphia gegen die Livingstone sprechen sollte. Damals, als er die Farstin küßte –

Damals – und dann wieder, als er mit Lotte von der Oper kam – Und wieder, als er –

Oft nun, oft. Stärker und schwächer – doch nie so stark wie heute.

Aber er tröstete sich. War er nicht auf lange Wochen hinaus wieder ganz gesund? So gesund, daß er sich gar nicht vorstellen konnte, wie das eigentlich war mit dieser müden Leere!?

Dann fiel ihm ein, daß ihm Lotte van Neß ein Kuvert gegeben hatte – als er Abschied nahm. Es seien ein paar Pulver, hatte sie gesagt, falls er einen starken Anfall habe. Ein wenig Strychnin – und er solle nur dann eins nehmen, wenn es durchaus nötig sei –

Wo hatte ers nur hingesteckt? Er suchte in den Taschen, fand das Kuvert in der Brieftasche. Riß es auf, nahm eins der Papierchen, schüttelte das weiße Pulver auf die Zunge, spülte es herunter mit einem Schluck Wasser.

Nun ruhn ein wenig –

Das Kuvert schien ihm schwer, er schüttelte den Inhalt aus. Vier Pulverchen in Papier, dann ein Briefbogen und, in Watte gehüllt und in feinstem Lederetui, ein ganz kleines Taschenmesser. Er nahm den Brief, las ihn. Da stand in Lottes raschen, wilden Zügen: »Ich bitte dich, nimm das Messerchen. Trag es, mir zuliebe, in der linken Brusttasche deines Hemdes. Es ist ganz neu und sehr rein – und die Klinge ist blank und ohne jeden Fleck. Wenn du nicht mußt, gebrauch es nicht. Bring es mir zurück – wie es ist. Dir wird es nichts sagen, mir: alles.«

Er nahm das Messer heraus, öffnete die einzige Klinge. Es war aus Platin, die eine Seite zeigte das Bild eines Skorpions, die andere die eines Taschenkrebses. Die prächtige kleine Stahlklinge blitzte in den letzten Strahlen der Abendsonne, sie war so blank, daß er deutlich sein Bild sehn konnte, wie in einem Spiegel. Sehr spitz war die Klinge und scharf wie ein Rasiermesser.

Was will sie nur damit? dachte er. Aber er gab es doch – vorsichtig in Watte gehüllt und in dem weichen Lederetui – in die kleine Brusttasche seines Hemdes. Auf der linken Seite, über dem Herzen.


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