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XII. Heliotrope

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»Die blutsaugende Fledermaus, eingeschnitten in einen
Heliotrop, das ist ein Blutstein, gibt dem Träger
Macht über Incubus und Succubus; hilft bei Beschwörungen
wie bei Versuchungen.«

Ragiels Zauberbuch. (XIII. Jahrh.)

 

Er saß am Meere in der Silbernacht.

Er war ganz allein am Strande; sehr ferne träumte der Schein von Neuports Villen. Kein Mensch, kein Vogelschrei, kein leiser Hauch in der Luft. So still die Wasser, so weit.

Aber dorthin, ein wenig nach Norden hinauf, mußten die Dampfer fahren – Engländer, Franzosen, Italiener. Holländer auch, Norweger, Dänen und Griechen – nie, nie ein Deutscher.

Sie alle trugen Geschütze und Gewehre, Patronen und Granaten, Säbel und Pistolen. Trugen Äroplane und Unterseeboote, Revolverkanonen, Kriegsmaterial aller Art – was nur immer Amerika schaffen konnte, das blutende Deutschland in die Knie zu zwingen. Für sein Land – o ja, auch für sein Land hatten sie Kargo an Bord: ein paar Dutzend Postsäcke jedes neutrale Schiff. Die nahmen die Engländer ab in Kirkwall und Falmouth – nicht einmal ein paar Briefe gönnten die Herrn der Meere dem gehaßten Feind. Briefe – das erfrischte, das richtete auf, das war wie Brot – und Deutschland sollte verhungern.

Er saß am Meere in der Silbernacht. War hinausgeschritten aus Oakhurst, dem großen Besitze der Jeffersons. Saß im Sande, wartete auf Ivy, seine Verlobte.

Träumte hinaus.

Nun war er seit Wochen schon hier draußen. Er war in der heißen Stadt geblieben, solange es nur ging, hatte immer wieder seinen Besuch hinausgeschoben. War schließlich doch gekommen, froh am Ende, daß er da war. Mit Ivy schwamm er, ritt er, fuhr im Auto – lag in der Sonne des Strandes. Keinen sah er, außer seiner Verlobten. Ihren Vater noch, wenn er zum Wochenende herauskam, ihre Mutter auch und deren steifen Beau, den englischen Konsul. So wohl tat ihm diese Ruhe – und der reiche Luxus, der ihn umgab. Der gewaltige Park von Oakhurst mit dem Hirschgarten, mit den weiten grünen Rasenflächen, mit den unendlichen Treibhäusern. Hundert Gärtner arbeiteten da – und doch sah er kaum je einen, so groß war dieser Park. Sie fuhren herum in ihren Dogcarts, spannten auch Esel ein oder Ponys; spielten Golf, wenn gerade der alte Jefferson da war.

Abends aber, nach dem Essen, ging er allein aus dem Haus. Saß in den Dünen, träumte. Wartete bis Ivy ihm nachkam – dann wandelten sie am Strande.

Sie fragte wenig, ließ ihn sehr für sich. Aber sie lauschte, wenn er, selten genug, erzählte, hatte Interesse für alles, was er tat und sprach. Sie nahm ihn gut, schmiegte sich an, schmeichelte sich hinein in sein Empfinden. Ivy, dachte er, Efeu: die Eltern gaben ihr klug den Namen.

Sehr spät kam sie heute. Er sah ihre schlanke Gestalt weithin, aber er ging ihr nicht entgegen, blieb still sitzen, wartete, bis sie bei ihm war.

»Ich habe Ma zur Bahn gebracht,« sagte Ivy. »Sie ist zur Stadt gefahren.«

»Weil ihr Konsul nicht herauskam diese Woche?« fragte er.

Ivy nickte. »Ja. – Aber warum es sagen?«

»Warum nicht?« gab er zurück. »Es ist doch so.«

»Freilich ists so,« sagte sie. »Aber darum soll man es doch nicht sagen. Du weißt es – ich weiß es – wozu also? Es ist so deutsch, allen Dingen den rechten Namen zu geben.«

Er lachte. »Und so amerikanisch, es nicht zu tun! Und doch, Ivy, wie machst dus selbst? Wie nanntest du Frau van Neß?«

»Deine Mätresse!« antwortete sie. »Aber ich hatte einen guten Grund dazu. Dich wollte ich reizen – sie verletzen damit. Und – vielleicht auch – mir selber weh tun. Bei meiner Mutter ists anders – ich will nichts zerschlagen, will ihr helfen, wo ich kann. Das ist ihr Lebensglück: jung sein! Und sie ist jung, solange sie ihre Verehrer hat, und vor allem ihren Beau, den Generalkonsul.«

»Sag mal,« fragte er, »hilft ihr dein Vater auch?«

»Ich denke – ja,« sagte sie langsam. »Er läßt es gehn – und das ist gut so. Er hat seine Schauspielerinnen, seine Chormädchen – ich weiß das nicht, ich denk mirs nur so, weil jeder in Wallstreet sie hat. Und er kümmert sich nicht um das, was Mutter tut, sagt sich einfach: ›Es ist ganz selbstverständlich, daß es nur eine harmlose Freundschaft ist.‹ Und ich sage dasselbe, und du sollst es auch sagen – nun, dann ist es eben nicht anders! Vielleicht ist ja wirklich so: die beiden laden keinen dazu ein – wenn sie – allein sind.«

»Mir ists recht,« lachte er, »lügen wir uns hübsch alle was vor.«

Sie griff seine Hand, zog ihn hoch. »Ja doch!« rief sie. »Seit du mich bildest, find ich in jedem von den Büchern, die ich lesen muß, etwas, das mir gut gefällt! Paß auf – der Kardinal Meserein hat gesagt: »La vérité? Qu'est ce que c'est? – Une fable convenue!«

»Mazarin heißt der Kardinal,« verbesserte er. »Und dann hats auch nicht der gesagt, sondern Richelieu.«

»Aber ein Franzose wars!« erwiderte sie. »Und es stimmt, stimmt – und wenn er Billy Sunday hieße.«

Sie zog seinen Arm unter den ihren; langsam schritten sie weiter.

Sie sagte: »Wenn du es doch lernen wolltest – du und all ihr Deutschen!«

Er dachte: ›Wir können es nie lernen!‹ – O, es war schon richtig: das war das kluge Rezept, um groß zu werden, reich und mächtig. War die gescheiteste Lebensweisheit, für den einzelnen wie für die Völker. Drei klingende Wörtchen log der Franzos in die Welt hinaus: Liberté, Fraternité, Egalité – log sie so gut, daß jeder ihm glaubte – und er sich selber dazu. Und England sang: ›My home is my castle,‹ sagte dazu viele moralische Sprüchlein auf. Amerika aber übernahm alle Phrasen, die es nur irgendwo finden konnte und flickte sie zu einem Lorbeerkranz für ihr ruhmreiches Haupt. Grölte die absurdesten Lügen heraus, stempelte sie zu leuchtenden Wahrheiten. Freiheit – Gleichheit – Moral – alle Ideale: o Frankreich, England, Amerika!

Aber der Deutsche nannte die Dinge bei ihrem Namen. Und seine eigenen zuerst – da er die am besten kannte. Sagte; das ist schlecht bei uns – und das erst recht!

Da sang der Chor: ›Seht ihr, das ist das schlechteste Volk der Welt! – Sie sagens ja selbst! – Das schlechteste, das unfreieste, das unmoralischste –‹

Und zugleich glaubte der Deutsche, wie alle Menschen, an die schönen Phrasen, die die andern zu Wahrheiten münzten, glaubte: da ists besser als bei uns! Da hüten sie die höchsten Ideale der Menschheit – in England, Frankreich, Amerika!

Erkannte er aber all die Lügen, gab er auch fremden Dingen nun den rechten Namen – o so spie man ihn an in gerechtester Entrüstung. Und zu dem unfreiesten, zu dem unmoralischsten Menschen der Erde ward er nun auch der frechste Lügner der Welt – er, der es wagte, ›die heiligen Wahrheiten anzutasten‹. Der Letzte von allen war er, der Abschaum der Menschheit – dahin mußte ja ›deutsche Bildung führen und deutsche Kultur‹. Schon hatten die Hüter aller Ideale eine neue große Wahrheit geschmiedet, die alle Welt nun glaubte: deutsche Kultur, das ist das Krebsleiden der Menschheit, ist der Fluch des Antichrist, ist die Hölle selbst.

Und die Völker scharten sich um die heiligen Banner Englands, Frankreichs, Amerikas. Ausrotten, ausbrennen, aushungern mußte man diese schlangengiftige Pest der Deutschen!

So einfach war das Rezept, so lächerlich einfach. Jeder Franzose fühlte es, jeder Brite und Yankee: die Wahrheit ist ein gar gefährlich Ding, das man sehr, sehr selten nur gebrauchen kann. Aber die Lüge kann man immer gebrauchen. Jeden Tag, jede Stunde – immer von neuem!

Sie allein regiert die Welt.

Er dachte: ›Wir werden es nie lernen – nie! Wir – o jeder einzelne trägt irgendwo im Hirn versteckt eine glühende Sehnsucht nach aller Wahrheit. Die leuchtet durch, brennt ihm ein Mal auf die Stirne – das Kainszeichen der Deutschen.

Die kleine Ivy fühlt es gut. Sie braucht nicht die Weisheit Richelieus – ihr schenkte Natur den richtigen Instinkt: hüte dich vor der Wahrheit! Lüg dir ein hübsches Fabelchen zusammen – pfeifs in die Welt. Alle werden dir glauben, wenn du nur so tust, als ob du ihnen auch glaubst. Und versuch es nur: so leicht ists, so kinderleicht! Jeder Mensch begreifts auf der ganzen Welt – nur die Deutschen nicht, weil sie Barbaren sind, halbe Tiere.‹

Sie streichelte leise seine Hand. »Ihr werdet das Spiel verlieren,« sagte sie still. »Rumänien hat auch den Krieg erklärt.«

»Woher weißt dus?« fragte er.

Sie sagte: »Der Konsul hat vorhin angerufen, er hats Mutter gesagt – sie haben in Washington das Kabel bekommen vor einer Stunde erst. Er hat schon vor Wochen gesagt, daß es so kommen würde – ich wollte dir nicht davon sprechen, um dir nicht weh zu tun. Rumänien – das macht wieder sechshunderttausend Soldaten für die Alliierten. Und sie haben die besten Waffen und besten Geschütze – alles von Deutschland. Weißt du, daß ihr König ein Hohenzoller ist?«

Er nickte. Er preßte ihre Hand – sie verstand ihn gut. Schwieg. Still schritten sie über den Sand.

* * *

Er kannte ihn gut, diesen Hohenzollern. War mit ihm auf demselben Gymnasium gewesen, hatte den Prinzen ausgehöhnt und ausgelacht mit den andern Buben. Viele dummen Jungen drückten da die Schulbänke – aber so dumm war keiner wie der Prinz.

Prinz Kakadu nannten sie ihn.

Auf Schloß Jägerhof wohnte er. Das gehörte den Hohenzollern in jener Zeit – nun hatte es die Stadt gekauft und der Bürgermeister regierte da. Aber damals lag es einsam in seinem Parke, mitten in der Stadt, diente nur dem Prinzen, seinem Hofmeister und ein paar stillen Bedienten. Von dort ging er zum alten Gymnasium, das am Stadtgraben lag, vorbei am Malkasten, hinein in den schönen Hofgarten. Durch die Seufzerallee die Düsel entlang, an der Landskrone vorüber, über die Goldene Brücke dann beim Ananasberg. Jeden Morgen ging er dahin und jeden Mittag kam er zurück.

Einmal kam er nicht heim. Mittags nicht und nachmittags nicht und abends nicht. Der Hofmeister wurde unruhig, wurde aufgeregt, ganz verzweifelt am Ende. Sein Prinz war verschwunden.

Er lief zur Schule, zur Polizei dann, zur Gendarmerie. Ja, zu den Regimentern lief er, zu den Obersten der Neununddreißiger, der Husaren und Ulanen. Sein Prinz war weg – und alle sollten nun suchen helfen, die ganze Stadt.

Keiner fand ihn.

Mitten in der Nacht kam der Prinz nach Hause, ganz allein. Seltsam sah er aus – nur in Jacke und Weste, Schuhen und Strümpfen. Hemd fehlte, Hose und Unterhose. Völlig naß war er.

