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Ich trinke eine Silvesterbowle.

Fort Oglethorpe, Georgia, U. S. A., 12. 1. 1919.

 

 

Ihre Karte bekam ich, lieber Baron; seit Jahren ein erstes Lebenszeichen. Und Sie sollen auch wieder einmal von mir hören: etwas Lustiges in dieser trostlosen Zeit!

Nie im Leben trinke ich eine Silvesterbowle mehr. Ich hab noch an der letzten genug – die trank ich in der Neujahrsnacht des achtzehner Jahres. In Fort Oglethorpe, Georgia.

Man bekommt wenig zu trinken in Gefangenenlagern. In Europa ging's wohl noch; wenn man da mit einem der Wachsoldaten Freundschaft schloß, so mochte man gelegentlich zu einem Schnaps kommen. Aber hier in Amerika hatten die Kerls, die uns bewachten, ja selbst nichts zu trinken.

Fünftausend deutsche ›Prisoners of War‹ im Lager zu Oglethorpe, ausgedörrte und durstige Kehlen alle – und nichts, um eine vernünftige Silvesterbowle draus zu brauen! Greuliche Zustände!

Einer lief zwischen den Baracken herum, P. O. W. Nr. 1356. Ich weiß nicht, was er sonst im Leben war, aber im Lager braute er Schnaps. Aus selbstgezüchteten Tomaten. Er nannte seine Marke ›Gift‹, lief mit seinem Eimer durch die kotigen Gassen der Holzstadt und brüllte »Jift! Jift!« Nüchtern hab ich ihn nie gesehn – das gehörte zum Geschäft, daß er bei jedem Schnaps, den er verkaufte, selbst einen mittrank. Alle waren seine Kunden; die besten freilich die amerikanischen Wachsoldaten. Und zweifellos verdiente er mit seinem grauenhaften Zeug viel Geld.

Diese Tatsache nun ließ den einäugigen U. S. A. Leutnant Jewett nicht schlafen. Dieser Held war eigentlich Schweinezüchter, aber er hatte mal aushilfsweise als Dicketrommelschläger auf den Philippinen bei einer Militärmusikkapelle gedient; so wurde er, als die Vereinigten Staaten den Krieg erklärten, sogleich zum Leutnant befördert, gehörte nun zum Stabe des Wachkommandos. Mit echt amerikanischem Feldherrntalent hatte er sofort erkannt, daß man – wenn man der einzige Ladeninhaber in einer Stadt von über fünftausend Seelen ist, selbst wenn diese nur Gefangene sind – viel Geld verdienen kann. Also hatte er den kommandierenden Oberst überzeugt, daß man eine Kantine errichten müßte – na, und das war auch geschehn. Da stand der Herr Leutnant hinter dem Ladentisch und verkaufte. Ein prächtiges Geschäft: Miete, Beleuchtung, Personal hatte er umsonst; denn die Gefangenen, die ihm helfen mußten, waren froh, daß sie überhaupt etwas zu tun hatten. Alles konnte man beim Leutnant Jewett kaufen, ein regelrechtes Warenhaus führte er. Seine Preise waren stramm genug, und nur, wenn ihm was liegen blieb, konnte man mit ihm handeln. Doch begriff er wohl, daß das Geschäft noch ganz anders blühen würde, wenn er statt der labbrigen Limonaden und Schwindelbiere ehrliche Alkoholgetränke hätte führen dürfen.

Die Konkurrenz des P. O. W. Nr. 1356 verdroß ihn baß – er empfand es als eine schwere Schädigung des amerikanischen Volkes, daß der erfinderische Deutsche Geld verdienen konnte mit einem Gesöff, das er, der Herr Leutnant, nicht vorrätig hatte. Täglich kaufte er einige Gläser ›Gift‹ und goß sie unter wilden Flüchen herunter.

