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VII. Kristalle

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»Mit sehr geheimer Kunst schuf der Wesir,
der dreimal Weise, einen Spiegel ihm
aus reinstem Bergkristall. – Und wenn der Schah
in diesen Zauberspiegel warf den Blick,
lag ihm der sieben Welten Schicksalsbuch,
das siebenmal verhüllte, offen da –«

Dschami, Salamân und Absal.

 

Ernst Rossius holte ihn am Bahnhof ab.

»Wie gehts unsern Detektiven?« fragte er ihn. »Danke,« sagte der Sekretär, »sie werden sehr froh sein, Sie zurück zu haben, Doktor – tot oder lebendig.« Er trat einen Schritt zurück, starrte ihn an. »Wirklich – mehr tot als lebendig! Sie sehn aus –«

»Nun?« forschte er.

»Wie Sauerbier und Spucke!« platzte der andere heraus.

Frank Braun dachte: ›Wenn es weiter nichts ist!‹ – Er war drei Tage liegen geblieben unterwegs, in einem Hotel in St. Louis, fest im Bett. Aber es hatte kein bißchen geholfen, er fühlte sich genau wie zuvor, müde, zerschlagen, leer.

Lotte van Neß war nicht halb so erschreckt. Er dachte: ›Sie tut nur so, um mich nicht aufzuregen. Das ist dumm, wozu gibts Spiegel? Und – es regt mich gar nicht auf.‹

Er war zu ihr gefahren, am selben Abend noch. Sie saß auf dem Diwan; er lag bei ihr, den Kopf in ihrem Schoß. Sie hielt seine Hände, streichelte leicht seine Stirn. Er erzählte ihr, von Mexiko und von Pancho Villa –

Sie fragte: »Du sagst, daß der Oberst Perlstein heiße?«

Er nickte lächelnd. O ja, das war ihre fixe Idee: die Juden würden es tun – sie würden Deutschland helfen. Und dieser da, Perlstein, würde die Mexikaner nach Texas hetzen – das war der Krieg. Und die Engländer und Italiener, die Russen und Franzosen bekamen keine Lieferungen mehr: da mußte Deutschland siegen –

Er dachte: ›Und wenn Villa zehn Yankeestädte verbrennt, so wird dennoch der englische Lakai, der auf dem Stuhle George Washingtons sitzt, nicht zufassen. Nie, nie!‹

Aber er sprach es nicht aus, er ließ sie träumen.

Er fühlte sich klarer, ruhiger, stärker, wenn ihre schmalen Hände ihn berührten; leise küßte er ihre Fingerspitzen.

»Wo ist das Messerchen?« fragte sie. Er gab es ihr; sie zögerte einen Moment, öffnete es rasch.

»Es ist ganz blank!« rief sie fröhlich. Aber dann – im selben Atemzuge noch – seufzte sie: »Armer Junge!«

Er fragte: »Was soll das Ding eigentlich? Ist es ein Wunderspiegel? Bekommt es Flecke, wenn ich dir untreu werde?«

Sie nickte. »Ja – Flecken bekommt es – häßliche, große Flecke. Aber ein Wunderspiegel ist es nicht – seine Flecke sind sehr natürlich. Jedes Messerchen der Welt würde mir dieselben Dienste leisten.« Sie steckte es wieder in seine Tasche. »Bewahr es gut: eines Tages wird es blutig sein.«

Sie erhob sich rasch, küßte ihm die Frage vom Munde weg. »Steh auf, mein Freund, das Nachtmahl wartet.«

Sie aßen schweigend und tranken. Er faßte ihre Hand über den Tisch, es schien ihm, als ob er zu Hause sei – still – bei der Mutter.

Und zugleich, als ob er nie eine andere Frau in den Armen gehalten habe.

Nur diese – nur sie – Lotte Lewi –

Sie hatte sich geschmückt für ihn – jetzt erst sah er das. Sie sah strahlend aus, sehr verführerisch – nie war sie so schön.

Einmal fragte sie: »Bist du froh, daß du zurück bist?«

Er nickte nur.

Sie warf Rosinen in die Sektkelche, die zogen Luftperlen an. Schwammen hoch, wie kleine, dicke Fischlein, huschten silbern über den goldenen Wein. Und sie fischten sie, mit raschen Zungen, hielten sie in gespitzten Lippen – aßen sie – eins aus des andern Mund.

»Komm!« sprach sie.

* * *

Er rieb sich die halbwachen Augen – setzte sich auf in dem großen Bett. Die Sonne brach warm durch die gelben Vorhänge – wie spät war es nur?

Dann schloß er die Lider – versuchte nachzudenken, suchte ein Verlorenes aus dieser Nacht. Aber es war immer nur sein Traum, den er fand.

Von der Tänzerin, der Goyita – Dolores Echevarria. Von der, die die Rumba tanzte. Von ihrem Hals, ihren Brüsten, von der kleinen, roten Wunde und dem einzigen Blutstropfen –

Oder – nein – sie sah er nicht. Ihr Auge nicht – ihr Bild nicht – ihren Tanz nicht –

Das phantasierte er jetzt hinzu – jetzt im Wachen.

Aber geträumt hatte er nur von ihrer blanken Brust und dem kleinen blutroten Streifen –

Er öffnete die Augen weit, lachte auf.

»Der nicht einmal da war!«

Er blickte um sich – da war ein dunkelroter Fleck auf dem weißen Kissen, ein wenig verwischt, wie ein Streif.

Hatte er das gesehn im Halbschlaf – daraus seinen Traum geschöpft?

Er sprang aus dem Bett – wo war denn Lotte? Ihre Kleider lagen herum – hier und dort, über dem Diwan, auf Stühlen und auf den Teppichen – Schuhe, Mieder, Strümpfe.

Er stieg ins Bad – zog sich an – ging ins Eßzimmer. Die Zofe, die ihm den Tee brachte, bestellte, daß er warten möge, die gnädige Frau mache Toilette. So frühstückte er allein und es schmeckte ihm gut, wie seit Wochen nicht.

Er war krank gewesen und müde? Er – und gestern noch? Er konnte es sich kaum vorstellen, wie er sich da gefühlt – so frisch war er nun und gesund.

Er ging hinüber in ihre Bibliothek, schritt herum, griff nach den Büchern, die sie liegen hatte auf ihrem Schreibtisch, las die Titel.

– ›Sancti Petri Epiphanii Episcopi Cypri Ad Diodorum Tyri Episcopum, De XII Gemmis, quae erant in veste Aaronis‹ – Ah, das handelte von ihrer Brustplatte. ›Sie nimmt sie ernst genug,‹ dachte er. Er fand des Franciscus Rueus seltsame Steinkunde und des Bischofs Marbod von Reimes Buch über Edelsteine, den ›Hortus Sanitatis‹ des Johann von Cuba, Jean de Mandevilles ›Grand Lapidaire‹ auch, des Camillus Leonardus berühmtes ›Speculum Lapidum‹. Cardano lag auf einem Sessel und dicht dabei Konrad von Megenberg. Und in den Fächern standen, dicht beieinander, Josephus Gonellus, De Boot, Volmar, Finot, Kunz, Morales – viele, viele noch, wer immer träumte von edlen Steinen.

Dann, auf der andern Seite, lange Reihen von Bänden, die sich mit Prophezeiungen beschäftigten, mit geheimen Enthüllungen der Zukunft, Horoskopen, Weissagungen. Albertus Magnus natürlich, Ragiels Zauberbuch, Plotinus, Jamblichos, Dionysios der Areopagite, Paracelsus, Eliphas Levi. Erstaunlich viele Gnostiker, dazu Indisches, Babylonisches, Talmud – jüdisches, Alexandrinisches, Christlich-mystisches. Und überall Lesezeichen, Eselsohren, Bleistiftstriche am Rande –

»Was sucht sie nur?« dachte er.

