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Ich reite im Regenland.

Im Stillen Ozean, an der Salpeterküste.
An Bord S. S. ›Melbourne‹.
16. VI. 19..

 

 

– – Woher kommt es, lieber Baron, daß sich plötzlich für eine Stadt, für ein ganzes Land einem ein festes Gefühl aufdrängt, das man zeitlebens in Gedanken damit verbindet? Ich schrieb Ihnen einmal darüber, vor Jahren, von Quito aus. Ich war nicht eine Viertelstunde dort, als ich fühlte: dies alles ist nicht heute – dies alles ist so, wie es vor einhundertundfünfzig Jahren war. Dieses Empfinden war so stark, daß auch ich in der Äquatorstadt umherlief als ein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts, daß ich gar das Empfinden hatte, als müsse ich meine Briefe datieren: A. D. 1760.

Hier, in Chile, ist's anders. Schon unten in der Magelhaensstraße wuchs in mir ein Gefühl: nun wird etwas geschehn. Aber nicht jetzt – später erst. Ganz sacht, ganz leise, ganz allmählich. Doch es ist nichts Wirkliches, das geschehn soll, kann nichts Wirkliches sein, weil all dies Land und dies Meer und dieser Himmel – weil alles hier ganz unwirklich ist. Die blauen Gletscher, die ins Wasser hineinwachsen, die Bettelindianer, die im Boot ans Schiff fahren, mit Jacken bekleidet, aber ohne Hosen, Männlein wie Weiblein, die Albatrosse, die wie Enten spielen –

Doch all das, schien mir, waren nur Folgen. Wenn die Alpe ins Meer geht, wenn der beste Flieger den plumpsten Schwimmer macht, wenn Menschen, die allem Herkommen nach auf den Mustang in die Pampa gehören, als Familienwohnsitz ein Boot sich wählen, um ein armselig Feuer da herumhocken und auf ein Schiff lauern, um ihre Otterfelle gegen einen Schluck Whisky einzutauschen, so muß da etwas sein, das sie solch Unmögliches tun läßt.

Und dann, plötzlich, ist das Gefühl da: es ist der Regen. Man mag sich lange vorerzählen: das ist ja Unsinn. Was hat der Regen damit zu tun? Gar nichts!

Dennoch empfindet man: es ist der Regen. Der Regen, nichts andres. Natürlich ist es kein gewöhnlicher Regen. Nicht so ein frischer, fröhlicher Klatschregen, der kommt und wieder geht. Der nicht. Es ist ein ganz leichter, ganz dünner Sprühregen, wie ihn die zarteste Dusche mit Nadelstichlöchern nicht feiner geben könnte. Aber er fällt gestern und heute und immer und immer und zu jeder Stunde. Ganz unwirklich ist dieser Regen.

Hinauf nach Corral und in die Holzstadt Valdivia. Eine andre Dusche, größere Löcher; ein wenig wirklicher. Aber auch – immer, immer, ohne jede Unterbrechung. Es bleibt das Gefühl: es wird etwas geschehn.

Valparaiso – Sonne; dahin paßt der Regen nicht, nach Valparaiso. Ich fuhr fort noch am selben Tage, der Sonne zu entfliehn.

Das war gewiß seltsam, lieber Baron.

Denn Sie wissen ja, wie ich die Sonne liebe. In den Tropen, wenn's so heiß ist, daß der Europäer sich auflöst, wie eine Nacktschnecke, auf die Kinder Zucker gestreut haben, da erst hab ich recht wohl mich gefühlt. Dann erst konnte ich am besten arbeiten.

Ich saß im Zuge nach Santiago, ohne es recht zu wissen. Merkte jetzt erst, daß ich die Sonne floh.

Drei Tage in Santiago – Sonne, Sonne. Und der Staub, der alles fingerdick bedeckt. Aber ich blieb – blieb still in meinem Zimmer. Wartete: etwas mußte kommen.

Der Regen kam, am vierten Tage. Genau wie unten im Feuerlande, aus Nadelstichlöchern, fein, leicht, unendlich zart.

Nun fühlte ich klarer: etwas mußte kommen. Aber nicht jetzt – später. Langsam, allmählich.

Ich ging aus. Und ich sah: das ist nicht mehr Wirklichkeit. Das ist nur ein Übergang vom Wirklichen zum Unwirklichen, ist nur da, um das Seltsame, das kommen soll, wahrscheinlicher zu machen.