Er erzählte eine merkwürdige Geschichte. Als er nach Hause ging durch den Hofgarten, grade am hellen Mittag, da kamen drei Vermummte auf ihn zu. Griffen ihn, banden ihn, knebelten ihn. Schleppten ihn zum Rhein, zerrten ihn in ein Boot, segelten den Strom hinab. Banden ihn los auf dem Kahn – nahmen ihm nur die Kleider fort, damit er nicht entfliehn könnte. Aber in der Dunkelheit fand er doch einen günstigen Moment, als die drei eben nicht aufpaßten, sprang hinab in die Fluten, schwamm kühn zum Ufer hin. Die Räuber schossen nach ihm mit Flinten und Pistolen, ruderten ihm nach – verloren ihn doch in der Finsternis. Und er kam glücklich ans Land – bei Kaiserswerth etwa. Eilte zurück zum Schloß in der Nacht.

»Prinzenraub!« jammerte der arme Hofmeister, »Erpresserbande!« Schrie wieder nach Polizei und Militär, nach Staatsanwälten und Richtern. Man müsse die Grenze sperren, müsse die Räuber fangen, ehe sie entwischten nach Holland. Ein Hohenzollernprinz geraubt, am hellichten Tage, mitten in Deutschland am Ende des neunzehnten Jahrhunderts!

Oh, eine Schmach sei es, eine ewige Schande für die ganze Stadt!

Staatsanwälte und Richter, Polizeihauptleute und Obersten waren sehr bestürzt. Was sollten sie tun? So merkwürdig klang das alles – aber ein Prinz hatte es gesagt, ein Hohenzollernprinz! War verschwunden durch zwölf lange Stunden – kam zurück, pudelnaß, ohne Hemd und Hosen, um Mitternacht.

Man fand Hosen und Hemd, im Rheine, am nächsten Tage schon.

Da mußte etwas geschehn!

Und es wäre etwas geschehn – und wäre viel geschehn – ohne den Doktor Peter Schmitz, den Klassenlehrer der Obertertia. Der allein rettete die Behörden, rettete die Stadt.

Ihm fiel was ein – das er am selben Tage vorgetragen hatte in der Geschichtsstunde. Eine Stunde vor Mittag – da hatte es selbst der Prinz noch behalten.

Das war die Geschichte vom Raube des Kaiserknaben Heinrich IV. Den der Kölner Erzbischof Anno auf der Pfalz zu Kaiserswerth aus den Armen seiner Mutter Agnes raubte. Auf sein Schiff schleppte, den Rhein hinauf brachte und gefangensetzte im heiligen Köln.

Der Herr Ordinarius ging zum Jägerhof. Als er herauskam, strahlte sein feistes Gesicht, und er lachte sehr. Aber das Prinzlein heulte.

Es half ihm nichts, es mußte gestehn.

So wars:

Als er nach Hause ging, von der Schule, da passierte ihm etwas sehr Menschliches. Das kam öfter vor bei dem Prinzen, ob er gleich in Obertertia saß, und dazu zwei Jahre älter war als alle andern Jungen der Klasse. Er wußte gut, daß er viel zu alt war zu solchen Scherzen – so gescheit war er doch. Und er schämte sich, fürchtete sich vor seinen Hofmeister zu treten in dem Geruch.

Da lief er zum Rhein. Suchte ein stilles Plätzchen, zog Hosen aus, Unterhosen, Hemd. Wusch sie aus –

Aber der böse Rhein schickte eine freche Welle – da sprang er weg. Ließ die Wäsche fahren – die stahl der Strom.

Prinzenwäsche.

Der Prinz lief am Ufer, jammerte und heulte. Wagte sich gar in das Wasser bis an die Knie – das war so naß. Hemdchen und Höschen schwammen davon.

An den Weiden saß er und weinte. Bis ihm die Geschichte einfiel, die der Klassenlehrer eben erzählt hatte. Von dem jungen Hohenstaufenkaiser und dem bösen Erzbischof Anno. Von dem Schiff auf dem Rhein und der Pfalz bei Kaiserswerth.

Er war auch ein Prinz aus Königlichem Hause. War ein Hohenzoller – wie jener ein Hohenstaufe war.

Und etwas mußte er doch sagen, wenn er nach Hause kam.

Selbst konnte er nichts erfinden, dazu reichte es nicht. Aber die alte Suppe noch einmal aufwärmen, das ging – und er hatte schon das richtige Gefühl, daß sein Herr Hofmeister sie getreulich auslöffeln würde.

Der Dr. Schmitz schwieg nicht; am Abend noch wußte die ganze Stadt die Geschichte von den Höschen, aus denen ein Prinzenraub wurde. Und die Obersten der Regimenter, die Herren von der Polizei, vom Gericht und der Staatsanwaltschaft schickten stille Dankgebete zum Himmel, daß sie noch nichts getan hatten, noch gar nichts.

Aber am nächsten Tage, als der Prinz in der Zehnuhrpause auf den Spielplatz kam, da brach es los. Schrie aus hundert jungen Kehlen:

»Prinz Kakadu! Prinz Ka–ka–du!«

Keiner erfand es. Es war da, das Wort, wehte in der Luft, summte in den alten Räumen des Gymnasiums, füllte die Köpfe der blonden Jungen. Und brach los in der Freistunde, schlug um des Prinzen Kopf wie ein Trommelfeuer: »Prinz Ka–ka–du! Prinz Ka–ka–du!«

Es ist wahr, nur die ganz Kleinen schrien es, die Quartaner, Quintaner, Sextaner. Alle die andern wahrten das Gesicht, sagten kein Wort, blieben ruhig und still. Aber als der Prinz dann mutig wurde, sich einen der frechen Knirpse griff, um ihn durchzuprügeln, da legten sich die andern ins Mittel.

»Laß ihn gleich los!« befahl einer aus seiner eigenen Klasse. »Mach dir nicht die Hosen voll, dann werden sie dich nicht Prinz Kakadu nennen!«

In den unteren Klassen hagelte es Strafen, die gar nichts nutzten. Jeden Tag wurde das Geschrei lauter und wilder. Und die Kinder aller andern Schulen griffen es auf. Wo sich der Prinz nur sehn ließ, scholl es ihm entgegen: »Prinz Ka–ka–du!«

Eine Woche dauerte es, dann zog der Prinz ab mit seinem Hofmeister. Aber an die Woche wird er denken sein Leben lang.

Nach Rumänien kam er, ein paar Jahre später, wo sein Onkel König war und die Tante Königin. Die adoptierten ihn, wollten zum Erben wieder einen Deutschen, einen vom Rhein dazu, wie sie selbst. Deutsch waren sie und deutsch war ihr Hof. Ein Hohenzoller war der König, ein Hohenzoller sein Erbe. Und die Königin nannte sich Carmen Sylva, dachte nun gewiß, daß sie eine deutsche Dichterin sei, und machte Verse, die sich richtig reimten, zum Preise des Rheins. Die Studenten sangen sie, zu Bonn, wenn sie sehr viel Bowle getrunken hatten,

»Am ganzen Rheine der schönste Fleck,
Das ist der Bahnhof von Rolandseck –«

Der König starb und die Königin – beide in diesem Jahre. Und kaum hatten sie die Augen geschlossen, da verriet der junge König seiner Väter Land. Zog den blauen Rock der Hohenzollern aus, schlüpfte in die goldlitzige Hose nach englischem Schnitt. Er, Prinz Kakadu –

* * *

Frank Braun preßte die Hände zusammen. Wie ein Stoßgebet kam es aus seinen Zähnen: »So soll er sie sich wieder einmal vollmachen, die neuen Hosen! Dazu möge ihm Mackensen helfen – und der Hindenburger!«

»Was sagst du?« fragte Ivy.

»Nichts, nichts!« erwiderte er.

Sie sagte: »Der König ist ein Hohenzoller. Aber seine Frau ist eine Koburgerin. Auch der englische Statthalter in Kanada ist ein Koburger – der hat wieder eine Hohenzollern zur Frau. Die arbeitet auch, was sie nur kann, für England und gegen Deutschland!«

»Alles vom Konsul?« zischte er.

»Nein!« erwiderte sie. – »Die Koburger sind die vornehmste Familie in Europa. So etwa wie die Vanderbilts bei uns oder die Astors. Die Koburger geben alljährlich ein Buch heraus, so wie das ›Social Register‹ von Neuyork. Und dies Buch hat mir der Konsul neulich mitgebracht – daher weiß ichs.«

»Die Koburger geben gar nichts heraus!« sagte er. »Der Kalender erscheint zufällig in Koburg und heißt darum der Koburger.«

»Gut, gut,« lachte sie, »meinetwegen! Als obs nicht völlig gleichgültig wäre! Weißt du, daß auch der abgesetzte König von Portugal – Manuel heißt er – ein Koburger ist und wieder eine Hohenzollern zur Frau hat? Der will auch in die englische Armee eintreten! So klug sind die Engländer – ich bewundere sie – wirklich!«

Er blieb stehn, starrte sie an. »Ich auch, Ivy, ich auch! Ich bewundere sie – wirklich! Und sicher ehrlich! Sie sind so zehntausendmal klüger als wir. – Weißt du, daß die Revolution in Lissabon, die den Vater Manuels und seinen Bruder auf der Straße ermordete, nur mit englischem Gelde gemacht war? Daß die republikanische Regierung von heute, die auf Befehl Englands unsere Schiffe stahl und den Krieg uns erklärte, nur von England bezahlt ist? Warte, ich will dir noch mehr sagen – was ich neulich im Klub der portugiesischen Monarchisten hörte. Die wandten sich flehend an den deutschen Kaiser, er möge ihnen einen seiner Prinzen schicken, beschworen zugleich in den höchsten Tönen ihre Liebe und Bewunderung zu Deutschland. Weißt du, was unsere Diplomaten den Kaiser antworten machten? Das sei eben der Kern der monarchistischen Idee, daß man treu zum angestammten Herrscherhause halte – und zudem habe ja ihr verbannter König eine Hohenzollern zur Frau, sei also eng verbunden dem Kaiserhause! Zu Beginn des Krieges war das – als die Monarchisten im Norden einen großen Aufstand vorbereiteten, für den ihnen eines nur fehlte: der klingende Name des Führers. Das war die deutsche Antwort: ehrlich und – – ungeheuer dumm. Die Engländer spielten ihr Spiel besser – wie in Italien, wie in Rumänien, wie hier im Lande und überall in der Welt. Alles hat der kleine Manuel durch sie verloren, Krone und Reich und jeden letzten Cent! Nun geben sie ihm eine nette Pension jeden Monat, das ist so lieb von ihnen, so großmütig! Davon lebt er, davon bezahlt er seine Mätresse. Und die – sie tanzt im Hippodrom, wollen wir nicht hingehn? Gaby Deslys nennt sie sich, aber sie stammt aus Olmütz – die gibt jedem britischen Rekruten einen Kuß, macht nun hier mit ihren Beinen Propaganda, während ihr geliebter König gern englischer Leutnant werden möchte. Sehr dankbar müssen sie beide sein – und mit ihrer Dankbarkeit kann man so gut Reklame machen! Ja, ich bewundere England, das allmächtige England, das die herrliche Gabe hat, alle infamsten Lügen zu strahlenden Wahrheiten zu machen. Du hast dreimal recht, kleine Ivy, nie werden wir diesen Krieg gewinnen – da wir nie lernen werden, gut zu lügen!«

Er schrie es heraus, schluchzte, hustete krampfhaft. Sie legte ihren Arm auf seine Schultern, streichelte zärtlich seine heiße Wange. »Sei still,« flüsterte sie, »sei still – du kannst da nicht helfen!«

»Es war zu vermeiden,« fuhr er fort, leise unhörbar fast. »Es war zu vermeiden, daß sie gegen uns gingen: Italien, Rumänien, Portugal! Wenn wir ein klein wenig nur gelernt hätten von England. Dreieinhalb Millionen Soldaten wären weniger gegen uns! Noch halten wir fest, noch stehn wir, in Feindesland, ungebrochen dem fünffach stärkeren Feind. Dann aber hätten wir längst den Krieg gewonnen – längst wäre Frieden! Ganz gewiß war Deutschland stärker im ersten Kriegsjahre, aber der Engländer log der Welt vor: ›Wir sinds!‹ Und alle Völker glaubten ihm, und seine Lüge war stärker als die deutsche Wahrheit, viel, viel stärker! – Nach Osten und Westen schlug der Deutsche im ersten Kriegsjahre und hielt seine Stoßkraft weit ins zweite hinein. Im dritten nun steht er, steht fest und gut. Im vierten aber, im vierten –« er unterbrach sich, stöhnte. »Hundertundfünfzig Millionen sind auf unserer Seite – das ist hoch gerechnet! Aber achthundert Millionen zählen die Gegner. Und die ganze neutrale Welt wird reich an unserem Blute, läßt England und Frankreich hochleben, liefert unseren Feinden Waffen und Munition, Lebensmittel und Gold, was sie nur haben wollen. ›Die Lüge ist das Salz der Erde‹ – das ist ein russisches Sprichwort, aber die Engländer habens zum Evangelium gemacht. Und Englands Lüge ist längst zur Wahrheit geworden: sie sind die viel Stärkeren! Nur ihr fehlt noch – und euch wird der Engländer ganz sicher auch noch hineinhetzen in den Krieg – der und unserer Diplomaten verbrecherische Dummheit. Da müssen wir sterben!«

»Schweig doch,« schmeichelte sie, »schweig doch!« Sie schlang ihre Arme um ihn, küßte ihm Augen und Mund. »Sieh doch – so schön ist die Nacht!«

* * *

Flüssiges Silber rings. Alles aufgelöst darin – Sand, Meer, Himmel und Luft – Silber nur, Silber. Und sie allein, Ivy und er. Kein Mensch sonst, kein Vogelschrei, kein leiser Hauch in der Luft.