* * *

An diesem Tage wartete er nicht auf Lotte van Neß. Sein Sekretär schellte ihn an, bat ihn, nach Hause zu kommen, da ein paar Herren ihn dringend erwarteten. Er fuhr zur Dreiundzwanzigsten Straße, begrüßte, vor der Türe, seine lieben Späher, die ihm freudig die Hand drückten. Er verhandelte mit den Herrn des Ausschusses, erstattete raschen Bericht. Am Abend traf er Ivy Jefferson und ihre Mutter im Claremont, oben am Hudson; auch ihr Beau war dabei, der englische Generalkonsul.

»Sie sehn ausgezeichnet aus!« sagte Frau Alice. »Sprühend, wie Sekt.«

Er lachte. So hatte er sich verändert in vierundzwanzig Stunden? Gestern wie Sauerbier –

»Danke!« sagte er. »Und Ihnen ist –«

Aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Es muß wundervoll sein an der Westküste! Es ist eine Schande, daß wir nie da waren. Haben Sie gut arbeiten können in Kalifornien?«

Er dehnte: »Kalifor–«

Da fühlte er Ivys Fuß auf dem seinen. »Sicher haben Sie da arbeiten können! So hübsche Karten haben Sie uns geschickt – aus Los Angeles und San Diego.«

Er erwiderte ihres Fußes leichten Druck. Sagte: »Ganz ausgezeichnet – wie von selber ging alles. Es ist ein herrliches Land: Kalifornien!«

Als sie hinausgingen, sah er die Farstin aus ihrem Auto steigen, begleitet von zwei Damen. Sie warf ihm einen raschen Blick zu, den er nicht verstand, ging an ihm vorbei. Aber dann besann sie sich, wandte sich halb um, maß Ivy Jefferson vom Kopf zu den Füßen. Sah ihn an, grüßte, leicht und spöttisch.

»Kennst du sie?« fragte Ivy. Er nickte.

Das Auto fuhr vor, er half Frau Jefferson einsteigen, reichte dann Ivy die Hand.

»Nein,« sagte sie, »Mama fährt mit ihrem Beau. Ich habe mein neues Auto herbestellt, das wollte ich dir zeigen.«

Ein großer Packardwagen, schwer genug. Sie sprang auf den Lenksitz, nahm das Steuer, lud ihn ein, neben ihr Platz zu nehmen. Drehte an, folgte dem andern Wagen.

»Du warst in Mexiko –« sagte sie.

Er fuhr sie an: »Du hast doch spioniert?!«

»Nein,« sagte sie, »ganz und gar nicht. Das auszufinden, war das leichteste von der Welt.«

»Wie?« fragte er.

Sie lachte: »Hast du nicht die paar Briefe an mich deinem Sekretär geschickt? Mit dem netten Kopf: ›Irgendwo‹?! Der gab dein Kuvert in ein anderes, schickte mir die Briefe zu, genau wie du es bestimmt hattest. Da rief ich ihn auf, von Neuport aus; bat ihn, mir jedesmal zu telephonieren, so wie Nachricht für mich gekommen sei. Und gleich das nächste Mal –«

»Sagtest du, daß du in der Stadt zu tun habest!« unterbrach er sie. »Ludest ihn zum Luncheon ein – nun wohin?«

Sie lachte. »Zu Delmonicos natürlich – dorthin sollte er mir den Brief mitbringen. Das tat er – und drei Minuten später wußte ich, wo du stecktest.«

»Und sonst?« fragte er.

»Sonst nichts!« antwortete sie. »Leider! Es war nichts aus ihm herauszubringen – und ich habe doch so hübsch mit ihm geflirtet mit deiner gütigen Erlaubnis. Er vergaloppierte sich – gleich im Anfang – aber nachher war er eine bittere Enttäuschung. Übrigens – ich habe allen erzählt, daß du in Kalifornien warst.«

Er pfiff. »Sag nur jedem, daß ich in Mexiko war – es ist kein Geheimnis. Ich wollte wieder mal einen Stierkampf sehn – das war alles.«

»Und dazu hast du fast zehn Wochen gebraucht?« drängte Ivy.

»Gewiß,« sagte er ruhig. »Ich mußte eben warten, bis es einen gab.«

Sie bog sich hinüber zu ihm. »Du lügst!«

»Dir?« fragte er. Tat verletzt, versuchte einen recht gekränkten Zug. Aber sie lachte ihn aus. »Mir erst recht! Du warst als Agent da unten für dein Land. Jeden Tag erzählen ja die Zeitungen, wie die Deutschen dort gegen uns hetzen.«

»Kind,« sagte er – und diesmal klang es ernst – »jeden Tag lügen eure Zeitungen. Die Deutschen in Mexiko sind froh, daß sie das nackte Leben haben: sie wurden längst zu Bettlern durch die Revolution, die Wallstreet schürte. Nur einer hat unten gehetzt und hetzt noch – der Yankee.«

Sehr überlegen klang es: »Gegen sich selbst?«

Er nickte: »Darauf kommt es heraus am letzten Ende.«

Er schwieg; er fühlte gut, daß er sie doch nicht überzeugen würde.

»Ich war bei Evangeline Adams,« sagte sie nach einer Weile. »Ich habe mir mein Horoskop stellen lassen. Und deins.«

›Du auch?‹ dachte er. Fragte: »Und bei wem warst du sonst noch?«

Sie sagte: »Bei Frau Cochrane und bei Doktor Deed und der Otis. Sie sagen alle was anders.«

»Und du gehst doch wieder hin?! rief er.

»Natürlich,« lachte sie. »Morgen will ich zu der Sullivan fahren.«

* * *

Das – und sicher das nur – hatte Lotte van Neß in Amerika gelernt. Ihre Bibliothek, ihr Arbeiten und Studieren, ihr rastloses Kämpfen und Eindringen in all diese verwilderten Bände – das war europäisch: deutsch und jüdisch. Aber sie fuhr herum, jeden Tag fast, zu einem oder andern der vielen Schwindler, die für gutes Geld kindische Phrasen verkauften. Das gehörte dazu – das war guter Ton in der vornehmen Gesellschaft Neuyorks.

Nirgends, in keinem Lande und in keiner Stadt der Welt machte sich dieser Pöbelschwindel so breit wie hier. Schamlos gemein und mit naiver Frechheit trieb dies Gesindel sein Handwerk – alte Weiber zumeist – hie und da auch ein Mann. Manche Zehntausende in allen Vierteln der Riesenstadt: Horoskopsteller, Orakeldeuter, Zukunftleser, geheime Ratgeber, Okkultisten, Psychologen, Chiromanten, Spiritisten, Propheten, Theosophen – und kein Ende. Herauf von den schmutzigen, zerlumpten Weibern, die auf den Straßen die Leute ansprachen, um für ein paar Nickel ihnen ihr Schicksal aus der Hand zu lesen, bis zu dem hochberühmten Professor Reese, den sie das Hirn der Welt nannten. Und sie verdienten ihr gutes Geld alle, von Quarterstücken bis hinauf zu Zehntausenddollarschecks.

– Sie bekam Dutzende von Horoskopen – eins immer dümmer, immer kindischer als das andere. Sie überflog sie rasch, zerriß sie dann. Es war geradezu erstaunlich, auf welch tiefer Stufe das alles stand.