Durch die Straßen lief ich in feinem Sprühregen. Sehr viele Kirchen und sehr viele Klöster und ringsherum die mächtigen Häuserblocks, die den Kirchen und Klöstern gehören.

Leutnants kommen. Preußische Leutnants, genau wie sie in Berlin Unter den Linden herumlaufen. Einer singt halblaut: »Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion.«

Ich weiß freilich: die chilenische Armee ist uniformiert und gedrillt nach deutschem Muster von deutschen Offizieren. Neugeordnet und festgefügt von General Körner – ich traf ihn im Klub, als ich dasletztemal hier war.

Ich weiß das natürlich. Weiß: wenn ein paar der Leutnants deutsch reden, sind es Deutschchilenen vom Süden, Söhne von Waldbesitzern, Sägemüllern, Holzhändlern – da ist der alte Schmarrn zum Nationallied geworden.

Was nutzt mir dies Wissen? Es ist dennoch ganz unwirklich, daß hier in Chile zwischen Klöstern und Kirchen preußische Leutnants die ›Holzauktion‹ singen.

Leutnants gehn zur Straßenbahn. Weiblichen Geschlechts der Schaffner. Dunkelhäutige Indianerin, Strohhut, weiße Schürze. Und natürlich die Zigarette zwischen den blanken Zähnen.

Santiago del Nuevo Estremo – schade, daß man den Namen vergaß, den Don Pedro de Valdivia dieser Stadt gab, die er gründete.

Feinster Sprühregen. Indianische Straßenbahnschaffnerinnen. Preußische Leutnants –

Ich kam am Museum vorbei, ging nicht hinein. Deutsche Gelehrte, die beiden Philippis, haben's gemacht, in strenger Lebensarbeit. Nun ist es ein echtes, rechtes Museum von Rang, bildend, belehrend und all das. Aber ich möchte, es wäre heute noch so, wie es Philippi, der Vater vorfand, als er herkam. Ein Raum voll alten Gerümpels. Zerbrochene Töpfe aus Araukanerland, spanische Radsporen aus Silber, grün seit Menschenaltern. Ein ausgestopfter Ameisenbär, dem der Schwanz fehlt; eines Gürteltieres zerbrochener Riesenpanzer; ein paar Rebhühner, längst federlos. Das Modell einer Dampfmaschine mit zerbrochenen Rädern; eine Schmetterlingssammlung, von den Ameisen zerfressen. Und alles dick verklebt von der Jahre Staub und dennoch – so alle zehn Monate einmal – dem einsamen Besucher ehrfürchtig gezeigt von dem uralten Kustos: »Museo Nacional.« So sollte es heute noch sein – und der feine Sprühregen draußen!

Nicht Wissenschaft. Aber ein Gedicht.

* * *

Wir ritten hinaus nach einem Städtchen – ich vergaß den Namen. Es war ein großer Festtag – und ich weiß nicht, welcher. Flaggen durch die Gassen, die hübschen Damitas an den Fenstern. Gauchos ritten durch – riesige Rundhüte und die Sporenräder kaum kleiner – in bunten Ponchos. In den Zelten überall Tanzmusik; stets ein Klavier, auf dem ein altes Indianerweib herumtrommelt, während ein andres auf einem Xylophon hackt und ein drittes ein seltsames Krächzen von sich gibt. Die Cueca tanzen sie, ernst, melancholisch, wie der Regen, der immer und immer sprüht. Sie schwingen ihr Taschentuch, jeder Bursch und jedes Mädel – laufen umeinander herum. Dann kauft er zwei Glas Bier – Anwandter-Bier aus Valdivia – am Schenktisch, reicht ihr eins. Sie nimmt es, leert es, gibt es zurück, ohne ein Wort, ohne einen Blick. Und tanzen wieder. Sie sind sehr ernst und sehr feierlich, die Indianerkinder.

Aber sie tanzen und trinken und trinken und tanzen den ganzen Tag durch und die ganze Nacht. Dann endlich kocht es in den Adern dieser seltsamen Puppen. Kein Blut freilich – Alkohol nur. Nun schrein sie, greifen zu den Navajas.