Das war um die Zeit, als wir den Dr. Karl Muck überredet hatten, uns ein Konzert zu geben. Wir hatten ein gutes Orchester im Lager, die Tsingtaukapelle. Als Tsingtau fiel, war die Kapelle nach Amerika geflohen, hatte dort durch die Kriegsjahre im Lande umhergespielt. Später, als die U. S. A. den Krieg erklärten, hatte man die Musiker gleich eingesperrt: vier Dutzend kriegsgefangene Feinde, die richtige deutsche Soldaten waren! Im Lager spielten sie unter ihrem tüchtigen Kapellmeister Wille; dann hatte Dr. Kunwald, der ausgezeichnete Leiter des Cincinnati-Orchesters, eine Reihe von Konzerten mit ihnen gegeben. Und nun war es uns endlich gelungen, Dr. Muck zu bestimmen, mit ihnen zu spielen. Freilich, diese Militärkapelle war nicht sein ›Boston Symphony Orchester‹; doch glaube ich, daß diesem besten Dirigenten seiner Zeit nie ein Konzert mehr Freude machte als das in der muffigen Meßhalle in Fort Oglethorpe in Georgia.

Erst die Eroica, dann Siegfrieds Rheinfahrt. Und fünftausend Menschen jubelten ihm zu.

Freilich waren die amerikanischen Offiziere da mit ihren Damen, dazu die Honoratioren der benachbarten Stadt Chattanooga – das konnten wir leider nicht verhindern. Und natürlich war auch Leutnant Jewett da – der betrachtete sich als großen Musikkenner und den Dr. Muck als seinen Spezialkollegen, eben weil er ja selbst mal aushilfsweise in Manila die dicke Trommel malträtiert hatte. Und also fühlte er sich berufen, nach dem Konzert dem Dr. Muck seinen besonderen Dank auszusprechen. Kurz und militärisch tat er das, aber es kam von Herzen.

»Gosh, Doc,« sagte er, »to see you conduc' for that crowd of damn double-Dutch-sons-of-bitches – that's like drinking Whisky in a shithouse!«

Und der Dr. Muck konnte dem braven Leutnant nicht mal eine runterhauen; das darf man nicht tun im Gefangenenlager, wenn man sich nicht ganz unliebsamen Unannehmlichkeiten aussetzen will.

Dies Konzert war es, das in dem Warenhausleutnant einen genialen Gedanken loslöste; er sagte mir selber voller Stolz, daß er ihn ganz allein dem ›Genius Beethovens‹ zu verdanken hätte.

Er fuhr also nach Chatanooga – und zwei Tage später bogen sich die Tische seines Ladens unter wunderschönen Flaschen. Drei Marken hatte er mitgebracht: ›Witch Hazel‹, ›Bay Rum‹ und ›Westphals Auxiliator‹.

›Witch Hazel‹ – das ist ein Toilettenwasser: 62 Prozent Alkohol. ›Bay Rum‹, ein Haarwasser, hat 74 Prozent, aber ›Westphals Auxiliator‹, ein Haarwuchsmittel, hat 89 Prozent. Über den Tischen hatte er ein mächtiges Plakat anbringen lassen, darauf stand zu lesen:

Für die Silvesterbowle!

P. O. W. 1356 machte schlechte Geschäfte in diesen Tagen, er mußte sein ›Gift‹ allein saufen und wurde meist schon um Mittag von mitleidigen Menschen im Straßenschlamm aufgelesen und in seiner Baracke in eine Ecke verstaut. Die Matrosen der großen Schiffe machten den ersten Ansturm auf Leutnant Jewetts Batterien; sie hatten meist große Meinung für den 89prozentigen Stoff. Erst als ›Westphals Auxiliator‹ ausverkauft war, griffen die Freunde einer gesunden Bowle zu den andern Flaschen.

Ich war zur Silvesternacht von der Mannschaft der ›Vaterland‹ eingeladen – ›Leviathan‹ heißt das herrliche Schiff heute und hißt die Sterne und Streifen statt der Hapagfahne und der schwarzweißroten Flagge. Ich ging erst gegen elf Uhr in ihre Baracke; aber die Kerls ließen mich nicht in die Ecke, wo hinter einem Vorhang die große Bowle gebraut wurde. Man hatte einen Eimer ›Gift‹ gekauft und trank einstweilen den Tomatenschnaps, um sich würdig vorzubereiten. Drei Wassergläser davon bekam ich zum Willkomm.