Und doch fuhr sie immer zu andern, bestellte immer neue –

Einmal sagte ihr Frank Braun: »Es gibt einen, einen einzigen Menschen in Neuyork, der wirklich ein Horoskop stellen kann. Ich traf ihn gestern auf der Straße – es ist ein Bekannter von mir aus Europa her. Er ist der einzige, der kein Schwindler ist und wirklich etwas davon versteht. Aber er wird dir im voraus sagen, daß das alles Unfug ist.«

»Führ mich hin,« verlangte sie.

* * *

Lotte van Neß holte ihn ab am andern Morgen. »Nun, wie heißt dein Zauberer?« Er erwiderte: »Freiherr Otto von Kachele, Universitätsprofessor, Doktor med. et phil.« »Universitätsprofessor?« fragte sie.

Er nickte. »In Süddeutschland – in Heidelberg, glaube ich, oder in Freiburg – das war vor meiner Zeit. Als ich ihn kennen lernte, war er Badearzt in Thüringen.«

Er erzählte ihr die Geschichte des Mannes, während sie durch die Straßen fuhren. Und es fiel ihm ein, daß er viele hundert solcher Geschichten erzählen könnte – alle verschieden in der Mitte, aber alle gleich im Beginn und am Ende. Der Anfang: ein sonniger Aufstieg in der Heimat – gute Familie, goldene Jugend, Arbeit und Lust. Und irgendwann das Gewitter, der Sturm, der hinüberblies nach Amerika. Und der Schluß: ein elendes Verkommen in dieser Riesenstadt, ein jämmerliches, qualvolles Zugrundegehen durch die langen Jahre. Tiefer und noch tiefer –

Dieser hier war ein Gelehrter, Magister und Doktor. Schrieb als Student schon für viele gelehrte Zeitschriften, habilitierte sich, wurde Privatdozent und Professor. War vermögend genug, heiratete ein blondes, junges Ding, das ihn anbetete und für ihn sorgte. So leicht und eben schien dieser Lebensweg.

Dann plötzlich verlor er seinen Lehrstuhl, mußte fort aus der Stadt, über Nacht. Etwas war passiert – und man munkelte – aber niemand sprach laut darüber. Man wollte ihn halten, jede weitere Möglichkeit ihm geben. Er ließ sich in einem Bade nieder, trieb seine Studien weiter, bekam einen Weltruf als Ägyptologe und Assyriologe. Er gab sein Geld aus für Ankäufe seltener Altertümer; aber er bekam als Arzt in kürzester Zeit eine sehr große Praxis, die ihm jeden Genuß ermöglichen konnte. Nur: er kannte keinen. Er trank nicht, rauchte nicht, spielte nicht, reiste nicht – sah nie eine Frau an, nicht einmal seine eigene. Nichts hatte ein kleinstes Interesse für diesen Mann, nur seine Keilschriften und Hieroglyphen. Da freilich sparte er weder Zeit noch Geld, da gab er aus mit vollen Händen, da arbeitete er die Nächte hindurch.

Dann – wurde er verhaftet, vor Gericht gestellt, verurteilt – er hatte sich an einer Patientin in der Praxis vergangen. Er versuchte anfangs zu leugnen – gab dann alles zu, verteidigte sich nicht mehr hinter den geschlossenen Türen. Im Gefängnis verschaffte man ihm jede Erleichterung, brachte ihm alle Bücher, die er haben wollte, ließ ihn arbeiten nach Herzenslust – da schrieb er ein großes Werk über assyrische Horoskope. Ja, man ging so weit, ihm die Aufnahme der Praxis wieder zu gestatten – er begann an einem andern Orte, hatte in kürzester Frist von neuem eine glänzende Praxis.

Zwei Jahre hielt es – dann bekam der Staatsanwalt eine neue Anzeige. Es war genau dasselbe: er hatte sich wieder vergriffen an einer Frau, die in der Narkose lag. Jung, schön? O nein – sie war über sechzig Jahre alt und abscheulich häßlich – an Nasenkrebs litt sie.

Der Staatsanwalt kannte ihn gut – wie gern hätte er ihn gerettet! Er zögerte einen Augenblick, dann ließ er den Haftbefehl ausstellen – zum nächsten Morgen. Aber am Abende ging er in seine Kneipe, sprach davon.

Und die andern saßen herum: Amtsrichter, Oberförster, Ärzte –

Was sollte nun folgen? Langjähriges Zuchthaus? Oder Irrenhaus auf Lebenszeit?

Einer ging zu ihm in der Nacht noch – sprach mit ihm. Der Professor war durchaus vernünftig und gar kein bißchen verrückt. Nur wenn die Rede auf das kam, was er angestellt hatte, schüttelte er langsam den Kopf. »Ich weiß nicht.«

In derselben Nacht noch brachte man ihn weg, nach zwei Tagen schwamm er auf dem Ozean.

Nun war er in Neuyork seit manchen Jahren. Das Geld, das seine Frau nachbrachte, war längst verbraucht, was er besaß an Altertümern längst unter dem Preise verkauft. Seine Seitensprünge drüben standen ihm nicht im Wege – kein Mensch wußte hier etwas davon. Aber eine Praxis konnte er nicht eröffnen – dazu hätte er alle Examen noch einmal machen müssen. Das hatten Tausende deutscher Ärzte getan und es wäre ihm – wie ihnen allen – eine Spielerei gewesen. Aber: er sprach kein Englisch. Er las völlig flüssig alle Keilschriften, Runen und Hieroglyphen, verstand Phönizisch, Äthiopisch und Koptisch – doch sein Englisch blieb ganz abscheulich. Dazu kam, daß er vielleicht sich fürchtete vor sich selbst: konnte das, was ihm passiert war nun dreimal schon, nicht wieder geschehn an jedem einzelnen Tage? Er hatte Angst vor der Praxis – vor dem häßlichen Tier, das irgendwo in ihm schlummerte.

So wurstelte er herum. Schrieb nach wie vor sehr gescheite Untersuchungen, für alle möglichen wissenschaftlichen Zeitschriften, war nach wie vor korrespondierendes Mitglied aller möglichen gelehrten Gesellschaften. Um zu leben aber, tat er alles, was ihm die Stunde zutrug. Er erfand eine neue Goldmischung für Zahnfüllungen und verkaufte sie an einen Zahnarzt, der sie patentieren ließ und zwanzigtausend Dollar damit verdiente – er selbst bekam fünfzig Dollar davon ab. Ein Schwindeldoktor, der an der Kolumbia-Universität einen Lehrstuhl für Orthopädie erstrebte, gab ihm den Auftrag, eine Geschichte dieser Heilkunst zu schreiben und versprach ihm hundert Dollar dafür. Der war sehr unzufrieden mit ihm, denn er hoffte, daß das Manuskript in spätestens drei Wochen fertig sein würde – und der deutsche Professor brauchte fast ein Jahr dazu. Er arbeitete die Nächte hindurch, fand verblüffende Aufschlüsse über Fußleiden aus babylonischen und assyrischen Zeiten, schöpfte die Materie mit einer Gründlichkeit aus, als handle es sich um ein Verfahren, das die Welt von der Schwindsucht befreien sollte. Als er seine Bogen endlich ablieferte, war der Amerikaner außer sich vor Entrüstung: das Buch war viel zu lang und hatte dazu eine Menge Illustrationen – das würde die Drucklegung erheblich verteuern. Er zog ihm dafür fünfzig Dollar ab und weitere dreißig, weil doch eine englische Übersetzung angefertigt werden mußte. Es ist wahr, daß er auch aus eigenem hinzugab: sein Bild mit der Unterschrift.