Ich saß mit den Leutnants da, spielte ›Siebeneinhalb‹. Ein greuliches Spiel. Aber der alte chilenische Wein war sehr gut. Urmeneta heißt er.

* * *

Zum Abend ging ich hinaus in den Regen. Wollte eigentlich nach den Pferden sehn, hatte so ein Gefühl: etwas wartet auf mich in Santiago. Ich strich durch die Avenida, ganz langsam, barhäuptig: genoß mit unsäglichem Entzücken diesen feinen Regen. Ich dachte: ›Jetzt mußt du in das dritte Tanzzelt gehn. Oder nein doch – in das nächste. Oder wieder in das nächste: etwas ist da, das auf dich wartet.‹

Ich trat in das Zelt. Klavier, Holzbrettchen, Krächzen – drei Indianerweiber. Und die Zamacueca – taschentuchschwingende Paare, todernst. An einem Tische saß eine Gesellschaft, Kavaliere aus Santiago mit ihren Damen. Sie stritten; es war besonders eine Damita, die erregt schien. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehn, da sie mir den Rücken kehrte. Die andern versuchten sie zu beruhigen, aber diese Schlanke wollte nicht hören. Sie sprach reinstes Kastilianisch, ohne den kleinsten kolonialen Klang. Sie habe genug, rief sie, und sie gehe nun, gehe gleich, gehe sofort –

Sie stand auf, kam durch die Menge. Einen Augenblick drauf stand sie vor mir; ich trat zur Seite, um ihr den Ausgang zur Straße frei zu machen. Von dem Tische hörte ich einen der Herrn seinem Freunde zurufen: »Bleib nur, Alfonso; kein Mensch mag Dolores halten, wenn sie fort will!«

Sie schritt an mir vorbei, und ich sah sie gut. Sie war doch Chilenin, trotz ihrer Sprache von Madrid. Hochmütig in Gang und Blick: gewiß eine Señora. Irgendeines Großgrundbesitzers Tochter.

Draußen im Regen blieb sie stehn, unschlüssig. Wandte sich, blickte mich an. Kam zurück, deutete auf die Gerte, die ich in der Hand hielt:

»Caballero,« fragte sie, »haben Sie ein Pferd da?«

Ich nickte. »Wo steht es?« fragte sie. »Leiht es mir: ich will zurück nach Santiago.«

Ich nickte wieder, reichte ihr die Gerte. Schweigend schritten wir über die Gassen. Sie hüllte den Kopf eng in ihr Tuch.

Ich zog mein Pferd aus dem Stall, hob sie hinauf. Rittlings saß sie.

Dann, ein zweitesmal, traf mich ihr Blick. Sehr langsam sprach sie: »Im Hotel Oddo? Nicht wahr, Caballero?«

Wieder nickte ich. Natürlich sah sie, daß ich ein Fremder war. Und wo hätte ich sonst wohnen sollen?

Dann schwang sie die Gerte, warf den Gaul in Galopp. Jagte durch den Regen.

Ich empfand garnicht das Komische. Diese schlanke Frau – im englischen Ledersattel im Herrnsitz. Stöckelschuhe, dünne, seidene Strümpfchen, die Röcke hochgestreift, ein Stückchen weißes Fleisch über den Knien. Zierliche Spitzenhöschen –

Aber ich lächelte nicht einmal. So unwirklich war das alles. Wann ritt je eine chilenische Dame so nach Santiago hinein?

Mein Pferd war ich los. Mußte mit der Bahn fahren. Eine halbe Stunde nur; aber eingepfercht zwischen Menschenleibern, daß man kein Glied mehr rühren konnte. Und die Nase büßte für der Augen Dummheiten.

* * *

Eine Woche lang hörte ich nichts von der schönen Frau. Auch mein Pferd sah ich nicht wieder. Ich lief durch den Regen die Tage lang. Man sollte glauben, ganz Santiago sei in tiefer Trauer: alle Damen in schwarzem Schleier oder schwarzem Manton. Ich schaute nach jeder und lief vielen nach in viele Kirchen und Kapellen. Aber ich fand sie nicht.

* * *

Dann gab mir der Portier ein Briefchen. Ich las: »Caballero! Lota, Parque Cousiño. Mittwoch, nachmittags sechs Uhr.«

Ein »D« darunter.