Dann spielten wir Schinkenschlagen – ich mußte natürlich mitmachen. Gleich das erstemal, als ich dem Schiffszimmermann auf seine Vier-Buchstaben klatschte, fiel ich herein; der Mann merkte sofort, daß das kein gesunder Seemannschlag war, sondern das sanfte Klapsen einer armseligen Schreiberpfote. Ich war also dran, stellte mich mutig hin und streckte mein Hinterteil in die Luft. Eine nach der andern zerbläuten das die Matrosenpratzen – ich riet immer falsch; denn so echte waterkantige Hände sind von solch durchdringender Schlagkraft, daß einem Hören und Sehn vergeht und man keine Möglichkeit des Nachdenkens mehr hat. Einer aber war dabei, der Klaaßen aus Finkenwärder, den erkannte ich doch. Er hatte Füße wie ein paar Elbkähne, Arme, die über die Knie herunterhingen und in mächtigen Tischplatten endigten, denn Hände konnte man das wirklich nicht mehr nennen. Der Klaaßen also versetzte mir einen so prächtigen und wohlgezielten Schinkenschlag von unten herauf, daß ich hoch durch die Luft flog und auf einem Bett landete. Da brüllte ich: »Klaaßen!« Und dann mußte er sein Hinterteil herhalten.

Viel nützte das freilich nicht – nach zehn Minuten war schon wieder die Reihe an mir. Die Brüder gerbten mir das Fell, daß ich die Englein im Himmel singen hörte. Am liebsten hätte ich losgeheult; aber ich mußte doch so tun, als ob mir Schinkenschlagen das liebste Spiel von der Welt wäre. Ich glaube, die Jungs werden noch ihren Enkelkindern davon erzählen, wie sie, in aller Liebe und Freundschaft, in dieser Silvesternacht einen deutschen Dichter verdroschen.

Endlich wurde ich erlöst: zwölf Uhr schlug es. Der Vorhang wurde zurückgezogen, auf dem gußeisernen Ofen in der Ecke dampfte in einem Rieseneimer die Silvesterbowle. Ich mußte eine Rede halten – na, länger als zwei Minuten hat sie nicht gedauert. Dann bekam ich als Ehrengast den ersten Blechnapf voll, der mir gründlich die Schnauze verbrannte. Ich goß das Zeug herunter – es schmeckte wie Knüppel-auf-den-Kopp! Wie das hochberühmte Haarwuchsmittel ›Westphals Auxiliator‹ äußerlich wirkt, das weiß ich nicht – aber innerlich angewendet, macht es ein wüstes Durcheinander von allem, was man im Bauche hat. Man weiß nicht mehr, ob man ein Männchen oder ein Weibchen ist; man weiß überhaupt nur das eine noch, daß man innen brennt, von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke.

Aber das nützte alles nichts – trinken mußte ich, und stets einen großen Napf voll, bis zur Nagelprobe. Erst auf Deutschland, dann auf die christliche Seefahrt, dann auf die Frauen und Bräute zu Hause – es ist gar nicht zu sagen, auf was nicht alles die Matrosen Trinksprüche ausbrachten.

Keine Ahnung habe ich davon, wie ich eigentlich nach Haus in meine Baracke kam. Aber sehr gut blieben mir die nächsten Tage in Erinnerung: sitzen konnte ich überhaupt nicht mehr und liegen nur auf dem Bauch. Immer glaubte ich, daß irgend etwas in mir platzen müsse, bald der Schädel und bald der Bauch. Dabei hatte kein Mensch Mitleid mit mir, ich hatte nur den einzigen Trost, daß es den andern Menschen in Fort Oglethorpe auch nicht viel besser erging als mir selbst.

Das aber ist gewiß: von Silvesterbowlen habe ich für meinen Lebtag genug, besonders wenn sie mit ›Westphals Auxiliator‹ angemacht sind!


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