– Das Werk wurde gedruckt – mit des Bestellers Namen als Verfasser natürlich; es wurde preisgekrönt in Harvard und der orthopädische Lehrstuhl wurde für ihn in Kolumbia geschaffen. Und jetzt zeigte sich der Yankee als Gentleman

– er schickte dem Professor ein Exemplar zu, das trug auf der ersten Seite eine sehr ehrenvolle Widmung: »Meinem lieben Freunde.« Und dabei lag eine Zehndollarnote.

Aber solches Verdienst war ein besonderes Glück. Sein Leben machte der gelehrte Baron mit Urinuntersuchungen. Tagaus und tagein – für alle möglichen Doktoren und Quacksalber – einen Dollar bekam er für die Untersuchung. – Sie stiegen die Treppe hinunter, gleich von der Straße aus, siebzehn Stufen. Unten in den Kellerräumen war das Laboratorium; zwischen seinen Gläsern, Retorten, Tiegeln und Phiolen, die ein unwahrscheinliches ultraviolettes Licht wie ein vergifteter Mondschein beschien, saß der armselige Professor auf einem Stuhle ohne Lehne, die Hände auf den Knien, vornübergebeugt, wie im Halbschlafe. Sehr eingefallen waren diese häßlichen Züge, die ein grauer, ungepflegter Bart und schmutziges, zerzaustes Kopfhaar umrahmten. Über die Stahlbrille lugten kurzsichtige, hellgelbe Augen.

»Doktor,« rief ihn Frank Braun an, »was machen Sie?«

Der kleine Professor sprang auf, reichte ihm beide Hände. »Das ist lieb, daß Sie zu mir kommen, das ist lieb. Ich habe herausgefunden, wonach Sie mich neulich fragten, ich habe Ihnen alles aufgeschrieben.« Er lief nach hinten, nahm von einem Tisch ein Manuskript, wohl dreißig Seiten stark.

»Da,« rief er, »hier haben Sie die Sache! Ihre Vaudouxpriesterin, die Mamaloi, kann gar nichts anders sein, als eine menschliche Personifikation der koptischen Berzelia – und die – viel weiter zurück – ist die Gattin Molochs, die die Griechen Basileia nannten. Ich versichere Sie, wir haben eine gerade Linie – nein nicht gerade, sie ist vielmehr sehr gerollt und verbogen – von der babylonischen Göttin Labartu bis hin zu den Kinderopfern im Vaudoux Haitis! Und die merkwürdige Umkehrung, daß die blutfordernde Astarte selbst ihr Blut gibt, wenn –«

Frank Braun unterbrach ihn: »Danke, Professor, Sie werden mir das später einmal auseinandersetzen. Heute wollte ich was anders von Ihnen. Diese Dame hier –«

Er stellte Frau van Neß vor. Kachele wandte sich um, jetzt erst bemerkte er, daß eine Frau in seinem Keller war. Er reichte ihr wohl die Hand hin, aber er begrüßte sie nicht – bitter enttäuscht, daß man seinen Vortrag unterbrach.

»Kommen Sie,« beschwichtigte er ihn, »seien Sie nicht böse, Professor! Ich habe Frau van Neß erzählt, daß Sie der einzige Mensch seien, der heutzutage ein Horoskop stellen könne – streng wissenschaftlich und ohne Schwindel.«

»Was?!« rief der kleine Mann. »Wissenschaftlich und ohne Schwindel? Alte Horoskope untersuchen, das ist Wissenschaft, aber neue stellen ist immer Schwindel! Gibt es in Neuyork nicht dumme Esel genug, die ihren noch eselhafteren Klienten das Geld für Horoskope abnehmen? Was kommen Sie zu mir? Sie haben sich verlaufen, gleich nebenan wohnt so ein Zauberkünstler – ich sehe jede Stunde am Tage elegante Autos vorfahren. Ich kann Ihnen eine Zahnpasta mischen, wenn Sie wollen, oder Ihnen ein Mittel gegen Wimmerl verschreiben – ich will Ihnen den Urin untersuchen – im Abonnement billiger. Das ist ehrliche Arbeit! Aber –«

Frank Braun rief: »Regen Sie sich nicht auf, Baron, es steht nicht drum. Wenn Sie nicht wollen, lassen Sies eben bleiben.«

»Nein, ich will nicht.« schrie der Professor.

»Also gut, gut!« beruhigte er ihn. Sagte dann rasch: »Ein großes Laboratorium – schade, daß Sie kein Tageslicht haben. Wohnen Sie auch hier, Professor?«

»Nein,« knurrte er, »ich habe noch ein Zimmer in der vierzigsten Straße.«

Frank Braun hielt ihn fest. » Ein Zimmer – für Sie und Ihre Frau? Wie geht es ihr?«

»Schlecht,« zischte der Professor.

»Ist sie krank?« fragte er.

Dr. von Kachele zuckte die Achseln. »Ist das ein Wunder, bei dem Leben, das wir führen?«

Nun hatte er ihn, wo er wollte. Trat dicht auf ihn zu, sagte langsam und betonend: »Ihre Frau ist krank – unterernährt vermutlich – wie Sie selbst! Und Sie haben den Mut, aus Fakultätsstolz heraus einen Auftrag abzulehnen, der Ihnen viel Geld einbringen würde?«

Der kleine Professor zog den Kopf ein in seinen Rockkragen, schnellte ihn dann wieder heraus, wie eine Schildkröte. »Viel Geld, sagen Sie? Wieviel Geld?« forschte er.

»Wie lange Zeit würde es in Anspruch nehmen?« fragte Frank Braun zurück.

Der Professor sann einen Augenblick nach. »Wenn ich es wirklich ernsthaft machen soll – alle Tafeln nachsehen –« Er nahm sein Taschentuch, putzte seine Brille, wischte sich dann den Schweiß von der Stirne. »Drei Monate wird es wenigstens kosten,« schloß er, »vielleicht vier, wenn ich gründlich arbeiten darf.«

»Ich zahle Ihnen zehn Dollar für den Tag – für vier Monate!« sagte Frau van Neß.

Er rechnete. »Das – das wären ja – über zwölfhundert Dollar –« stotterte er.

Sie nickte: »Nehmen Sie an?«

»Ja!« schrie er laut. »Ich –« Aber er unterbrach sich plötzlich. »Doktor,« begann er dann zögernd und tappend, »ich kenne Sie seit zehn Jahren nun – Aber wir hatten nie irgendwie etwas Geschäftliches miteinander –« Er räusperte sich, versuchte Mut zu fassen, begann von neuem. »Sehn Sie, ich bin so oft hier im Lande um meine Arbeit betrogen worden –« seine Stimme schlug um, wurde heiser und sehr bitter – »immer – immer!«

Lotte van Neß zog ihr Scheckbuch heraus, schrieb, reichte ihm das Papier hinüber. »Hier, Herr Professor. Und bitte, fangen Sie nicht eher an, ehe Sie das Geld abgehoben haben. So gehn Sie sicher.«

Er nickte, mechanisch, fast verständnislos. Faltete den Scheck zusammen, gab ihn sorgfältig in seine Brieftasche. Nahm einen Bleistift vom Tisch, ging an die gekalkte Wand. Zeichnete einen großen, unbeholfenen Kreis und hinein die zwölf Häuser.

»Weiß die Dame, was ein Horoskop ist?« fragte er.