Er hob die Augen, blickte ringsum. Kühler, schmeichelnder Silbernebel – und die Sterne schnuppten hindurch. Auf dem Silbermeer ein Schein, den der Mond warf – wie ein heller Weg, der weit hinausführte zu einem leuchtenden Platz. Da sollte es tanzen – Wasserfrauen, Mondfrauen – viele – in glitzernden Silberschleiern –

Und doch war es gut, daß keines dort tanzte. Daß der weiße Platz im Meere still war und ganz verlassen. Leer und so einsam. Daß nur von ihrem Auge der Mondweg dahin führte, und daß diesen Weg nur ihre Sehnsucht schreiten konnte.

Ihrer beiden Sehnsucht, die eines ward. Seine – und die des blonden Mädchens –

Die auch? Die Ivys auch?

Er sah sie an – und sie nickte. Verstand sie seine Träume? – Ah, er wollte es glauben.

Sie gingen Hand in Hand in der Silbernacht. Still, schweigend – sehr einsam gingen sie.

So leicht, so still, als ob ihr Fuß kaum den Boden rühre. Wie ein Gleiten war es, wie ein Schweben. Sie glitten über den Sand – oder war es das Wasser?

Flüssiges Silber wars.

Zwei Sehnsüchte – die eine wurden. Oder: zwei Seelen –

Schwebten über das Wasser – oder war es die Luft? Alles war aufgelöst – Silber nur, Silber. Über den Meerweg zum Mondplatz hin.

Zwei Seelen – die eine wurden. Eine Seele: ihrer beiden Seele.

Alles war aufgelöst in dem Silbernebel – Sand, Meer, Himmel und Luft. Und ihre Seele war der leuchtende Nebel – der war und nichts sonst.

Nichts, nichts in allen Welten –

Nur ihrer Sehnsucht Silberseele.

Die schwebte, schwebte in Ewigkeiten.

Silberfüße – Silberflügel – –

Silbernacht –

* * *

Da schrie es – Ivy schrie. Sprang zur Seite, riß ihn zurück.

Ein Aas lag vor ihrem Fuß. Ein versoffener Hund – oder wars eine Katze?

Weiß war das Fell –

Sie schüttelte sich vor Ekel. »Fort,« bat sie, »fort!«

»Wo sind die Pferde?« fragte er.

Sie antwortete: »Jack wartet mit ihnen. Zu den Ulmen hab ich ihn bestellt.«

Sie eilten die Düne hinauf. Sie fanden die Schimmelhengste, sprangen hinauf.

»Hetz!« rief er. »Ivy – hetz! In den Mond hinein!«

Sie jagten, jagten – –

So schön war die Nacht –

* * *

An dem Tage, als Direktor André herauskam nach Neuport, war er ganz allein in Oakhurst. Ivy war zur Stadt gefahren mit der Mutter.

Sie war hineingesprungen in sein Schlafzimmer am frühen Morgen, auf sein Bett mit einem Satz. Weckte ihn mit einem raschen Kuß. »Wir sind zurück zum Abend!« rief sie.

»Was gibt es?« fragte er.

»O nichts!« machte sie. »Papa war schon zwei Wochen nicht draußen, bat uns, ihn abzuholen im Büro. Mit ihm zu frühstücken in seinem Klub.«

Küßte ihn noch einmal, sprang auf, huschte hinaus.

Er saß an seinem Schreibtisch. Nahm eine Feder auf, legte sie wieder fort. Griff einen Bleistift, dann wieder die Feder. Schob rasch Papier zurecht, kritzelte darauf.

»Liebe Lotte –« wurde es. Aber er wollte gar keinen Brief schreiben.

Er nahm die Post auf, die vor ihm lag, zählte seine Briefe. Sechs – acht – neun. Er öffnete keinen. Er nahm einen großen Umschlag, gab sie alle hinein, schrieb die Adresse seines Sekretärs darauf. Mochte der sie lesen; der konnte ihm später Bescheid sagen. Er griff die Zeitungen – aber er las sie nicht. Direktor André würde ja heute kommen – der hatte alles in der Bahn gelesen, konnte ihm mitteilen, was geschehn war.

Er steckte die Blätter in den großen Papierkorb.

Dann fiel ihm ein, daß er auch die Briefumschläge hineinwerfen könnte. Das füllte.

Sehr ernst machte er den großen Umschlag wieder auf, zerriß ihn. öffnete jeden der neun Briefe, vorsichtig, daß er nichts vom Inhalt sah, adressierte ein neues Kuvert, gab die offenen Briefe hinein, schloß es.

Voller wurde der Papierkorb, bunter der Inhalt. Er sah hinein, freute sich. Noch etwas? Ah – das bekritzelte Papier. Ein paar Papierfetzen dann, auf die er gestern geschrieben. Zwei leere Zigarettenschachteln.

Er erinnerte sich, daß er ein neues Stück Seife heute morgen genommen hatte. Rasch stand er auf, eilte ins Badezimmer, nahm das bunte Papier vom Toilettentisch. Trug es zurück, warf es in den Papierkorb.

Nun mochte schon ein Gedanke kommen – etwas, das ihn interessierte, das ihn beschäftigen würde. Vielleicht etwas, das ihm die Feder in die Hand gab, das aus der Feder auf das Papier floß. Ein Träumen vielleicht, das sich wieder fand in ihm, ein rasches Bild aus einem alten Rausch. Etwas, das ihn festhielt auf Sekunden – auf Stunden auch.

Wildes – zartes. Leichtes oder tiefes. Grausames: rotes oder hellichtes und sehr süßes – wie es der Wind hereinwehte vom Meere her.

Irgendeine Rolle spielte der Papierkorb dabei. Der mußte leer sein an jedem Morgen, und mußte sich vollfressen. Sonst kam nichts – gar nichts.

Er bekam nur sein gewöhnliches Futter, wie jeder Papierkorb, mußte fürlieb nehmen mit dem, was eben abfiel. Es nutzte nichts, wenn man ihn künstlich stopfte.

Das hatte er versucht, mehr als einmal. Hatte sich Papier kommen lassen, Zeitungen, Schachteln, hoch hinauf ihn gefüllt. Doch es war, als ob er das nur im Maule hielte, nicht hineinfresse. Jedes Verdauen ablehnte –

Aber dankbar war er, wenn man an etwas dachte, das ihm ehrlich zukam und das etwas aus dem Wege lag. Wie das Seifenpapier heute. Das erkannte jeder Papierkorb an.

Frank Braun lachte nicht darüber. Eine Seele hatten die Dinge.

– Das war gewiß, daß der Professor Södering viel besser sprach, wenn sein Regenschirm dabei war. Still in der Ecke stand, möglichst nahe bei ihm. Zuhörte. Sie hatten es versucht, hatten den Schirm weggenommen, ohne daß der Professor es wußte. Einmal nur – nie wieder – das war zu gefährlich. Tausend Dollar hatte er weniger erredet an diesem Tage.

Konnte Paul Conchas, der Kanonenkönig, seine schweren Kugeln fangen, wenn er nicht einen Kupferpfennig im Schuh trug? Ein alter Nagel brachte Max Reinhardt seine Erfolge, und dem Hötzendorf der Brief, den er jeden Morgen bekam von einer schönen Frau. Einen vom englischen Unterhaus kannte er, der nur sprechen konnte, wenn er die rote Weste anhatte, und einen Jockey, der nur gut ritt, wenn er grünweiße Farben trug. Wenn er der Sonnenseite seinen Stier weihen konnte, war Rafael Gallo der genialste Torero – er, der ein elender Fleischerlehrling war, wenn ein schwarzer Hund ihm durch den Sand lief. Des großen Napoleon Karneol – Sarasates kleine Goldfiedel –

Er dachte: eine Seele haben die Dinge. Alle – so gut wie die Menschen. Blumen, Tiere, Steine, Bilder und Bücher, Häuser, Tische und Stühle. Eine Seele haben sie – Farben und Düfte – Sterne und Meere. Und Nägel auch, Regenschirme, Ringe – Papierkörbe.

Und manchmal geschah es, daß solche Seelen der Dinge sich offenbarten, in Beziehung traten zu Menschen. Irgendeine chemische Sympathie brachte sie einander nahe, eine Ausdünstung vielleicht, ein Duft. Oder ein atmosphärischer Zusammenklang, eine harmonische Wellenbewegung, die von ihnen ausstrahlte. Irgend etwas. Er wußte es nicht – keiner wußte es – heute. Aber einmal würde man es schon wissen.

Das war es, was auch den einen Menschen zum andern führte, was Abneigung schuf oder Zuneigung – Liebe oder Haß. War das – was man die Seele nannte.

Oder ihre Äußerung – ihr Ausfluß. Sakti nannten es die Inder vor manchen tausend Jahren, legten ihm so hohe Bedeutung bei, daß sie zum eigenen Wesen es dachten, zu dem, was recht eigentlich alles tat in den sieben Welten. Nichts tat Shiva, der Zerstörer – alles geschah durch Durga, seine Sakti.

War es anders bei Jehova, der Juden Gott? Nicht er kam zu Maria, als er der Welt den Erlöser schenkte – seine Sakti sandte er, seine Seele: den Heiligen Geist.

Und die Griechen sahen so viele Seelen der Dinge. Ließen Saktis lebendig werden aus Sternen und Winden, aus Seen und Wiesen, aus Feuer, Luft, Steinen und Bäumen. Dryaden, Nymphen, Najaden – wie Elfen, Nixen, Feen und Alben im Norden wesenhaft waren.

Alles lebte – überall atmeten Seelen.

Das war die sichtbare Welt. Und der große Gott, der sie niederwarf, der Gott aus Nazareth, der Gott alles Unsichtbaren, vermochte dennoch nicht sie ganz auszutilgen. Die christliche Kirche leugnete die Seelen der Dinge durchaus nicht – nur nannte sie sie Dämone. Geister des Bösen – Teufel. Schon die Farben der Blumen verdammte der heilige Hieronymus – als des Satans lockenden Ausfluß.

Die christliche Wissenschaft, durch Jahrhunderte jämmerlich stolpernd in metaphysischen Bleistiefeln, war pfäffischer noch als alle Kirchen. Zerschlug alles, was Leben hatte in der Außenwelt, ließ den armen Menschen herumtappen in einem dunkeln, todkalten Sumpf. Glaubte endlich ihre jämmerliche Metzgerherrschaft zum großen Siege zu führen, als sie den Teufel absetzte – den doch noch Luther in hohen Ehren hielt.

Da fiel sie, da mußte sie fallen –

Der Gedanke sagte: ›Kein Hell ohne Dunkel. Kein Ja ohne Nein. Kein Gott ist möglich ohne den Teufel.‹

Und auch: ›Kein Ich – ohne die Außenwelt. Keine Seele des Ichs ohne die Seelen aller andern Dinge.‹

Leuchten wurde wieder in der Welt. Farben wuchsen und Klänge. Seelen, die glaubten, suchten einander.

Fanden sich manchmal – wie fremd sie auch waren.