* * *

Mittwoch – das war noch Tage hin. Ich fuhr nach Concepcion, fuhr dann nach Lota. Und dieser feine, wunderbare Regen begleitete mich. Ich wartete auf diesen Mittwoch – und dies Warten empfand ich unendlich süß. Ich hätte wochenlang so warten mögen.

Dann war ich in dem herrlichen Park; keinen schönern kenn ich in Südamerika. Im Regen, wie immer, und ganz allein. Ich schritt durch die Wege, weiter und weiter. Ich suchte sie nicht. Es war mir, als ob dieses Wandeln im Regen schon höchste Erfüllung sei.

Die Dämmerung kam. Langsam ging ich weiter. Steinbilder zwischen dem Laub – aber nicht ein Laut. Allein, in tiefster Einsamkeit war ich.

Da wuchs vor mir ein mächtiges Haus – ein Schloß fast. Ein großer Garten ringsum, mitten im Park. Aber nirgends ein Licht in den Fenstern.

Ich suchte ein Tor im Gitter, fand es verschlossen. Doch keine Schelle; so mußte ich hinüberklettern. Und ich sah bald, als ich zum Hause kam: unbewohnt war es. Überall Holzplanken vor den untern Teilen der Türen und Fenster.

Rings um das große Haus ging ich – dachte: irgendwo mußt du hineinkommen. Ich sah ein Fenster, das lose schien. Riß die Planken ab, stieß es auf, stieg hinein. Völlig leer war das Zimmer.

Ich mußte mich eilen, ehe es allzu dunkel wurde. Weit offen standen alle Türen; ich lief durch die Räume, oben und unten. Nichts. Ein altes Sofa in einem Zimmer; der Brokat hing in Fetzen herunter. Ein paar dreibeinige Stühle in einem andern; dann wieder ein riesiger, schwarzer Eichentisch. Zum Dach stieg ich hinauf und hinab zum Keller.

Nichts. Leer, öde, still. Nur mein eigner Schritt hallte in den weiten Räumen. Und ich fühlte wohl: niemand war hier durchgegangen in langen Jahren.

Nun war es dunkel. Ich mußte Streichhölzchen anzünden, um mich zurechtzufinden. Fand endlich mein Fenster, sprang in den Garten.

So schwarz war es ringsum, daß ich nichts mehr sah. Doch wußte ich: ich muß herum um das öde Haus, um das Gittertor wiederzufinden.

Da sah ich, hinten, ein Licht. Ich ging darauf zu, fand mich nun zurecht. Das Licht mußte grade beim Tore brennen. Und ich hörte von dorther das ungeduldige Wiehern eines Pferdes.

Weit offen stand das Tor. Dabei, angehalftert am Gitter, mein Pferd. Eine Pechfackel, rot schwälend, stak in einem Eisenring an dem Steinpfeiler.

Ich riß die Fackel hoch – kein lebend Wesen war da. Nur ich – und meine Stute. Sie schnupperte, erkannte mich, schob die Schnauze liebkosend über meine Schulter. Ich löste die Halfter, griff den Sattelriemen. Da hing am Steigbügel ein großer Strauß tiefblauer Veilchen. Angebunden mit einem Spitzentüchlein. Und ich las den Buchstaben »D«.

Die Stute kannte die Wege im weiten Parque Cousiño. In langsamem Schritte ging sie, trug mich hindurch. Die Zügel lagen ihr lose auf der Mähne. Mit beiden Händen hob ich den Veilchenstrauß. Trank den Duft dieser großen, blauen Veilchen. Ritt durch den feinen, süßen Regen. Der Regen sang: »Dolores, Dolores –«

Und das war es: ich war garnicht enttäuscht. So mußte es sein, und so war es viel schöner als irgend etwas, das hätte geschehn mögen zwischen mir und dieser Frau.

Nein, nein, nichts Wirkliches durfte geschehn. Nichts, nichts durfte den Zauber zerreißen, diesen süßen Zauber des Unwirklichen, den der Regen spann.

Tausend Tröpfchen, unendlich weich und gut.

* * *

Nun bin ich wieder an Bord. Mein Erlebnis ist noch nicht zwei Tage alt. Doch deucht mich nun, daß es zwanzig Jahre und mehr schon zurückläge. Eine alte Dame ist nun Dolores – –

Und wie schön, daß sie nie zur Wirklichkeit wurde!


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