Frank Braun lachte. »Ich hoffe wohl. Sie hat schon hundert bekommen – von der Konkurrenz.«

Der Professor wiegte den Kopf hin und her. »Die sind im Grunde genau so gut, wie das, was ich Ihnen machen soll – aus den Sternen. Ob ich mich hinsetze und Ihnen in fünf Minuten etwas zusammenphantasiere – oder ob ich in langer Arbeit nach allen alten assyrischen Regeln das herausfinde, was die Sterne in ihrer Zeugungsstunde verkündeten – das ist völlig gleichgültig im letzten Grunde. Es kommt nur auf Sie an, gnädige Frau! Machen Sie es, wie es Alexander der Große machte – oder wie Jesus von Nazareth – dann stimmt das Horoskop. Meines oder das der kleinsten Wahrsagerin von Coney-Island –«

Er hatte sein Gleichgewicht völlig wiedergefunden. »Wollen Sie zuhören?« fragte er. »Eine Viertelstunde nur? Ich muß Ihnen doch sagen, was Sie bekommen werden für Ihr Geld. Setzen Sie sich, bitte, setzen Sie sich!«

Er rückte ein paar Stühle zurecht, von denen der eine noch durchaus tauglich war. Seine gelben Augen wurden blank, zitterten vor Freude, daß er reden konnte. Reden, Vortrag halten, über etwas, das ihn interessierte. Dieser einzige Genuß des Wissens, das sich mitteilen will –

Er erklärte das Horoskop genau, gab die uralten Gesetze der assyrischen Astrologen, schlang hinein die Weiterbildung der Babylonier, Phönizier, Ägypter und Äthiopier. Der Araber, Griechen, Aramäer und Perser – und die seltsam sophistischen Glossen der alexandrinischen Schule. Erklärte, weitschweifig oft und schwatzhaft, aber doch klar und sachlich, warum in der alten Welt die Horoskope sich erfüllen mußten.

»Damals, ja, da glaubte alles an die ewigen Gesetze der Sterne. Die Regeln? Nomadenträume aus der Wüste! Wann – wo – das weiß man nicht. Aber sie waren einmal da – wurden fest und heilig durch die Jahrhunderte, sichere Konvention, wie das Zahlensystem, wie die Buchstaben. So fest glaubte die alte Welt daran, daß ihre Historiker – Herodot an der Spitze – darnach ihre Geschichte schrieben. Der sagt, mehr als einmal: ›Die Überlieferung bei jenem Volke behauptet zwar, daß – Aber das ist grundfalsch; in den Sternen steht es anders.‹ Und dann erzählt er des Volkes Geschichte, wie sie in den Sternen steht – und nicht, wie er sie hörte auf seinen Reisen.

»Nun aber lernte man – vor Jahrtausenden schon – den Sternenlauf berechnen, für die Vergangenheit sowohl wie für die Zukunft. Nicht der Augenblick interessierte – vielmehr das, was war, und noch mehr das, was sein würde. In den Sternen stand die Geschichte Jesu Christi – o, mit allen kleinsten Einzelheiten – und man konnte sie heute so gut dort lesen, wie man das Tausende von Jahren vor seiner Geburt konnte. War sie nicht aufgemeißelt in klarster Keilschrift auf dem großen Stein im Berliner Museum? Man brauchte nur auszurechnen: wie sah der Sternenhimmel aus in jenem Jahre oder in diesem?

»Dann aber – ein paarmal in einem Jahrhundert – kam eine ganz seltsame Konstellation – und solch eine war es, die die Welt umwarf im vierten Jahrhundert vor Christi. Einer wird kommen von Westen her: ein junger Held auf weißem Roß. Der wird die Reiche zerschmettern – dem werden die Städte sich öffnen und die Heere werden vor ihm zerstieben wie Spreu. Und er kam auch, der Mazedonier Alexander, und erfüllte alles, wie es die ewige Weisheit der Sterne lehrte. Ein Russe, Murajeff, hat es nachgerechnet, und es stimmt alles, haarklein, Tag um Tag. Warum? Weil der ganze Orient die Prophezeiung kannte und fest an sie glaubte, weil man den Eroberer erwartete seit langen Jahren schon. Darum schlossen die Städte ihre Tore auf, darum flohen vor der Handvoll Griechen die riesigen Heere des Perserkönigs. König Alexander spielte seine Rolle als Sternengesandter gut genug, erfüllte – wo es nur eben ging – alles das, was prophezeit war von den Astrologen, deren Weissagung er so gut kannte, wie alle andern. Darum bemühte er sich um den gordischen Knoten, darum pilgerte er in den Ammontempel! Nur freilich fiel es ihm etwas spät ein, daß er berufen wäre, der versprochene Held zu sein: wir wissen heute, daß er beinahe ein Fünfziger war und durchaus kein Jüngling mehr, als er nach Persien zog. Vielleicht nahm er Schminke zu Hilfe und Mehlpuder – aber, was er auch tun mochte, um sein Alter zu verbergen – es gelang ihm gut. Heute noch ist er in den Schulbüchern der ganzen Welt der junge, lachende, strahlende Held!

»Weil es so in den Sternen steht – und die haben recht – nicht die Wirklichkeit.

»Die andere gewaltige Prophezeiung war die des Messias. Fieberhaft und aufgeregt war in jenen Jahren das Judenvolk – die Zeit der Sterne war gekommen – nun war er da, der Gottgesandte, war mitten unter ihnen. Er tauchte auf – nicht allein – gleich in mehreren Exemplaren. Ging nicht Johannes in die Wüste, taufte er nicht mit Wasser – wie Jesus auch? Führte nicht Josephus, der sogenannte Judenchristus, der ein wenig später auftrat, genau dasselbe Leben, wie der Nazarener?

»Warum nur? Weil – es geschrieben stand.

»Wieder und immer wieder sagt uns das Testament, daß der Gekreuzigte dies oder jenes tat – auf daß erfüllet werde, was da geschrieben steht. Wo denn geschrieben? – In den Sternen.

»Und so felsenfest war dieser Glaube an die ewigen Sterne, daß die alexandrinische Schule es genau so machte, wie Herodot: sie korrigierte – nach den Sternen – die Geschichte der Apostel. So kam – ein paar Jahrhunderte später – die merkwürdige Geschichte von der Darstellung des zwölfjährigen Jesus im Tempel in das Evangelium des Lukas, so die von der Flucht nach Ägypten in das des Matthäus.

In den Sternen steht diese Geschichte – jeden Tag kann man das nachprüfen. Der Evangelist hat sie nicht notiert? Nun wohl, er wird sie vergessen haben – da mußte man die Lücke ausfüllen.«

Wärmer wurde der kleine Professor und immer wärmer. Seine kurzen Arme zuckten in der Luft herum, auf seinem zerbrochenen Stuhle wippte er hin und her. Er sprach von den Prophezeiungen der Azteken und denen der Inkas, die sich Cortez zunutze machte und Pizarro; er trug ein Beispiel heran nach dem andern aus der spätrömischen Geschichte und aus dem Mittelalter, um zu zeigen, wie prächtig sich alle Horoskope erfüllen, wenn man eben nur tut – was da geschrieben steht. Er schwieg nicht einen Augenblick, nutzte die gute Gelegenheit voll aus, plätscherte wie ein fröhlicher Wasserfall.

Frank Braun stand auf, legte ihm die Hand auf die Schultern. »Ich muß Sie unterbrechen, Professor,« sagte er, »ich habe eine Verabredung –«

»Aber die ›Labartu‹?« bat der andere. »Ich muß Ihnen doch sagen, wieso die phönizische Astarte –«

»Ein andermal,« sagte er, »ein andermal! Heute habe ich wirklich keine Zeit.«

Lotte van Neß schob ihren Hut zurecht. Wollen Sie mit mir zum Luncheon kommen, Doktor?« sprach sie. »Sie können mir das alles erzählen.«

»Ihnen?« fragte er. »Interessiert Sie das?«

Sie lächelte: »Ich glaube – ja. Ich werde ihm alles berichten.«

Professor von Kachele suchte seinen Hut, fand ihn endlich in einem Papierkorb.