– Seltsam – etwas verband ihn dem Papierkorb. Nicht dem grade, der neben ihm stand – nicht dem nur. Jedem – dem ganzen Geschlecht der Papierkörbe. Er hatte feine gehabt, blecherne, lackiert mit bunten Blumen drauf, pappene, goldbeklebt und mit Zierhenkeln, hölzerne mit brandgemalten Verschen. Ledergepunzte, rohrgeflochtene, einen gar, der in einem gestickten Überzug steckte. Armselige Körbe dann, alte Weinkisten, ausgediente Wassereimer, eine zerschlagene Hundehütte einmal. Runde Papierkörbe, viereckige und achteckige, breite und schmale, dicke, dünne, große und kleine.

Aber sie offenbarten ihm alle ihre Seelen, gleich am ersten Tage, sowie sie neben ihm standen, am rechten Tischende. Manche freilich hatten ihre Eigentümlichkeiten, die man erst mit der Zeit lernte. Einer konnte den Tabakgeruch nicht vertragen, mochte es nicht, wenn er in ihn den Aschenbecher ausleerte. Andere mochten grade wieder die Zigarettenreste für ihr Leben gern, konnten nicht genug davon bekommen, freuten sich, wenn er ihnen zu Ehren ein paar mehr rauchte. Einer, ein langer, schmaler, der wie ein Ofenrohr aussah, hatte einmal einen halbverwesten Fisch bekommen, den die Katze ins Zimmer geschleppt hatte; seither verlangte er nach totem Fisch. Er gab sich alle Mühe, ihn zufrieden zu stellen, ließ ein Stück beiseite legen, wenns Fisch gab, es anfaulen im Garten, gab ihm das am nächsten Tage. Es stank gräßlich – und doch war der Papierkorb nicht zufrieden: es mußte Fisch aus dem Zimmer sein, Fisch, der ihm ehrlich zukam. Aber die Katze brachte keinen mehr. Bisher war der Papierkorb erstaunlich gut gewesen – nun war nichts mehr mit ihm anzustellen. Er mußte ihn abschaffen.

Der, den er in Oakhurst hatte, liebte die kleinen Stummeln nicht. Wenigstens halb mußten die Zigaretten sein, wenn sie ihm schmecken sollten. Und er mußte den Aschenbecher immer von neuem in ihn ausleeren, alle zehn Minuten. Es war ein sehr vornehmer Papierkorb, aus schwarzem, chinesischem Geflecht.

Sehr zärtlich sah er ihn an –

* * *

Auf eine der Zeitungen fiel sein Blick, die im Papierkorb staken. Grade die eine zolldicke Überschrift konnte er lesen:

»Neue furchtbare Niederlage der Deutschen und Ungarn in Siebenbürgen.«

Er wußte, daß es eine Lüge war. Eine der hundert, die England jeden Tag übers Meer spie.

Warum mußte der Papierkorb ihm das zeigen? War das der Dank für zwei Zigaretten, die er kaum angeraucht hatte? – Und für das schöne blaue Seifenpapier?

– Nun war er da, nun hatte er ihn – der Gedanke an den Krieg. Wieder einmal, wie so viele tausend Male. Ließ ihn nicht los, faßte ihn fest, wie er tausend Millionen festhielt an jedem Tage.

Möglichkeiten, Wünsche, Träume – dann – dann – und dann –

* * *

Fliegen spielten um ihn herum, ließen sich nicht wegjagen. Summten ihm dicht an den Ohren vorbei, kitzelten ihn am Halse, setzten sich auf die Stirn, auf die Hand. Feierten Hochzeit grade auf seiner Nasenspitze – er konnte es gut sehn, wenn er hinunterschielte. Er schrie sie an, schlug mit dem Taschentuch durch die Luft. Aber sie kamen wieder, immer von neuem. Da sprang er auf, fing eine nach der andern in der hohlen Hand, setzte sie in die Streichholzschachtel. Ein paar Dutzend hatte er, rüttelte sie gut durcheinander.

Das Brautpaar fing er auch. Aber er trug es vorsichtig zum Fenster, warf es hinaus in den Garten. Dachte: ›Liebt euch, legt Eier. Setzt viele neue Fliegen in die Welt. Und jede davon soll einen Yankee ärgern.‹

Er ging zurück zum Schreibtisch, setzte sich wieder. Nahm behutsam eine Fliege aus der Schachtel. Ein Spiel fiel ihm ein, das er einmal gespielt als kleiner Junge. Damals stellten die Fliegen seine Lehrer vor, die ihn quälten und die er haßte, so stark er nur konnte. Und er spielte wieder das Knabenspiel.

»Du bist der Jansen,« murmelte er. »Du hast mich geschlagen, als du in die Klasse kamst – sagtest, ich hätte dich nicht gegrüßt auf der Straße. Wußtest recht gut, daß ich dich gar nicht gesehn hatte. Warte du!« Einen Flügel riß er der Fliege aus. »Und dann hast du mir ›Mangelhaft‹ unter meine Aufgabe gesetzt, und dem Kramer ›Genügend‹ – obwohl wir beide wörtlich abgeschrieben hatten vom Primus selbst. Warte nur, warte!« Den andern Flügel kostete der Fliege diese Ungerechtigkeit und noch ein Bein dazu. Wieder ein Bein riß er aus und noch eins – o die Fliege hatte nicht Beine genug für alles, was ihm der Mathematikprofessor angetan hatte. In das Tintenfaß warf er den gliederlosen Leib.

Nahm die nächste Fliege. »Du bist der Northcliffe!« sagte er. »Warte, ich werde die Lügenbeine dir ausreißen! Sechs Beine nur – zwei Flügel dazu: sechstausend Beine solltest du haben!«

Edward Grey richtete er hin, Poincaré und Clemenceau. Den Zaren, König Albert, König Peter und seine Jammerprinzen. Eine ganz kleine Fliege suchte er aus für den König der Katzelmacher, es war sehr schwer, ihre Beine einzeln zu erwischen. Auch der Mikado wurde entbeint.

Dann kamen die Amerikaner dran, die vor London krochen und englisches Gold eintauschten gegen deutsches Blut. Die Wilson und Lansing, die Morgan und Schwab. – Die Hetzer und Schreier, die ihm einfielen, die d'Annunzio und Ibañez, die Beck und Ochs, all die bezahlten Gauner der franco-britischen Lügenmacher auf beiden Seiten des Atlantik. Heraus die Beine und ins Tintenfaß!

Er war zu Ende, als er kaum angefangen. So viele waren noch abzutun. So viele.

Nur zwei Fliegen waren noch da. »Du bist Prinz Kakadu!« sagte er zu der ersten. »Es ist zu viel Ehre, wenn ich die Beine dir ausreiße. Du solltest ersticken – verrecken – in deinem eigenen Mist!«

Wie sie war, warf er die Fliege ins Tintenfaß.

Nahm die letzte aus seiner Schachtel. Zögerte: »Wer sollst du sein?«

Dann entschloß er sich: »Du – du bist der deutsche Diplomat. Du bist nicht gemein – nur gemeingefährlich. Du bist kein Schuft – bist kein Lügner – bist nicht bestochen und bezahlt. Nur – ungeheuer dumm bist du! Dir tue ich eine große Wohltat an, wenn ich dich totmache – du fliegst doch nur jeder Spinne ins Netz, die dich lebendig dann aussaugt.«

Er zerquetschte die Fliege zwischen den Fingern, strich sie zu den andern ins Tintenfaß.

Nahm es auf, goß Fliegen und Tinte in den Papierkorb, über die Zeitungen hin.

»Ich hab mir manches von dir gefallen lassen,« sprach er zu ihm, »nun ists genug!« Er schellte, gab dem Diener den Auftrag, den Papierkorb wegzuschaffen, ihm einen andern zu bringen.

Und er winkte mit der Hand. »Steh du irgendwo in einem Fremdenzimmer, das alle drei Jahre mal benutzt wird, du dummer Korb! Addio, hungre drauf los, bis du grün wirst!«

* * *

Dann kam Direktor André.

Aus der Türe rief er: »Ich habe ein Loch gefunden! Ein wundervolles Loch! Das herrlichste Loch der Erde! Herrgott, Sie müssen es sehn, Doktor, Sie werden außer sich sein vor Begeisterung – grade wie ich. Ein Loch – sage ich Ihnen – Mensch, ein Loch –« Er unterbrach sich: »Wo sind die Jeffersons?«

Frank Braun sagte, daß sie in der Stadt wären. Daß die Damen zum Abend wiederkämen – da müsse er schon die Nacht über hierbleiben.

André setzte sich. »Ich komme zu den Jeffersons zuerst – sie haben fünfzehntausend bei meinem ›Lila Domino‹ zugesetzt. Dafür werde ich sie jetzt an meinem Loch beteiligen. Zwanzigtausend sollen sie geben – das Fünffache werden sie wiederkriegen. Dies Loch, Herr, mein Loch –«

Er brannte eine starke Importe an, lehnte sich zurück in den Schaukelstuhl. Strahlte, erzählte von seinem Loch.

In Rockville-Center war es – mit der Bahn fuhr man eine Stunde dahin von Neuyork. Einmal – vor neun oder zehn Jahren – wollten die Leute da einen Stausee machen, alle umliegenden Orte mit Wasser zu versorgen. Sie gruben das Loch, zwanzig Meter tief, machten es wasserdicht, umkleideten Boden und Wände mit einer dicken Zementschicht. Dann stellte sich heraus, daß man nirgend in der Nähe genug Wasser hatte, um den riesigen See zu füllen. So blieb es liegen, das Loch.

»Achtzigtausend Personen gehn hinein,« rief der Direktor. »Achtzigtausend wenigstens, wenn ich nur zwei Drittel meines Lochs fülle und das andere Drittel für ein Festspiel lasse. Und wenn ich Tribünen baue, ringsherum, schaff ich für eine viertel Million Menschen Platz. Es schreit nach Gold – das Loch! – Wenn ich nur wüßte, was ich drin anfangen soll – haben Sie keinen Gedanken, Doktor?«

»Vielleicht können Sie es dem Gargantua als Spucknapf verkaufen,« schlug Frank Braun vor. »Der muß doch einen haben, wenn er mal nach Amerika kommt. Ihr Loch –«

»Mein Loch ist eine nackte Tatsache!« rief André. »Ist durchaus kein Witz. Ich mache schon was draus, sowie ich das nötige Kapital dazu habe – und das bring ich in acht Tagen auf. Mein Loch bedeutet die Möglichkeit, eine viertel Million Menschen hinsetzen zu können – das allein ist zwei Dollar wert für den Platz!« Er wurde nachdenklich, kraute sich am Kinn. »Parsifal vielleicht,« überlegte er, »Parsifal fürs Volk? – Natürlich versteht kein Mensch auch nur ein Tönchen. Oder ich laß den Bryan reden – nur kann den jeder billiger hören, oder gar umsonst, wenn er will! Am Ende ist doch ein Champion-Boxkampf das beste – Johnsons Revanche an Jess Villard – was meinen Sie? Ich lasse hunderttausend Ferngläser ankaufen – für einen Dollar das Stück, fünf zum Verkauf – Ferngläser, denn sonst kann man gar nichts sehn in dem Riesenloch. Und denken Sie an die Preise vorne, wo man mit bloßem Auge die Kämpfer sehn kann! Hundert Dollar – zweihundert, fünfhundert jeder Platz! Es ist ein Kapital, mein Loch, ein vergrabener Schatz, den ich heben muß.«

Er paffte dicke Rauchwolken, schwärmte weiter mit leuchtendem Auge von seinem Wunderloche in Rockville-Center. Millionen schlug er heraus.

Dann sprach er vom Kriege. Phantastisch, sehr romantisch, immer rechnend mit seltsamen Überraschungen und grotesken Möglichkeiten. Hatte er nicht beim Studpoker einmal Carusos vier Assen geschlagen mit einem Straight Flush? – Möglich wars, durchaus möglich!

Wenn – wenn – und wenn –

So wohltuend war der strahlende Optimismus dieses geborenen Spielers. So überzeugt, so siegesfroh – da verkrochen sich sehr beschämt in die Ritzen alle ›Aber‹.

Alle die Rückschläge in West und Ost – ach, das mache gar nichts. Waren nicht auch ihm ein Dutzend Sachen schief gegangen in den letzten Jahren? Die Ringkämpfe – drei Filme – ein halbes Dutzend Operetten? Sein Geld und das seiner Freunde war beim Teufel –

Da fand er das Loch in Rockville-Center!

Und Deutschland würde auch sein Loch finden – sein herrliches Loch – seinen Straight Flush, der die alliierte Karte schlagen würde, und wenn sie zwanzig Assen hätte!

