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Von Heiligen Kanonen.

Buitenzorg, Hotel Bellevue, 6. IV. 19..

 

 

Nein, lieber Herr v. S., ich kann nicht mehr ›Ich‹ schreiben, es geht einfach nicht! Sagt je ein Kind ›Ich‹? In der dritten Person spricht es von sich: ›Peter keine Suppe essen!‹ Oder: ›Tante kommt heut nicht – da braucht sich Lieschen den Hals nicht zu waschen!‹ Nur mit schweren Erziehungskünsten treiben Eltern und Lehrer dies natürliche Empfinden aus des Kindes Seele!

Himmel, wie unkünstlerisch ist dies ewige ›Ich‹! Alles, was ein Dichter schreibt, ist ja nur: ›Ich! Ich! Ich!‹ Immer steckt er selbst in all seinen Figuren – wenn sie überhaupt eine Seele haben, haben sie seine Seele! Und nun soll man dies widerlich Persönliche noch mehr unterstreichen, indem man die Ichform wählt, bloß weil sie in Briefen nun einmal vorgeschrieben ist?!

Aber diese Schreiben an Sie, lieber Baron, sind kaum Briefe zu nennen. Und darum erlauben Sie mir, mich, zuweilen wenigstens, in die Anonymität des ›Er‹ zurückzuziehn, wie es das Kind tut. So viel freier ist man dabei: man ist der, dem's passiert, o ja – und ist es doch wieder nicht!

Er kaufte ein Pony; ritt durch das Land ringsum. Über die Hängebrücke, die über den Tjiliwong führt, zu der Hütte, die ›Batu Tulis‹ birgt, den heiligen Stein. Er starrte ihn an, begriff keinen Buchstaben der merkwürdigen Schriftzeichen in alter Sundasprache. Nun gut, die Chinesen und Malaien, die dem Stein Verehrung erwiesen, verstanden nicht mehr davon.

Oder er ging, durch die Eingeborenenstadt, zum Botanischen Garten, dem schönsten der Welt. Und weiter, durch die Gärten des Statthalters; fütterte die Rehe und Hirsche. Am Gouverneurspalast vorbei, durch die vornehme Poststraße, wo die Villen der Europäer liegen.

Oder lag auf der Terrasse seines Hotels, trank Whisky-Soda, den ihm sein javanischer Boy mischte. Schaute hinaus auf das herrliche Tal, weit hinaus auf die fünf Zacken des Salak. Lauschte auf das ferne Rauschen der beiden Flüsse, die zum Meer brausen, tief unten, Hunderte von Fuß tief das Hochland von Buitenzorg umkreisen. Tjiliwong und Tjidani –

Dachte an das braune Mädchen mit den Durianfrüchten.

* * *

Der dicke van Straaten kam auf die Terrasse, machte ihm Vorschläge, wohin man reisen solle; er war Handlungsreisender und hatte gern Gesellschaft. Der Deutsche war mit ihm durch halb Java geritten, in die verlorensten Löcher – manchmal war's der Mühe wert und manchmal garnicht.

»Nein, danke«, sagte er; »reiten Sie allein diesmal. Ich habe noch genug von Bantam.«

Bantam – wer fährt nach Bantam? Vor ein paar Jahrhunderten, ja, als man da Pfeffer einlud. Bantam, dies scheußliche Loch an der Westküste, wo man sich höchstens ein Fieber holen konnte. Nicht einmal die Zwerghühner gibt's dort – aus Japan kommen die, und kein Mensch weiß, warum sie eigentlich Bantamhühner heißen.

Nur – eine alte Kanone liegt da herum. Heilig ist sie und wird natürlich verehrt; alles, was nicht fortlaufen kann, wird verehrt von den Menschen auf Insulinde, ganz gleich, ob es Malaien, Javaner, Chinesen oder Sundaleute sind. Viele Völker gibt's auf den Inseln, und alle verehren alles.

Die alte Kanone gefiel dem Deutschen; gern hätte er sie mitgenommen. Auf Haiti, vor Jahren, hatte er einem Niggergeneral einmal die Kanone seiner Festung für ein paar Golddollar abgekauft, sie dann doch stehn lassen – was sollte er anfangen mit dieser dummen Kanone?

Aber der Kanonenlauf in Bantam, sechzehn Fuß lang, war anders. Eine Hand war darauf mit ausgestrecktem Daumen, Chrysanthemen dazu: das war eine gute, sehr alte chinesische Kanone. Wenn er nur gewußt hätte, wie er sie bekommen könnte. Kaufen? Wem gehörte sie denn überhaupt?

Gott ja, man konnte sie stehlen! Es hatte einen großen Eindruck auf ihn gemacht, als er noch auf der Schulbank saß, wie man das alte Kanonenboot vom Rhein stahl. Das lag durch Jahrzehnte still am Deutschen Eck, da, wo die Mosel mündet. Kein Mensch bekümmerte sich darum, ob es gleich Königlich-Preußisch war und jetzt zur Kaiserlichen Marine gehörte. Nur zum Kaisergeburtstag ließ der Festungskommandant vom Maste die Kreuzflagge wehn.

Dann, eines Tages, kamen ein paar brave Holländer, die arbeiteten mächtig herum auf dem alten Kasten. Reinigten, schrubbten, strichen an, brachten die verrostete Maschine in Ordnung. Jedermann in Koblenz sah zu; jedermann freute sich, daß das alte Kriegsschiff mal wieder ein bißchen umherfahren sollte. Und einmal fuhr es wirklich ab – die lieben Holländer hißten das deutsche Marinetuch und fuhren den Rhein hinunter. Am hellen Tage, tapfer und gottesfürchtig. Kamen in's Niederland, verkauften den kaiserlichen Kahn als altes Eisen.