Sie gingen die Treppe hinauf, stiegen in das Auto. Lotte van Neß ließ bei Tiffanys halten, stieg aus, kam gleich darauf wieder mit einem kleinen Kästchen in der Hand. Sie öffnete es, nahm ein schmales, goldnes Halskettchen heraus, das einen kleinen unscheinbaren Kristall hielt. Sie zeigte es dem Professor, fragte: »Das hab ich mir machen lassen – wissen Sie, was es soll?«

Dr. von Kachele betrachtete den Stein: »Sie haben einen Greifen hineinschneiden lassen,« sagte er langsam. »Einen Greifen – haben Sie ein Baby?«

Frank Braun lachte. »Ein Baby? Nein, das hat sie nicht. Warum denn?«

Dozierend wieder, den Finger an der Nase, erklärte der Professor: »Das ist ein venetianischer Aberglaube aus dem Trecento, den vermutlich die Kreuzfahrer aus Syrien brachten – Das Ding da – soll Frauen reichlich Milch verschaffen!«

Lotte Lewi nickte, nahm das Kettchen, legte es um den Hals. »Sie haben recht,« sagte sie.

Frank Braun starrte sie an: »Du, Lotte – du brauchst Milch?«

»Ja,« sagte sie ruhig. »Milch. – Für mein Kind. Viel Milch – rote Milch.«

* * *

›Dummes Zeug,‹ dachte Frank Braun. ›Narreteien!‹

Aber es ließ ihn nicht. Immer wieder zog der Beryll, den sie ihm gab, an diesem Tage seinen Blick auf die Hand. Und er dachte an die alten Steine ihrer Brustplatte –

Schon am nächsten Tage stieg er wieder in die Höhle des Kachele.

»Sagen Sie mir, Professor,« rief er, »ist es denkbar, daß Edelsteine wirklich die seltenen Eigenschaften besitzen, die ihnen aller Völker Aberglauben zu allen Zeiten zuschrieb? Ich meine – da und dort in irgendeinem Falle! ist es möglich?«

Der kleine Professor hustete. »Warum nicht? Jedes Kind weiß, welch merkwürdige Eigenschaften die Mineralien besitzen – jedes hat einmal mit einem Magneten gespielt und Stahlnägel damit aufgehoben. Hat Natrium und Kalium ins Waschbecken geworfen, um zu sehn, wie hübsch das im Wasser brennt. Hat mit Quecksilber gespielt, das stets in flüssigem Aggregatzustande ist, oder Magnesium angezündet, das heller leuchtet wie Tageslicht. Sind das nicht höchst wunderbare Eigenschaften? – Ach, fast jedes Mineral hat sein kleines Wunder – und nur wenige davon kennen wir genau. Alle Metalle oxydieren, aber Gold nicht, weil es mit Sauerstoff keine Verbindung eingeht. Denken Sie an die unerhörten Emanationen des Radiums, oder an Iridium, das sich in keiner Säure löst, nicht einmal in Königswasser. An den Doppelspat, der die einzige Eigenschaft hat, das Licht doppelt zu brechen – an den Turmalin, der durch Erhitzen, und den Topas, der durch Reiben elektrisch wird. An die Unverbrennbarkeit der Hornblende, an die Wassergierigkeit des Meerschaums, der aufgelöst zur Gallerte wird. Wunder, wohin Sie greifen.«

»Auch heilwirkend?« fragte Frank Braun.

Der Professor lachte. »Aber Doktor, das wissen Sie doch so gut wie ich. Haben Sie nie Glaubersalz genommen, das viel durchschlagender wirkt wie Rizinus? Nie mit Karbol zu tun gehabt und seine desinfizierende Wirkung kennen gelernt? Überlegen Sie doch – was wäre die ganze Medizin ohne die Mineralien? Ätzkali, Ätznatron, Höllenstein wirken kaustisch, mit Quecksilber schmieren Millionen Menschen, Eisen fressen noch mehr. Als heilwirkend für tausend Sachen gelten Karlsbad, Vichy und alle Mineralwasser. Und es gibt heute noch Ärzte – Autoritäten dazu – die fest überzeugt sind, daß man mit den beiden – Jod und Arsen – alle Krankheiten der Welt heilen könne.«

»Dann,« begann Frank Braun zögernd, »dann ist es durchaus möglich, daß –«

»Daß die eine oder andere seltsame Eigenschaft zutrifft, die die Alten den edlen Steinen zuschrieben?« unterbrach ihn der Professor. »Ohne jede Frage. Manches ist bare Phantasie, sicherlich; und oft kindisch genug. Aber manches, manches mag richtig sein. Und dann, wissen Sie, kindisch genug ist auch oft unsere sogenannte exakte Wissenschaft: recht hat sie nur, solange sie grade lebt.«

* * *

Der junge Rossius trat an sein Bett. »Es ist zwölf Uhr, Doktor,« rief er. »Möchten Sie nicht aufstehn? Der Diener ist da mit dem Tee.«

Er nickte schlaftrunken. Sie brachten ihm das Frühstück ans Bett; er aß und trank schweigend, dachte nach. Das war nun schon so seit einiger Zeit, daß er sich des Morgens nie mehr zurechtfand, immer angestrengt sich besinnen mußte über das, was geschehn war am vergangenen Abend.

»Der Vortrag ist fertig getippt,« sagte der Sekretär. »Ich wachte schon früh auf, nahm mein Bad und ging zur Schreibmaschine. Ich habe mir auch Tee machen lassen – mit Ihrer Erlaubnis.«

Frank Braun fragte zögernd: »Haben Sie hier gebadet?«

»Wo denn sonst,« gab der Sekretär zurück. »Ich hab doch hier geschlafen heute nacht – auf dem Sofa im Mittelzimmer.«

Ja – nun fiel es ihm ein. Er war spät genug nach Hause gekommen in der Nacht – da saß der junge Rossius, wartete auf ihn. Der Vortrag, den er heute halten sollte – über – worüber war es denn nur?

Einerlei – es würde ihm schon einfallen. Deshalb hatte er den Sekretär in der Nacht bestellt. War herumgelaufen im Zimmer, hatte noch anderthalb Stunden diktiert. Ja – und er hatte dem jungen Mann gesagt, daß er dableiben möge, um gleich am andern Morgen das Stenogramm abzutippen. So war es – nun hatte er alles, gottseidank.

»Sie haben mich schön erschreckt, Doktor – heute nacht,« lachte der Sekretär.

»Ich?« fragte er. »Wieso?«

»Sie sind ein Schlafwandler!« antwortete Rossius.

Er sprang aus dem Bett. »Dummes Zeug!« rief er.

Aber der andere sagte: »Gar kein dummes Zeug. Sie kamen herüber, machten sich an dem Tisch zu schaffen. Irgend etwas fiel herunter – davon erwachte ich, drehte das Licht an. Das störte Sie weiter nicht. Sie standen da im Pyjamas mit weit offenen Augen – kramten herum auf Ihrem Toilettentisch.«

»Was tat ich?« fragte er.

»Nichts Besonderes,« gab der andere zurück. »Sie nahmen ein paar Sachen auf, Scheren – Kämme – dann zogen Sie etwas aus der Tasche Ihres Schlafanzuges, steckten es wieder hinein. Auch Ihren Rasierapparat schraubten Sie auf und wieder zu.«

»Das war alles?« forschte Frank Braun. »Und wer sagt Ihnen denn, daß ich nicht sehr wach war?«

»Nein, Sie waren nicht wach,« beharrte Rossius. »Ich rief Sie an – und Sie hörten mich nicht. Ich stand auf, trat dicht vor Sie hin – und Sie sahen mich nicht – trotz der offenen Augen. Dann nahm ich Ihren Arm und führte Sie zurück. Sie waren sehr sanft und ließen sich ruhig zu Bett bringen. Nach zwei Minuten schon schlossen sich Ihre Augen und Sie schliefen fest –«

»Was jedenfalls gescheiter war,« brummte er. Er nahm seinen Kimono, ging ins Badezimmer.