Er stand auf, schellte. »Ich will in mein Zimmer gehn,« sagte er, »mich ein wenig waschen und zurecht machen. Wollen wir vor dem Frühstück noch ein bissel am Meere spazieren? – Gut, ich komme Sie abholen.«

* * *

Er ging – und mit ihm das herrliche Loch und der schönste Flush. All seine schillernden ›Wenn‹ flogen mit ihm hinaus und all die schwarzen ›Aber‹ krochen aus ihren Ritzen. Huschten herum, schlugen die unsichtbaren Flügel.

Frank Braun trat an das offene Fenster, blickte hinaus aufs Meer.

»Und wenn es anders kommt! – Wenn es doch anders kommt?!« murmelte er.

* * *

Spät erst kamen die Damen zurück. Direktor André ließ ihnen kaum Zeit, die Hüte abzulegen: er brannte lichterloh, mußte in Flammen setzen alles, was um ihn herum saß.

Er war sehr beliebt bei den Jeffersons, wie in allen Häusern – sie würden ihm Geld gegeben haben für jede dümmste Operette.

Diesmal aber schnappte Frau Alice recht ein. Dies Loch – dies Riesenloch in Rockville-Center – dies Loch, das da lag und den Himmel angähnte – das mußte jedes amerikanische Hirn mächtig aufregen. Und wenn es weiter nichts hatte als das eine: es ist – garantiert! – das größte Loch auf der Welt!

Das größte Loch – das mußte Amerika haben – natürlich. Schon darum mußte man sich dafür interessieren: das war Yankee-Evangelium. Ganz warm wurde Alice Jefferson, machte selbst Vorschläge, was man wohl anstellen könnte mit dem Wunderloch.

Ein Shakespeare-Festspiel?! Nein, das ginge nicht – das kam ein Jahr zu spät. War denn sonst niemand da, den man befestspielen konnte? Vielleicht konnte man auch den See mit Wasser füllen und das deutsche Unterseeboot mieten, das in Norfolk angekommen war. Das konnte Kriegsspiele machen, konnte tauchen und hochkommen, konnte ein paar andere Schiffe herunterschießen. Oder ein Kampf mit einem Hydroplan?

Nein, das ging nicht. Das würde die Sache viel zu teuer machen – und man wollte Gold herausschaffen aus dem Loch – und nicht welches hineinwerfen.

Sie kamen zu keinem Entschluß. Aber sie berieten eifrig die Gründung. Wenigstens die Hälfte des erforderlichen Kapitals wollte Frau Jefferson hineinstecken – und der Direktor wollte nicht darauf eingehn. Er hatte noch manche Freunde – die mußte er auch beteiligen bei dieser großartigen Gelegenheit. Für fünfzigtausend wolle er ihr Anteile verkaufen – das sei ein Fünftel des Betriebskapitals – mehr könne er ihr nicht abgeben, wirklich nicht –

– Ivy kam heran, legte ihre Hand auf Frank Brauns Schulter, winkte ihm. Er folgte ihr hinaus in das nächste Zimmer.

Sie sagte: »Weißt du, weshalb mich Papa zur Stadt kommen ließ? Der Herzog von Stratford hat um meine Hand angehalten!«

»Was hast du geantwortet?« fragte er.

»Daß ich herzlich danke,« lachte sie. »Daß ich schon versorgt sei fürs erste, daß ich dich habe und einstweilen noch ganz zufrieden sei mit dir.«

Sie zog die Lippen hoch, ein feuchter Glanz lag auf ihren Augen. »Ich hab noch gesagt, daß er sich nur gedulden möge. Daß – vielleicht, nur vielleicht – du doch eine Enttäuschung sein würdest. Und daß ich dann – später – vielleicht! – auf ihn zurückkommen würde.«

»Das hast du ihm gesagt?« flüsterte er.

Sie sagte: »Ja – wörtlich so. Und du weißt nun – daß – daß ich rückversichert bin.«

* * *

Er ging mit langen Schritten durch sein Zimmer, wartete auf Ivy. Er wollte noch mit ihr reden in dieser Nacht, hatte sie gebeten zu ihm zu kommen auf eine Viertelstunde.

Also der Herzog von Stratford – überlegte er. Das war die Mache der englischen Botschaft in Washington, noch mehr aber des Generalkonsuls. Sie waren erstaunlich, diese Engländer, zäh und hartnäckig, gaben nie die Partie verloren. Er, Frank Braun, war Ivys Verlobter – und recht gut wußte der Engländer, daß diese Verlobung allein ihr Werk war und nicht seines. Aber der Konsul kannte die Jeffersons so lange nun – hatte Ivy heranwachsen sehn durch manche Jahre. Eine Laune war diese Liebe – eine tief gewurzelte vielleicht, aber doch eine Laune. Er wußte gut, was er tat, als er die Karte ausspielte: Herzog von Stratford.

Herzogin von Manchester war eine Zimmermann; Lady Curzon, Vizekönigin von Indien, war eine Leiter, Herzogin von Suffolk ihre Schwester. May Goelet wurde Herzogin von Roxburgh, Margaret Drexel Viscountess Maidstone, Vivian Gould Lady Decies – so ging es weiter in langer Folge. Englischer Hochadel: das war der herrlichste Traum aller Geldsackdamen im Yankeeland.

Und dieser Herzog von Stratford war schon ein Schaustück. Freiwilliger in Flandern, dann Leutnant, Hauptmann, schwer verwundet und Viktoriakreuz. Ein Held. Allerbeste Familie dazu. Schlank, gut gewachsen, blond und blauäugig, gut erzogen und mit sehr gewinnenden Formen. Ein rechter, lieber Junge, gutmütig und bescheiden, sympathisch vom ersten Augenblick an. Man hatte ihn hinübergeschickt als Attaché zur Gesandtschaft – und ganz sicher in der Absicht, daß der junge Krieger eines der amerikanischen Riesenvermögen mit heimbringen solle. Das würde den uralten Namen der Stratford von neuem glänzen machen – war zugleich eine wohlzuschätzende Jahreseinnahme für Englands Steuer.

Drei kleine Schönheitsfehler hatte er. Das linke Bein war ein wenig steif von der deutschen Kugel; dazu stotterte er, sowie er in Erregung kam. Auch war er ein bißchen dumm.

Aber jedes davon mußte einer Frau vom Schlage Ivys nur erwünscht sein: glich ihr Gold schon den Standesunterschied aus, so mußten ihr diese kleinen Fehler die gewisse Überlegenheit über ihn sichern. Im Gehn, im Sprechen und Denken langsam und ein wenig behindert, mußte dieser junge Mann der allerbequemste Gatte werden. Verarmt dazu, wohlbekannt mit jedem Luxus, den er sich doch nicht leisten konnte, mußte ihr Reichtum – den sie sicher in der Hand halten würde – ihm bald unentbehrlich werden, ihn völlig abhängig machen von dieser Frau. Und sie würde freieste Hand haben für ihre absurdesten Launen, würde ihr eigenes Leben leben können in größtem Stile.

Frank Braun lachte. Da war kein Zweifel: im Vergleich zu ihm war Herbert Stratford der zehnmal bessere Mann für Ivy. Er war ein Deutscher – irgendeiner. Hatte keinen Adelsnamen, war kein Held. Er war launisch, ließ seine Launen hart genug die fühlen, die um ihn waren. Er konnte Formen haben, konnte gewinnend sein, wenn er gerade seinen guten Tag hatte – viel mehr als der Engländer. Aber er war unausstehlich, unerträglich fast am andern Tage – abstoßend wie ein hysterisches Frauenzimmer. Das war der andere nie.

Er würde ein höchst unleidlicher Ehemann sein. Keine Frau hatte es je mit ihm ausgehalten – oder auch er mit keiner. Was am Ende dasselbe war.

Und krank war er, krank. Sehr gesund war der andere.

Er setzte sich aufs Bett, zog die Schublade des Nachttisches auf – da stand seine Apotheke. Er schob die schwarze Bibel zurück – welche Nachttischschublade barg nicht eine Bibel in diesem Lande? – griff nach seinen Döschen und Fläschchen.

Das alles schluckte und spritzte er nun seit Monaten in fröhlichem Durcheinander. Strychnin, Arsenik, Laudanum, Heroin, Atropin, Mescal, Kokain. Alles half für eine kleine Weile, nichts auf die Dauer. Sein Zustand war latent in all der Zeit und fast stets sich gleichbleibend – diese müde Leere, dieses anämische Hindämmern wurde ein dauerndes, selbstverständliches. Freilich konnte er sich aufpeitschen – und tat es fast jeden Tag nun – konnte auf manche Stunden hinaus sich und den andern vorlügen, daß er gesund wäre, wie sie auch, durchaus normal.

Wie lange mochte es halten, wie lange noch? Das schleppte sich so hin, wurde nicht schlechter, nicht besser, blieb wie es war. Eines empfand er: wenn es schon Lotte van Neß war, die ihm diese Narrenseuche an den Leib gehext, ihm das Eigenleben ausgesaugt und ihn zum Hampelmann gemacht hatte, so war doch auch sie es gewesen, die das Geheimnis kannte, die Schnur zu ziehn, die ihn lustig tanzen ließ, ihn gesund machte auf Wochen heraus. Die kleine Ivy verstand nichts davon.

Die aber sollte er heiraten – gerade die. O ja, er hatte sie immer gern gemocht, mochte sie lieber fast mit jedem Tage. Sie verstand es gut sich anzuschmiegen, und es tat ihm so wohl, sich verwöhnen zu lassen. Dennoch: nichts reizte ihn an ihr, nie sah er in ihr das Weib. Sein kleiner Kamerad war sie, und er liebte sie, wie sein Spielzeug, wie seinen Hund.

Wie den? Nicht einmal so. Als man ihm seinen Pudel überfuhr, hatte er das schwere Tier nach Hause getragen, hatte die Nacht über gewacht bei ihm. Hatte ihm selbst die Zyankalispritze ins Herz gestoßen, als der Tierarzt erklärte, daß das Rückgrat gebrochen sei. Sah das Tier sterben in seinen Armen, Auge in Auge. Grub es ein, deckte es mit Erde, pflanzte die große Yuka darauf. Weinte –

Würde er weinen, wenn Ivy verunglücken möchte – morgen am Tage? Nein, nein – viel näher war ihm sein liebes Tier.

Aber dann selbst – wenn er sie lieben möchte, begehren mit all seinen Nerven – was möchte es ändern!? In kürzester Frist mußte diese Ehe in Stücke brechen – die nur angelsächsische Lebensweisheit halten konnte: nichts sehn, nichts, jede Lüge als große Wahrheit glauben.

Freilich – nicht seinetwillen sollte er ja Ivy Jefferson freien. Darum nur, damit ihr Vermögen deutsch würde – wie es englisch wurde, wenn sie den Herzog nahm. Und damit der große Jefferson-Trust hübsch neutral blieb, den Sturmlauf nicht mitmachte gegen Deutschland. Darum allein verkaufte er der Laune Ivys seine halbe Leiche.

Er überlegte: das ist am Ende das einzig richtige. Ich muß es erreichen, daß unter keinen Umständen dies Geld gegen Deutschland arbeitet. Der Gedanke tat ihm gut und machte ihn warm –

Oder doch: nicht dieser Gedanke. Ein anderer viel mehr: Lotte Lewys Augen würden leuchten, wenn sie wüßte, was er fühlte in diesem Augenblick. Das war es –

* * *

Alles sagte er der kleinen Ivy. Die hörte ruhig zu, sehr still und geduldig. Dann sagte sie »Ja – das mag schon so sein.«

»Und?« fragte er.

Sie kam hinüber zu ihm, setzte sich auf sein Knie, schlang beide Arme um seinen Hals.

»Hör zu, du!« begann sie. »Vielleicht werde ich so sein – wie du es siehst – in wenigen Monaten schon. Heute bin ichs noch nicht. Bin noch – ein Mädchen, habe keinen je geküßt – vor dir. Ich liebe dich, o ja – so gut ichs eben kann. Ich will dich –« Sie strich hastig, nervös, mit den Fingern über sein Haar. »Du gibst mir etwas – ich weiß nicht was – ich will mehr davon. Ich weiß wohl, du gabst es andern Frauen – vielen – dennoch will ich es. Der Herzog – und die andern Männer, die ich kenne – sagen mir nichts – geben mir nichts. Kalt bin ich und kühl – und bleibe es und werde noch kühler, wenn ich mit ihnen bin. Bei dir werde ich warm. Du machst mich Dinge träumen und wünschen – die – die – – Das ist es! Darum will ich dich!«

Ihre Finger zitterten, als sie zwei Haken löste. Sie nahm seine Hand, zog sie in ihre Bluse unter das Hemd. »Fühl doch, wie mein Herz klopft,« flüsterte sie. »Und du – du? Bin ich dir nichts – gar nichts?«

Ihre kleine Brust schmiegte sich in seine Hand, weich und warm. Und er fühlte ihres Blutes Pulsen.