Nach einer Weile kam er nach vorne, immer noch müde genug, kein bißchen ausgeschlafen.

»Viel zu tun heute?« fragte er. Aber er wartete die Antwort nicht ab. »Kommen Sie, Rossius, wir wollen eine Partie Schach spielen.«

Er lag lang auf dem Diwan, den Oberkörper aufgestützt auf ein halbes Dutzend Kissen. Er flog die Zeitungen durch, dazwischen warf er einen raschen Blick auf das Brett, schob eine Figur.

Dann ließ er sich den Vortrag vorlesen, verbesserte hier und da. Allmählich hörte er nicht mehr zu, träumte vor sich hin.

Unterbrach ihn plötzlich. »Geben Sie doch mal die blaue Mappe,« sagte er, »die, wissen Sie, in der wir die anonymen Wische aufbewahrt haben, die Drohbriefe und derlei Zeug.

»Nicht mehr da!« sagte der Sekretär. »Sie sagten neulich mal, ich solle den Kram vernichten. Da habe ich die Mappe im Kamin verbrannt mit allem, was drin war – gestern, als ich auf Sie wartete und die Zeit benutzte, ein wenig Ordnung zu schaffen.«

»Habe ich das gesagt?« rief Frank Braun. »Es war sehr dumm – sehr dumm!« Er nahm ein Kissen, warf es hoch, fing es wieder auf. »Erinnern Sie sich an den Brief, den wir bekamen, einige Tage, nachdem ich aus Mexiko zurück war? Den, wissen Sie, der sehr geheimnisvoll tat und vor einem sichern Anschlag warnen wollte!«

Rossius nickte. »O ja, Doktor. Sie meinten, der komme von einem närrischen Frauenzimmer – es sei heller Blödsinn. Es stand etwas drin, daß – wenn auch die Männer in diesem Lande schliefen, doch die Frauen weit wach wären – daß sie schon Mittel finden würden – und gefunden hätten – um Ihnen und Ihresgleichen das Handwerk zu legen.«

»Den Brief meine ich,« sagte er langsam. »Vielleicht war es nur kindisches Gefasel einer alten Jungfer, die von der englischen Lügenpresse verrückt gemacht wurde, wie so viele Millionen andere. Und die nun in jedem Deutschen einen verruchten Mörder sieht! Vielleicht! Vielleicht auch mag etwas daran sein. So oder so, mein Junge, ich glaube fast: ich habe Angst.«

Rossius lachte auf: »Sie – Doktor? Sie haben Angst? Na, immerhin hab ich noch nichts davon gemerkt.«

»Ich auch nicht –« sprach er achselzuckend. »Jedenfalls nicht, wenn ich wach bin. Aber – ich glaube – ich habe Angst – wenn ich schlafe.«

Er schwieg eine Weile, fuhr dann fort, langsam, überlegend und nachsinnend: »Ich träume, – das habe ich sonst nur getan, wenn ich wach war – und es war mehr ein Grübeln, ein Phantasieren und Spinnen. Jetzt ist es richtiges, kindisches Träumen – im tiefsten Schlafe – und es ist immer dasselbe. Von einer Wunde auf der Brust – und von rotem, tropfendem Blut. Ich mag das Geträume nicht.«

Er sprang auf, lief mit raschen, nervösen Schritten durch das Zimmer. »Und dieses Schlafwandeln heute nacht – wer weiß, ob es das erste Mal war. Bin ich ein neurasthenischer Jüngling, ein bleichsüchtiges Backfischchen? Ein hysterisches Weib in den Wechseljahren oder ein mondsüchtiges Frauenzimmer, das ihre Regeltage hat? Zum Henker, nein! Ich habe Angst – sage ich Ihnen – ganz gemeine Angst – vor – vor – irgend etwas!«

Er setzte sich wieder, sog an seiner Zigarette. »Und diese Furcht muß einen Grund haben. Ich bin krank – das wissen Sie ja – seit ich in dieser gottverdammten Stadt bin. Heute nicht – jetzt im Augenblick nicht – aber eben noch – und vielleicht morgen wieder. Eine komische Krankheit ist es dabei – von der keiner weiß, wie und wo – und ich am wenigsten. Sieben – nein, acht Ärzte haben mich untersucht – von Kopf zu Füßen – auf Frau van Neß' Befehl – und keiner hat etwas gefunden. Ein bißchen Nervenschwäche, sagen sie – das ist eine dicke Phrase. Ich solle nicht so viel rauchen, raten sie – das weiß ich selber. Und: gute Besserung – auf Wiedersehn! Dankeschön – das ist eine Kunst!«

Er schwieg wieder, wiegte den Kopf hin und her, überlegte. Fuhr dann fort: »Es ist eine Müdigkeit – ohne Grund. Eine körperliche Schwäche – manchmal ein rascher Schwindel – und alles ohne sichtbare Ursache. Das große Gefühl einer völligen Leere – das ist es – so, als ob ich keinen Tropfen Blutes mehr im Leibe habe. Als ob sich mein Blut in den Adern zersetze – als ob irgend etwas an mir sauge, mich leer trinke und ausschlürfe. So wie Kinder es mit den Apfelsinen machen – ein Loch hinein und dann ausgelutscht: ich bin die Orange!«

Er zog die Beine hoch; brannte eine neue Zigarette an.

»Furcht habe ich,« betonte er, »das steht fest. Bei Tage noch nicht – aber im Schlafen wohl: also ist diese Angst unbewußt, kommt aus dem tiefsten Instinkt. Dann aber – wovor habe ich Angst?« Er stockte, blickte starr seinen Sekretär an. »Sagen Sie mir, glauben Sie – daß es ein langsames Gift sein könnte?«

Ernst Rossius lachte hell auf. »Beruhigen Sie sich, Doktor, wir sind nicht mehr im Mittelalter!«

Da fuhr er auf. »Was meinen Sie? Ich sage Ihnen, nie war die Welt so wahnsinnig wie in unseren Tagen. Schaun Sie doch die Blätter an! Man schlachtet sich ab zu Hunderttausenden – wann sah je die Sonne ein solches Morden? Und wozu – warum nur? Jede Regierung schwatzt dieselben Phrasen in ihren Buntbüchern – und das eine ist so absurd, so schamlos dumm wie das andere. Viel phantastischer ist unsere Narrheit, als sie zur Zeit der Inquisition war, oder damals, als die rasenden Haufen der Geißelbrüder die Lande durchzogen und Europa in ein großes Irrenhaus verwandelten. Neuyork aber, Rossius, ist die romantischste Stadt der ganzen Welt, lebt heute noch im nebeldicksten Mittelalter!«

»Was sagen Sie da?« unterbrach ihn der Sekretär. »Das moderne Neuyork – mit seinen Untergrundbahnen und Wolkenkratzern und den hunderttausenden Automobilen!«