Er schloß die Augen. Das war schon wahr, ihr Blut klopfte an seine Adern – als ob es hineinwolle. Und langsam, sehr langsam fühlte er ein wohliges Strömen durch seinen Leib. Sehr matt nur, sehr leise. Als ob – endlich wieder einmal – auch durch seine Adern warmes Blut flösse –

»Doch –« sagte er, »doch, Ivy – vielleicht – jetzt –«

Sie schob ihren Hals an den seinen, hob ihr Köpfchen. Raunte ihm ins Ohr: »Ich bin so dumm, so ungeschickt. Die van Neß war klug – sie verstand es, Flammen aus dir zu schlagen. Ich weiß nichts – hilf mir doch. Sag mirs – zeig mirs – ich will alles tun, was du willst.«

Er dachte: ›Sei meine Decke. Leg dich, du blondes Kind, sehr nackt über meinen nackten Leib. Hülle mich, decke mich – daß ich überall deines jungen Leibes Leben fühle. Und dein Blut – dein rotes Blut. Aber still, still – rühr dich nicht. – Und nichts sonst. Hörst du – nichts, nichts.‹

Aber er sagte es nicht. Ließ nur seiner Finger Spitzen leicht erwärmen an ihres Herzens Schlag.

»So willst du den Herzog nicht?« fragte er. Sie schüttelte hastig den Kopf. »Nein,« rief sie, »ich will dich!«

Er sagte: »So versprich mir, Ivy, daß – wenn – wenn –« Er machte sich los von ihr, stand auf.

»Wenn –« begann er wieder. »Versprich mir, daß – was auch kommen möge – daß du – und dein Vater und deines Vaters Geld – daß ihr nie etwas tun werdet – gegen Deutschland.«

Ihrer Stimme Klang wurde kühl im Augenblick. »Das ist die Hauptsache!« spottete sie.

»Ja,« rief er, »ja – ja! Ich muß frei davon sein, muß die Gewißheit haben für alle Zeit, wenn – wenn ich dich – Versprichst dus mir?«

Sie zuckte die Achseln, streckte ihm die Hand hin. »Ja,« sagte sie.

Er zögerte. So rasch, so gleichgültig kam dies ›Ja‹. Sie versprach es, gewiß – und sie würde lachen über dies Versprechen!

Da fiel ihm die Bibel ein. Ein Yankeemädchen war sie – da mußte die Bibel ihr etwas Besonderes sein. Und wie – trotz allem – ein Funken mädchenhaften Empfindens in ihr glimmte, so mußte auch, anererbt, anerzogen, eine scheue Hochachtung in ihr leben vor diesem schwarzen Buch. Eine kleine Angst, irgendein Respekt, eine unverstandene Ehrfurcht.

»Komm,« sagte er. Er nahm ihre Hand, ging hinüber mit ihr ins Schlafzimmer. Nahm die Bibel, gab sie ihr.

Sie öffnete den Deckel. »Meine!« sagte sie. »Die Mutter hat sie dir hingelegt, weil das Glück bringen sollte!«

»So möge es Glück bringen!« rief er. »Schwör mirs auf deine Bibel, daß du dein Versprechen halten wirst'«

Sie legte das schwarze Buch rasch aus der Hand.

»Warum schwören?« zauderte sie. »Warum –«

Er beobachtete sie gut – o ja, so konnte es gehn: diesen Schwur würde sie halten. Mochte sie dann immerhin den Herzog nehmen.

Wieder nahm sie die Bibel, faßte sie fest. »Ich will es schwören,« sprach sie. »Unter einer Bedingung.«

»Welche?« fragte er.

»Daß – du mich heiratest – jetzt schon.«

»Jetzt?« sagte er. »Das war fest ausgemacht zwischen uns – und auf besonderen Wunsch deines Vaters – nicht vor dem Friedensschluß.«

»Ich weiß!« rief sie heftig. »Aber damals glaubte ich, daß euer läppischer Krieg kaum noch Monate dauern würde. Heute weiß ich, daß es eine Dummheit war – eure europäische Dummheit zu unterschätzen. Ihr Deutschen werdet England nie schlagen – und die Alliierten werden noch Jahre brauchen, ehe sie euch besiegen können. Aber die Narrheit von allem ist so groß, daß keiner das begreifen will.« Sie trat dicht zu ihm, sah ihn voll ins Auge. »Ich will nicht mehr warten. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich – ich brauche – einen Mann – hörst du?«

Sie schrie es ihm ins Gesicht, deckte dann mit der Linken ihre Augen. Lachte auf, schluchzte.

»Ich bin schamlos –« flüsterte sie, »ja! ja! Du zwingst mich dazu. Ich kann nicht mehr warten – ich brauche dich. Ich will dich.«

Er antwortete nicht, nahm sie nicht in den Arm, rührte sie nicht an.

Sie faßte ihn wieder. »In acht Tagen können wir verheiratet sein, wenn du magst. Ich will dir schwören – und mein Schwur gilt von dem Augenblick an, wo – wo –«

»Wo Reverend Clark uns seinen Segen gibt,« schloß er. »Denn der wird es doch sein, da er schon deine Eltern getraut hat.«

»Ja,« rief sie, »der wird es sein. Aber nicht von da an soll mein Schwur gelten. Maud Pope, meine Kusine, hat vor Jahresfrist den hübschen Douglas geheiratet – sie läßt sich nun scheiden – weil – ach – weil er sie nicht angerührt hat in all der Zeit. So – will ich nicht heiraten. Mein Schwur soll gelten, wenn –« Wieder stockte sie, wiederholte ihr ›Wenn‹, suchte nach Worten. Schlug die Bibel auf den Tisch, rief laut: »Ich will es sagen – mags klingen, wie es will. Dann soll der Schwur gelten – wenn – ich – kein Mädchen mehr bin – durch dich.«

Ihre Augen glänzten, ihre Nüstern flogen. Blut hatte sie – Blut.

»Schwöre!« rief er. »Es gilt.«

Sie nahm seine Hand, legte sie zu der ihren auf das schwarze Buch. »Ich schwöre es dir – auf meine Bibel – beim allmächtigen Gott.«

Nun war es heraus, nun hielt er sie. Er seufzte auf, setzte sich auf sein Bett. Alle Anspannung fiel von ihm ab, er ließ die Arme schlaff hinabsinken.

Sie sah es nicht. Sie setzte sich zu ihm, drängte sich wieder nahe heran. »Nun bin ich deine Braut,« sagte sie. »Nun bin ich dir – ganz nahe.«

Er zwang sich, ihre Hand zu streicheln: »Ja,« sagte er, »sehr nahe.«

Sie flüsterte: »Wenn du willst – mag mein Schwur von dieser Nacht an gelten. Wenn du magst – will ich bei dir bleiben.«

»Nein, nein!« rief er. »Morgen, morgen, oder wann immer – heute nicht.«

Sie sah ihn an, mißtrauisch wieder und lauernd. »Ich bin müde, Ivy,« sagte er, »zum Umfallen müde. Geh jetzt, ich bitte dich, geh.«

Sie preßte die Lippen zusammen. Küßte ihn leicht, stand auf.

»Gute Nacht!« sagte sie. »Ich werde träumen von dir – wie jede Nacht. Bald –«

Noch ein rascher Kuß – dann ging sie. Er hörte ihre leichten Schritte durch die Räume, hörte die Türe leise schließen.

Allein –

* * *

Eine Stimme sang. Irgendwo war es – ja, in Wien – vor manchem Jahr. Eine Stimme sang: Marias Stimme. Die war seine Verlobte damals.

Ein Abschied war es. In drei Wochen sollte er wiederkommen, dann sollte Hochzeit sein. Doch er wußte gut, daß er nie kommen würde zu dieser Hochzeit, nie.

Ihre Stimme sang ihm. Die Brautlieder des Peter Cornelius. Eines, noch eines – alle.

›Nun, Liebster, geh und scheide – morgen ist auch noch ein Tag. – Morgen – morgen – –‹

Nein, nein! fühlte er. Morgen nicht und nie!

›Mir träumte von einem Myrtenbaum –‹ sang sie. Und wieder: ›Ach, Liebster, süßer Liebster, wie lange stehts noch an?‹

Wie Ivy, dachte er, wie Ivy.

Und doch – wie anders?

So einfach war alles bei diesem Wiener Kind. So natürlich, so still. Und einmal nur sang sie heraus, was sie fühlte – als er Abschied nahm.

Sie sang es, Ivy sprach es. Aller Unterschied zweier Weltteile lag darin.

Er kam nicht zurück, damals. Er fuhr in die Welt hinaus, allein. Schrieb ihr, daß es unmöglich sei – ganz unmöglich. – Einen sehr hübschen kleinen Revolver hatte sie, perlmutterbelegt. Den nahm sie –

Warum war es denn unmöglich, warum nur? Und warum mußte sie all den Phrasen glauben, die er schrieb? Warum fuhr sie ihm nicht nach, warum nahm sie nicht, was sie wollte?

Nichts trieb ihn fort, als ein dumpfes Träumen von Freiheit. Darum ließ er seine schöne Braut, ließ ihr Geld und allen wohligen Luxus. Ein Narr war er, damals, wie immer.

Ivy aber hielt ihn – die hatte ihn fest gekauft und bestand auf der Ware für ihr gutes Geld. Die würde nie den Revolver nehmen – die nicht. Seinen Leib hatte sie gekauft – und den würde sie haben.

In acht Tagen. Oder – früher schon.

Er sprang auf. Er mußte es hinausschieben Mußte – Zeit gewinnen.

Keine Frau hatte er berührt, seit er Lotte nicht mehr sah. Nicht weil er verlobt war – ach, darum hätte er jede Nacht eine andere genommen.

Etwas anders war es. Furcht wohl – und ein wenig Ekel. Er gab sich nicht Rechenschaft darüber – es mußte wohl mit seiner Krankheit zusammenhängen. Wenn er Ivy sah – oder irgendeine Frau – begehrte er sie nicht. Manchmal nur durchzuckte ihn etwas – wie neulich beim Konzert der Farstin. Es war, als ob er etwas wünschte von dieser Frau – etwas sehr Wildes, sehr Seltsames. Aber er wußte nicht, was es war – und ganz sicher war es nicht Liebe.

Wenn sie bei ihm geblieben wäre, Ivy, heute Nacht – schon der Gedanke machte ihn schütteln. Vielleicht hätte er sie fortgestoßen, roh und brutal, sie angespieen. Vielleicht auch hätte er sich gezwungen – mit aller Kraft seines Willens, hätte gegen sein Empfinden, gegen alles Gefühl, sie –

Er ekelte sich –

Und morgen? Oder nächste Woche? Würde es nicht genau so sein? Welches Gift sollte er fressen, um sich vorzubereiten für diese Hochzeitsnacht?

Er lief zum Telephon. Verlangte Neuyork, forderte Bryant 6335. Das war die Nummer seines Sekretärs.

Lange mußte er warten, hörte endlich doch die verschlafene Stimme.

Gleich aufstehn solle er. Ein Nachttelegramm aufgeben – lang und eingehend – das ihn sofort nach Neuyork riefe. Sehr dringlich müsse es klingen, sehr wichtig dazu.

Was für Gründe? – Herrgott, irgendwelche! Er solle nur etwas erfinden –

Er hing das Hörrohr an. Ah – nun würde er Henkersfrist haben – auf eine Woche wenigstens –

So müde war er. Er fiel in sein Bett.

* * *

Am Frühstückstisch wartete Ivy auf ihn.

»Direktor André läßt dich grüßen,« sagte sie. »Er ist mit Mama nach Neuyork mit dem ersten Zuge – ich habe sie beide zur Bahn gefahren.«

»Ah?« machte er. Sagte dann: »Deine Mutter ist auch zur Stadt?«

Ivy nickte. »Ja – sie bekam ein Telegramm von ihrer Schwester, die von Boston kommt. Für dich ist auch ein Telegramm da.«

Sie reichte es ihm hinüber. Er riß es auf – versuchte ein betrübt erstauntes Gesicht zu machen. Las laut: »Professor schwer erkrankt. Sie müssen bis auf weiteres seine Abende aufnehmen. Sofort nach Neuyork kommen. Rossius.«

Bis auf weiteres – er konnte kaum seine Befriedigung unterdrücken. Das hatte sein Sekretär glänzend gemacht: Bis auf weiteres! Das war wie Gummi, das konnte man ziehn und dehnen.

»Welcher Professor?« fragte Ivy.

»Dr. Soedering,« erwiderte er. »Er ist unerhört überanstrengt, der Professor. Als ich ihn zuletzt traf, sah er schon sehr leidend und abgespannt aus.«

Ivy meinte: »Vielleicht tat er nur so. Vielleicht verstellt er sich nur, damit er ein wenig Ferien machen kann – und du ihm die Rederei abnehmen sollst.«

»Wie kannst du nur so reden!« rief er. »Dieser Mann ist die Pflichttreue selbst, er würde sprechen, solange er noch einen Ton in der Kehle hat und sich auf Krücken auf die Tribüne schleppen kann. Er ist sicher völlig zusammengebrochen – der Arme.«

Sie streichelte seine Hand. »Wie lieb von dir, ihn so zu bedauern! Aber ich kann dich beruhigen: dein Professor ist völlig gesund.«

»Was?« rief er.

»Ja, ja!« lachte sie. »Viel gesünder als du. Übrigens soll ich dich von ihm grüßen, er läßt dich fragen, ob du heute abend zum Vortrag kommst? Er spricht nämlich hier in Neuport!«

Er starrte sie an mit offenem Mund. Da sprang sie auf, küßte ihn hellachend. »Entzückend bist du, wenn du dein dummes Gesicht machst! – Wir haben deinen Professor auf der Bahn getroffen, er kam mit dem Frühzug. André sprach mit ihm – stellte ihn uns vor. Schade, wenn ich gewußt hätte, daß dein Sekretär dir das drahten würde, hätte ich den Professor eingeladen zu uns zu kommen. Hätte ihn hinter den Vorhang versteckt und dir ihn jetzt vorgeführt – deinen überanstrengten, völlig zusammengebrochenen, schwerkranken Professor, den du vertreten sollst – bis auf weiteres.«

Bis auf weiteres – idiotisch hatte das der Rossius gemacht, geradezu blödsinnig! Konnte er nicht wissen, daß der Professor in Neuport sprechen würde?!

»Es muß ein Irrtum sein,« versuchte er. »Vielleicht ein anderer Professor.«

»Nein, kein anderer!« rief sie. »Gib dir keine Mühe, mein deutscher Junge – jedes Kind sieht dirs an, wenn du lügen willst! Und dazu hab ich in der Nacht gehört, wie du deinen Sekretär anriefst, dir das Telegramm bestelltest.«

»Gelauscht hast du?« sagte er. »An der Tür?«

Sie schüttelte den Kopf. »Viel schlimmer!« lachte sie. »Meinst du, nur unser Washingtoner Geheimdienst und die englischen Detektive könnten eure Telephondrähte anzapfen? Fünf ganze Dollars hats mich gekostet – nun schellts bei mir auch an, wenn du das Amt anrufst. Und ich höre alles hübsch mit, was du sprichst. Unsere Regierung hat schon recht: man muß die deutschen Verschwörer überwachen, muß sich nicht scheuen vor ein bißchen Unrecht und Rechtsbruch. Dann ertappt man sie – wie ich dich. Du hast dich verschworen gegen mich – du wolltest fort – gestehs doch!«

Wenn sie nur wenigstens gekränkt wäre, dachte er, beleidigt, entrüstet! Wenn sie wütend wäre, weinen würde –

Aber sie lachte nur. Ein Spiel war es – da freute sie sich, daß sie seinen dummen Bluff durchschaut hatte. Viel besser waren ihre Karten.

»Nun bleibst du hier, nicht wahr?« spottete sie. »Aber du könntest deinem Sekretär drahten, damit er nicht unnütz zur Bahn läuft. Hast du Papier in der Tasche? Bleistift? Schreib.«

Und sie diktierte: »Schwerkranker Professor redet heute Neuport. Sie sind ein Esel.«

Er schrieb, wie sie befahl. Fügte hinzu: »Ich auch.«

»Die Adresse!« rief sie. Schellte dem Diener, gab ihm das Papier.

»Eilig!« sagte sie. »Gleich besorgen!«

* * *

Sie wollte nicht mit ihm schwimmen an diesem Morgen. Er solle nur gehn, sie habe keine Zeit. Sie beide seien allein heute in Oakhurst, als rechte Brautleute zum erstenmal: das müsse man feiern. Sie würde das Luncheon vorbereiten.

»Du – als Hausfrau?« lachte er.

Sie lachte: »Laß mich nur. Warte auf mich am Strande – ich hol dich ab.«

Er ging in seine Zimmer. Stets kleidete er sich dort aus, wenn er baden wollte, ging in Bademantel und Schuhen durch den Park, lief dann über den Strand ins Meer. Nur um das Trikot an- und abzulegen benutzte er seine Kabine.

Lange trödelte er heute herum. Zögerte, ob er Strychninpillen schlucken solle oder Laudanum – entschloß sich endlich doch zu Arsenik.

Ging durch den Park. Machte einen Umweg, vorbei an den Wildgehegen. Fütterte die Rehe mit roten Rüben, gab den Hirschen glänzende Kastanien. Aber die schlanke, weiße Hindin, die ihm oft nachlief durch den ganzen Park, schnupperte an der Tasche seines Mantels. Er griff hinein, fand noch ein paar Stückchen Zucker für sie.

Er schwamm weit hinaus, lag dann am Strande in der Sonne. Still, regungslos, sehr lange. Schlief nicht, träumte nicht, dachte nichts. Freute sich, daß seine braune Haut straff sich spannte, daß die Augen ihm glänzten –

Soviel Arsenik hatte er genommen; das mochte ihn frisch halten bis zum späten Abend.

Meer – Himmel –

Manchmal murmelten seine Lippen etwas. Murmelten: Lotte.

Es war nur ein Wort. Nur fünf Buchstaben, die sein Mund mechanisch bildete – aus oft wiederholter Übung. Eine Reflexbewegung nur – nichts sonst.

Nun dachte er, daß doch Ivy kommen wollte. Er blickte zur Sonne – die stand weit über Mittag. Zwei Uhr mochte es sein, halb drei. Er blickte rings umher – kein Fuß kam über den Strand von Oakhurst.

Er stand auf, ging zu seiner Kabine. Zog das Badetrikot aus, duschte, schlüpfte in seinen Mantel. Ging langsam durch die kleine Pforte in den Park.

Zwei der Treibhausgärtner kamen über den Weg. Im Straßenanzug, die kleinen Pfeifchen im Mund.

»Wohin?« fragte er.

»Nach Neuport!« antwortete der eine. »Das Fräulein hat allen Urlaub gegeben für heute nachmittag.«

»Viel Vergnügen!« wünschte er. Sie dankten.

Was war denn heute, ein Feiertag?

Er kam vorbei an den Gewächshäusern, blickte durch die Scheiben. Mächtige blaue Trauben hingen da herab – bald würden sie reif sein.

Dann hörte er Ivys Stimme dicht hinter sich. Sie kam auf ihn zu, im Bademantel wie er. »Ich habe dich gesucht am Strande,« rief sie, »du mußt grade in den Park gekommen sein, als ich hier oben hinausging.«

»Willst du jetzt noch baden?« fragte er.

»Nein!« lachte sie. »Wir wollen nun frühstücken. Alles ist fertig.«

Er nickte: »Gut. Ich bin im Augenblick angezogen – schneller als du, was gilt die Wette?«

»Morgen will ich wetten,« rief sie, »heute nicht. Heute brauchst du dich nicht anzuziehn.« Sie nahm seine Hand, zog ihn hinein in das Treibhaus. Schloß die Türe hinter sich, drehte den Schlüssel ab.

»Was gibts denn?« fragte er.

Sie lachte. »Eine Überraschung für dich. Komm nur!«

Sie gingen durch die Traubenhäuser. Kamen zu den Pfirsichspalieren, zu den Birnen, Feigen und Granaten. Durch Lorbeer und Oleander zu dem kleinen Wäldchen der Zitronen und Pomeranzen. Dem Hause der Pampelmusen, der kleinen Kumquats, der Succaden, Limetten und Mandarinen –

Dann durch die tropischen Häuser, wo Aguacaten und Chirimoyen wuchsen, Mangos, Bananen, Kakis, Passionsfrüchte, Guanavanas, Mangostinen und Grenadillos. Heiß war es, sehr schwül unter den Glasdächern.

Durch die Häuser der Rosen und die der Kamelien. Durch die Hortensien, die Chrysanthemen, die Wicken, Päonien, Margeriten, Schneebälle –

Tuberosen wuchsen im nächsten Hause der gläsernen Stadt. Ein Meer weißer Tuberosen vom Boden auf; tiefviolette Klematis rings herum. Drei Säle der Lilien – hier deckte süßes Geißblatt die Wände. Weiße und japanische Lilien, Feuerlilien, Azucenas und Schwertlilien. Tiefblaue Iris, schlanke Graslilien –

Glassäle dann mit kleinen Teichen und Tümpeln. Callas, Nymphäen, Seerosen, Lotos – Glyzenen herab von der Decke. Und auf rundem Teiche im nächsten Hause die Riesenblätter der Viktoria Regia.

Vier Kakteenhäuser – in rasendem Rot jauchzte das letzte.

Und durch die sechs großen Räume der Orchideen.

Glashäuser, immer mehr, immer neue. Sehr niedrig bald, lang und schmal, hoch dann wieder, groß und breit wie eine weite Halle. Viele, so viele.

Alles ineinandergehend, ein gewaltiges Labyrinth. Türen auf und wieder zu. Und überall ein Rieseln und Plätschern von dem Wasser, das hindurchfloß.

Durch die kuppelgewölbten Palmenhäuser. Über siebenhundert Arten hatte der alte Jefferson, das war sein großer Stolz.

Durch die Koniferen. Durch den Gummiwald. Die rotglühenden Hibiskusbüsche –

Wieder eine Türe – die war verschlossen. Aus ihrer Tasche zog Ivy den Schlüssel, öffnete. Schloß wieder hinter ihnen.

Ein hohes Glashaus, mitten in allen andern. Hier wurde zum Bach das plätschernde Wasser, lief in einen Teich. Papyrus darin, Goldlotos, Wasserlilien. Viele Goldfische, ganz kleine, flinke, und andere, faule, wie Karpfen so groß.

Dicht das Grün überall. Musen, Philodendren mit riesigen Luftwurzeln. Mächtige Mangroven heraus aus dem Teich, breite Teppichbäume daneben, überdeckt von roten Flammen. Lianen überall, Farren und Frauenhaar. Orchideen von den Bäumen. – Ein wirres Durcheinander. Aber kein kleinster Lufthauch, still alles und tot.

Drei indische Tempelbäume – so süß in dem weichen Duft ihrer weißgelben Blüten. Aber kriechend die Wände hinauf, alles betäubend mit heißglühendem Duft, die kleinen Blumen der Dama de Noche. Und Bougainvillia von der Decke herab, rotviolett.

Sie ließ seine Hand nicht los, führte ihn über die schmalen Wege. Zum Teiche; ringsherum.

Hier – hinter dem Bambusdickicht war der Platz. Teppiche. Felle darauf. Viele Kissen. Ein Tischtuch in der Mitte – da stand ihr Mahl. Nun erst verstand er sie. Hier also – hier –

Er sprach kein Wort. Starrte sie an.

Sie hielt seinen Blick. »Ja,« sagte sie. Streifte ihren Bademantel ab, langsam, ohne Hast. Stand vor ihm nackt.

Er überlegte. Suchte – o, nur den Zehntteil eines Augenblicks. Über die Tafel fiel sein Blick – auf die Austern, Hummern, all die Schüsseln. Und die Flaschen dann – Sekt, Mosel, Burgunder, Kognak. Whisky auch –

Das war es – das war seine Rettung. Trinken mußte sie, sich berauschen. Mußte trinken, trinken, bis sie allen Willen verlor – völlig sinnlos, bewußtlos war – ihn vergaß, sich vergaß – alles!

Das war es.