»Eben das!« rief er. »Eben das! Mit diesen Hoch- und Tiefbahnen, in den Sie mehr Wanzen und Flöhe bekommen als irgendwo in Neapel. Mit diesen Wolkenkratzern, die so viele Straßen in dunkle Grubenwege verwandeln. Und die Autos – Sie wissen so gut wie ich, daß viele Damen nicht wagen, allein in ein Taxicab zu steigen, dessen Firma sie nicht kennen. Warum? Weil ›kidnapping‹ hier an der Tagesordnung ist, weil sie fürchten, verschleppt zu werden, am hellichten Tage. Opiumhöhlen können Sie zu Dutzenden finden – nicht nur in Chinatown – jeder Polizist führt Sie hin. Und Heroin, Kokain, Morphium – was Sie nur wollen – in Hülle und Fülle. Unsere Nigger schlachten in ihrem Hoodookult ihrem Schlangengott ihre Kinder hier so gut wie irgendwo in Haiti! – Und wann findet man in Neuyork je einen Mörder heraus – schwarz oder weiß? Immer einen Ganzen auf ein halbes Hundert! Sklaven haben wir zu vielen Tausenden – lesen Sie doch die letzten Veröffentlichungen über das italienische Padronesystem am Hafen – Sklaven, die viel enger an der Kette liegen, als jemals in den Plantagen der Baumwollmagnaten. Zauberer dazu überall – in jedem Hause fast wohnt eine Pythia, die dummen Damen das Geld wegnimmt. Prostituierte in allen Lokalen und Theatern, auf jeder Straße – weibliche, männliche fast noch mehr – hier können Sie jede infamste Lust kaufen, wenn Sie nur die Dollartasche weit öffnen! Wie im Rom des sechsten Alexander: Mittelalter – wundervollstes Mittelalter! Darüber freilich – und das macht es geschmacklos und nimmt ihm den Patinaglanz der Renaissance – darüber fettige Buttersauce angelsächsischer Heuchelei. Die Mucker und Schleicher, die jedem freien Wort, jeder Annonce in der Zeitung nachjagen, jeden kleinen Händler denunzieren, der ein Damenbildchen verkauft, das ein wenig zu weit ausgeschnitten ist. Die Wassertrinker und Heiligtuer, die Theater und Sport am Sonntag verbieten, die die verlogensten Gesetze schaffen, vorne die Kneipen schließen, um von hinten hineinzugehn. Aber sehn Sie, auch diese Inquisition ist Mittelalter – nur ist sie nicht stark und grausam, wie in Spanien, sondern feige, kleinlich, englisch und gemein. Eins aber ist gewiß: nichts, nichts ist unmöglich in dieser Riesenstadt, diesem unendlichen Mülleimer, in den die ganze Welt ihren Kehricht zusammenfegt.«

Er lachte hell auf. »Wir zwei sind auch drin – Sie und ich. Aber es ist gut, daß man sich manchmal bewußt ist, wo man steckt – damit man hinauskriechen kann, wenn eine Gelegenheit da ist. Sonst verpestet die Seele – und merkt es kaum. Denn sehn Sie, Rossius – man gewöhnt sich dran – ist es nicht so? Und dann fühlt man sich recht wohl in all dem Schlamm und Schmutz.«

Er stand wieder auf, ging zum Fenster, schob es hoch. Wandte sich dann zurück.

»Gift so gut wie alles andere – warum nicht? Schnelles und langsames – ganz nach Belieben. Was die Medici konnten und die Borgia – das können die Neuyorker ganz sicher! Genau so gut wie sie ihre Orgien feiern können, nur im Stil haperts da und im Geschmack.« Er lachte, ging dann auf den Sekretär zu. »Sagen Sie, haben Sie schon mal eine Orgie hier mitgemacht?«

»Ja –« sagte der andere, »was wir so nannten. Mit Bier oder Whisky – mit Mädchen und Singen.«

Frank Braun unterbrach ihn: »Wo sind meine Einladungen? Suchen Sie die heraus von den Monddamen. Die haben ihr Stiftungsfest – ich werde Sie mitnehmen.«

Rossius suchte herum. »Hier sind sie,« sagte er. »Zum Neunzehnten – das war vorgestern.«

»Schade,« sagte Frank Braun, »da ists zu spät. Aber im Spätherbst oder Winter – erinnern Sie mich dran, wenn wir wieder eine Einladung bekommen.«

– »Die Post?« fragte Rossius. »Wollen Sie die Post sehn?«

Er winkte ab. »Nein, jetzt nicht – später. – Sonst irgend etwas?«

Der Sekretär besann sich, griff in seine Brusttasche, zog Papiere heraus. »O, ich vergaß – ich war gestern in der Bibliothek – habe nach dem Heiligen Ambrosius gesucht – das hat Mühe gekostet! Hier ist das Lied, das Sie wünschten – von der Unbefleckten Empfängnis.«

Er reichte ihm einen Zettel. Frank Braun las laut:

»Fit porta Christi pervia,
Referta plena gratia.
Transitque rex, et permanet
Clausa, ut fuit, per saecula.
Genus superni numinis
Processit aula virginis
– Sponsus, redemptor, conditor,
Suae gigas ecclesiae.«

»Das ist schön,« sagte er, »prächtig ist es. Die Vorstellungsstärke dieser Glaubensmänner ist erstaunlich. Wer kann das heute: Abstraktestes so wirklich geben? Diese bildende Kraft – die das Unwahrscheinlichste, Unmöglichste, jedem Menschenverstand Unfaßbare dennoch natürlich und selbstverständlich macht – nur mit dem Klang von ein paar Worten.«

Ernst Rossius sagte: »Ich habe versucht, es zu übersetzen, heute nacht, als ich auf Sie wartete –«

»Lesen Sie,« nickte Frank Braun. Und der Sekretär begann: »Da ward der Jungfrau Schoß zu Christi Tor, So aller Gnaden voll und wunderbar. – Einzog der Herr, der dies Gefäß erkor. Und dennoch blieb verschlossen – wie es war Durch die Jahrhunderte – das reine Tor. – Und blieb verschlossen, als der Gottheit Strahl Sich feierlich zum Lichte rang empor Aus ihres Leibes jungfräulichem Saal – Der Gründer, Heiland, mächtiger Altar Und seiner Kirche süßer Liebster war.«

Frank Braun nahm ihm das Papier aus der Hand. »Nicht schlecht,« sagte er, »nicht schlecht. Aber wissen Sie, daß das – Glossa ist?! ›Transitque rex‹ – da hat Ambrosius sicher wieder Christus gemeint – und Sie bringen uns den Heiligen Geist hinein – oder Gottvater! Immerhin, im Sinne ist es doch echt und ganz sicher ambrosisch. So ists noch stärker, noch gewaltiger: verschlossen bleibt ihres Leibes Tor beim Eintritt der Gottheit, wie bei dem Ausmarsch des Heilandes. Verschlossen, unbefleckt – durch alle Saecula!«

»Danke für die freundliche Anerkennung,« lachte Rossius. »Aber sagen Sie mir doch, Doktor, wozu wollten Sie das Lied eigentlich haben?«

»Und wozu, Ernst Rossius, haben Sie es übersetzt?« gab er zurück. »Nur aus Langeweile? Gewiß nicht! Da stehn Dutzende von Bänden, die Sie interessieren, und die Sie hätten lesen können. Und den Bericht für den Ausschuß, der uns schon seit drei Wochen darum drängt, haben Sie immer noch nicht angefangen. Setzen sich statt dessen hin und quälen sich eine Stunde lang ab, um ein paar christlich-mystische Brocken in einigermaßen erträgliche deutsche Verse zu bringen! – Wozu?«

»Ich weiß nicht –« sagte der andere.

»Nun, ich auch nicht!« rief Frank Brann. »Es ist vermutlich, weil irgendein Gott will, daß wir auch unser Teil beitragen – Sie und ich – an dem mittelalterlichen Hexensabbat dieser Stadt Neuyork. Diese graugoldenen Farben fehlen – da schafft uns das Schicksal an, daß wir sie mischen sollen.«


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