Und er lächelte, wie sie. Zog den Mantel aus, wie sie. Stand vor ihr – nackt.

Er sah ihre Erregung, sah, wie sie kämpfte. Aber sie gab nicht nach –

Ein Sport war es, ein scharfes Spiel. Und sie wollte ihren Sieg haben und ihn auskosten zum letzten Tropfen.

›Heute nicht!‹ dachte er. ›Heute nicht!‹

Er schob ihr Kissen zurecht, und sie setzte sich. Sie legte ihm Speisen vor, fragte ihn, was er trinken wolle.

Einen Augenblick schwankte er. Sagte dann: »Champagner, wenn du magst.«

Sie nickte, zeigte auf die eisgefüllten Kübel.

Er zog eine Flasche heraus, suchte nach einem Öffner. Fand keinen. »Alles ist da!« rief er. »Doch nichts, um die Flaschen zu entkorken.«

Sie überlegte einen Augenblick. Sagte: »Warte!« Sprang auf. Lief durch die Büsche.

Er sah ihr nach. Schön war ihr schlanker Leib, geschmeidig und straff. Wie eine von Dianas Jägerinnen trug sie der leichte Fuß.

›Jung ist sie,‹ dachte er. ›Schön und gesund. Sehr reich dazu. Und sie will mich – will mich! Warum will ich sie nicht?‹

Sie kam zurück, einen großen Kasten im Arm. Den stellte sie vor ihn hin.

»Da!« sagte sie. »Gärtnerwerkzeug. Vielleicht findest du was.«

Viele Messer, große und ganz kleine, zum Pfropfen, Stutzen, Kopulieren und Okulieren. Haken, Scheren, kleine Sicheln, Spargelstecher. Dutzende Instrumente, von deren Verwendung er keine Ahnung hatte. Sogar einen Korkenzieher fand er.

»Nun wirds gehn,« sagte er.

Er entkorkte alle Flaschen, die da waren, eine um die andere. »Nichts soll übrig bleiben,« rief er, »von unserm Brauttrank. Mögen den Rest die Gärtner trinken – auf unser Glück!«

Er schenkte die Kelche hoch voll, stieß mit ihr an. Leerte sein Glas zur Neige, ließ sie das ihre leeren.

Sie aßen und tranken. Er achtete wohl darauf, daß die Gläser nie leer standen.

Schwül, schwül und so feucht. Das half ihm, das machte durstig –

Sie verlangte nach Wasser. Aber er nahm die Mineralwasser, goß sie aus in den Teich. »Nein!« rief er. »Kein Wasser! Berauscht wollen wir sein – du und ich – vom Wein und von –«

Er ließ den Burgunder bluten in das große Glas. Sah sie an mit strahlenden Augen – vergaß, daß es Arsenik war, das sie leuchten machte.

Wenig sprach er im Anfang. Wuchs dann hinein in seine Rolle, wurde lebhaft, erzählte.

Sprach von Silberreihern, die er geschossen hatte, früh am Morgen bei Santa Barbara de Samana. Von dem ersten Tiger, den er erlegt, tief im Urwalddickicht des Ganges. Von braunen Samoamädchen erzählte er, nannte sie Sonnenstrahlen, die Menschen wurden. Von süßen birmesischen Frauen, die nichts waren, als ein Lächeln, das Fleisch ward und Blut. Von dem blütenjungen Parsenmädchen, das viel weißer war als aller Schnee, von dem tannenschlanken Singsonggirl in Nanking – Va Jee hieß sie, das ist: Schönfinger.

Die war kein Mensch, war nur eine Hand. Oder – zwei Hände. Zwei Hände – lang, schmal – und so voll von allen verbotenen Sünden.

Diese Hände liebte er. Liebte den kühlsten Schnee und den Sonnenstrahl und das ewige Lächeln.

Eine Frau hatte er gekannt, die nichts anders war als Dreivierteltakt. Eine, die Wolfsblut war. In der Mezquita traf er eine, zu Cordoba, die war ein Klang von Silber und Schwarz.

»Was bin ich?« fragte die kleine Ivy.

Er sagte: »Ich weiß nicht – wirst erst etwas werden. Aber heute sollst du und ich – sollen wir beide – das hier werden.« Er breitete die Arme weit aus, ließ den Blick rings schweifen. – »Yankeeland – weit, weit. Und darin ein Park und darin eine gläserne Stadt. Und mitten darin ein heißer Traum in den Tropen. Und wieder darin – du und ich – und in uns – unser Rausch. Der soll wachsen und Flammen schlagen, soll uns glühend einschmelzen in diese verzauberte Schwüle. Eine schreiende Lüge ist unser gläserner Tropenwald – eine groteske, wilde Lüge, Ivy, wie unsere Liebe. Du weißt es – wie ich es weiß. Aber deine Yankeelaune will es so – so mag sie so wahr werden – heute – wie meiner Träume Narrentum sie schaffen mag!«

Er schenkte die Sektkelche halb voll, goß dann Burgunder hinzu. Nahm die Meukowflasche, füllte die Gläser mit Kognak auf.

Sie zögerte, als er das Glas ihr reichte. Da rief er: »Trink! Trink! Wir müssen weg von allem Alltag!«

Er führte ihr das Glas an die Lippen, setzte es nicht ab, ehe sie es geleert.

»Hier sollten stille Vögel fliegen,« sagte er, »bunte, sehr bunte. Eidechsen und Ghekkos sollten über die Wege laufen, faule Chamäleons auf den Luftwurzeln sitzen. Krabben müßten über die Mangroven huschen, Salamander träumen auf den Lotosblättern. Da auf der Liane sollte ein grüner Leguan lauern, Schlangen sollten sich durch den Bambus winden. Blaue Schmetterlinge in der Luft, rote und gelbe – so viele Schmetterlinge.«

– Heiß war es, schwül, so schwül.

Und ein Gurren. Irgendwo ein lockendes Gurren.

Klare Tropfen perlten von seiner Stirne – klare Silbertropfen überall von ihrem jungen Leib.

»Trink!« forderte er, »trink!«

Ein Duften – Duften – schwüler noch als die heiße Luft. Tempelblumen – Damas de Noche – irgendwo mußten auch Narden stehn.

»Durst hab ich,« flüsterte er, immer noch Durst. Laß mich trinken, Ivy, aus deinen Lippen.«

Er lehnte sich zurück in die Kissen. Sie kroch heran auf den Knien, griff das Burgunderglas. Nahm einen kleinen Schluck, führte ihren Mund an den seinen. Bot ihm den Trank. Aus ihren Lippen schlürfte er diesen Wein.

Sie dann, sie auch. Sie zitterte, bebte, wie er sie nur berührte mit seinen Fingern.

»Mehr!« verlangte er. »Mehr.«

Er fühlte wohl, wie auch seine Sinne der Wein nahm. Mochte er, mochte er: so trug ein Rausch sie hinaus – beide zusammen.

Venushaar brach er, schmückte ihr Blondhaar. Atmete tief all den blühenden Duft, bog den Kopf zurück, jauchzte hinaus:

»Me juvat: et multo mentem vincire Lyaeo
Et caput in verna semper habere rosa!«

»Was ist das?« lallte sie.

»Das ist – was wir hier tun in der tiefsten Zauberhöhle der verzauberten Glasstadt. Properz sang es, ein Römer, einer, der mehr wußte von der Kunst des Lebens als alle Menschen im Yankeeland. Trink – trink – und küß mich!«

Sie riß sich hoch, schlürfte den dunklen Wein. Warf das Glas hinaus in das Grün – wand ihren Arm um ihn, bot ihm die Lippen –

»Ivy,« flüsterte er, »Efeu –«

Ein sehr Dumpfes gärte in ihm. Ein Wunsch – eine wilde Lust –

Glatt war ihr Leib, feucht und warm. ›Eine Schlange ist sie,‹ dachte er, ›eine mit warmem Blut –‹

»Durst,« flehte sie, »Durst! Gib mir zu trinken Wein – Küsse –«

Was war es denn? Etwas reizte ihn, etwas begehrte er. – Was denn?

Und die Vögel gurrten. Unsichtbar – irgendwo.

Seine Finger liefen über ihre Haut. Irrten herum, unbewußt, kaum sie berührend, wie ein leichtes Flügelschlagen. Und sie wand sich, zitterte. Ein flehendes Stöhnen ward ihr Leib – ein gieriges Schluchzen nur, ein einziges Beben.

»Du –« keuchte sie, »du –«

Und wieder griff sie ein Glas. Leerte es, hielt ihm das leere hin. Einmal und noch einmal. Er schenkte ein und tat ihr Bescheid.

Dann lachte sie auf. Goß den Burgunder über ihn, ließ den Kelch fallen –

Ihre Augen flackerten. Alle Gier –

›Mänade!‹ dachte er. ›Tier – Tier – es erwacht.‹

Voreinander knieten sie. Die Arme hob sie, griff seine Schultern mit beiden Händen. Faßte zu, fest, stark, schlug ihm die spitzen Nägel ins Fleisch. Warf sich über ihn, grub ihre Zähne ein. Biß – biß.

Noch wußte er alles. Noch überlegte er: kein Mensch ist sie mehr, kein Mädchen. Ein tolles Tier ist sie nun – eine von Dionysos' Tigerkatzen.

Giftig ist ihr Biß –

Noch sah er alles. Sah dies weiße Weib, dessen Zähne in seinem Nacken hingen. Sah den Teich, sah das tiefe Grün rings herum. Das weiße Tafeltuch, die Teller und Gläser und Flaschen.

Dann ein roter Nebel. Ein Duft von Burgunder und Blut. Und dies Gurren der unsichtbaren Tauben –

Schmerz – Schmerz.

Er schrie.

Griff ihren Leib –

Hände – Zähne –

* * *

– dann wie ein Fallen. Und das Fell, auf dem er lag, hob sich, wurde weich wie Federflaum. Ein Bett war es. Aber es bewegte sich, zog dahin, wiegte sich leise, hin und her wie ein Boot.

Meerleuchten ringsherum in der tiefen Nacht. Kein Ruderschlag – nur das Plätschern der Wellen um das stille Boot.

Er hob sich hoch. Rieb sich die Augen, blickte umher. Nein, nein, kein leuchtendes Meer –

Ein Träumen war es. Doch hörte er deutlich das Rieseln der Wasser.

Er besann sich – schärfte den Blick.

Er war – ja doch, ja!

Noch konnte er einiges unterscheiden – Dämmerung mochte es sein – ein wenig Licht fiel von oben her.

Plätschernde Wasser und der Teich. Sehr dunkel ringsum.

Aber hell das Tuch, weiß. Und ein weißer Leib –

Flecken darauf – dunkel. Ah – Wein oder Blut.

Ivy –

Er hörte ihr Atmen.

Er erhob sich. Sein Fuß stieß an den Gärtnerkasten. Der war umgestürzt – alle die Dinger lagen zwischen den Tellern und Flaschen. Er sah die Mäntel. Nahm seinen, zog ihn an. Warf den andern über die Schlafende.

Langsam ging er. Fand die Türe, schloß auf, ging hinaus. Suchte seinen Weg durch die Hibiskusbüsche.

Etwas bewegte sich, etwas Großes, Weißes, dicht vor ihm. Er faßte es rasch – Ivys schwedische Zofe war es, Dagmar Erikson. Auf einem Stuhle saß sie, fest eingeschlafen.

Er rüttelte sie wach. Fragte sie, was sie hier mache? O – Auftrag ihrer Herrin – schon den ganzen Nachmittag säße sie da, warte. Dicht an die Türe solle sie sich setzen, befahl er, still warten, bis das Fräulein erwache.

Sie hatte die Schlüssel, die Zofe. Sie führte ihn, durch zwei, drei Häuser, ließ ihn hinaus.

Er trat in den Park, atmete diese starke, reine Luft. Diese Luft – die durch alle Poren strömte – die ihn jung machte, froh, im Augenblick.

Er prüfte seinen Schritt – schwellend, elastisch. Er reckte die Arme – ah, fliegen hätte er mögen – weit hinaus!

Und es hielt, hielt – wurde gewisser mit jedem Schritt.

Das war ein anderes als die Schwindelkraft – die ihm das Strychnin gab. Morphium oder Arsenik –

Das – das war – Gesundheit! War etwas – das er nicht mehr kannte, seit er schied von Lotte –

Dann aber – dann – –?

Dann hielt auch Ivy das Geheimnis?!

Sie – Ivy – seine Verlobte!

Jubelnd flog er durch den Abend – helljauchzend –


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