War es nicht nett, wenn er dafür den Holländern auch einen Streich spielen konnte? Er hätte wirklich sehr gern diese Chinesenkanone gestohlen. Nur: wie konnte er sie wegschaffen? So ein Ding ist verdammt schwer – und dazu kam, daß da immer Sundanesen umherlungerten, die der alten Kanone göttliche Verehrung erwiesen. Es ist stets mißlich, heilige Sachen zu stehlen; das hatte er schon einmal erfahren – in Tirol.

Das alte Kanonenboot schwamm von selber den Rhein hinunter. Freilich, man sagte, daß die Chinesenkanone in Bantam auch schwimmen konnte. Sie ist nämlich verheiratet und liebt ihren Mann sehr: der ist natürlich auch eine Kanone und liegt in Batavia. Du mein Gott – die Liebe bringt eben alles fertig!

* * *

»Keine Durianfrüchte?« fragte van Straaten. »Und wo ist Ihr kleines Malaienmädel?«

»Hab sie nicht gesehn heute«, antwortete der Deutsche. »Gestern auch nicht – sie wird zurück sein nach Batavia.«

Er fügte hinzu: »Zu ihrer Kanone vermutlich!«

Denn da hatte er Hatidja gefunden, bei der Mann-Kanone in Batavia. Die heißt ›Si Jagur‹; aber die Leute nennen sie nur den Großvater: ›Kiaki Satome‹. Sie ist sehr heilig natürlich und wird verehrt wie ihre Frau in Bantam – nur daß hier in Batavia Chinesen und Malaien Blumen und Papierschirmchen über sie streuen und nicht Sundanesen. Altchinesisch ist sie, wie die andre, zeigt eine geschlossene Hand mit aufgerecktem Daumen und Chrysanthemen dazu. Freilich hat dann später ein schlauer Holländer eine lateinische Inschrift auf das Bronzeband geschnitten, die heißt: »Ex me ipsa renata sum«. Keiner der Gläubigen versteht das, aber wenn sie es lesen könnten, würde ihnen die Mystik gewiß gefallen: »Aus mir selbst ward ich geboren«. Freilich mit dem ›Renata‹ würde man wohl kaum einverstanden sein. Ist denn diese Kanone eine Frau? So dumm kann nur ein Europäer sein! Ein Mann ist sie, das weiß doch jeder!

Den Si Jagur hätte der Deutsche auch gern gestohlen; aber das ist noch schwerer, als seine Frau aus Bantam wegzuholen. Tag und Nacht bewachen ein paar Eingeborene den heiligen Großvater. Nicht, weil sie glauben, daß man ihn stehlen könne – wer würde das wagen? Aber – vielleicht kann er weglaufen.

So sagt die alte Weissagung: wenn die beiden Kanonen zusammenkommen, wenn die Frau aus Bantam mit dem Mann aus Batavia sich vereinigt, dann ist das Ende der Welt da. Schon einmal war es beinahe so weit. Da lief die Bantamkanone zum Ufer, schwamm sehnsuchtsvoll durch das Inselmeer, um den geliebten Gatten aufzusuchen. Gottseidank brachen ein paar Orlogschiffe auf, fischten die Schwimmerin auf und holten sie zurück nach Bantam. So wurde das Schlimmste verhütet.

Bei der batavischen Kanone, unter großen schattenden Bäumen, stand der Deutsche. Da lachten ihn weiße Zähne an; ein Malaienmädchen stand neben ihm, streute Tempelblüten und bunte Papierschirmchen auf Kiaki Satome, den Großvater. Er nickte ihr zu, ging dann weiter durch das mächtige Pinangtor. Als er zum Stadthaus kam, hatte er das Empfinden, als ob ihm jemand folge; er wandte sich um – wirklich, dahinten kam die kleine Braune. Da ging er zurück, über den ›Pasar Ikar‹, den Fischmarkt; immer kam sie nach, lächelte immer, ließ die schwarzen Augen nicht von ihm. Dennoch schien ihm, als ob etwas Wehmütiges um sie sei – irgendeine große Sehnsucht. Und sie kam nicht näher, blieb weit hinter ihm, fünfzig Schritte und mehr.

Tags darauf glaubte er sie vor seinem Hotel zu sehn, draußen in Weltevreden; dann wieder vor dem Deutschen Klub. Aber vielleicht irrte er sich, vielleicht war es ein andres Mädel; man mußte schon länger im Lande sein, um die Gesichter der Eingeborenen mit Sicherheit unterscheiden zu können.

Doch war es gewiß, daß er sie in Jakarta traf. Er fuhr mit der Tram hinaus, durch die Vororte, besuchte das Grab des alten Zwaardecroon, der im achtzehnten Jahrhundert hier Statthalter war. Wie er aus der Barockkirche herauskam, stand sie da, schaute ihn an, lächelte. Folgte ihm, als er zu dem Stück Mauer ging, das eine Lanze mit aufgespießtem Schädel krönt.

Das ist die Richtstätte Peter Erbervelds, der einmal Kaiser von Insulinde werden wollte, zu der Zeit, als Zwaardecroon hier für die Oranier herrschte. Ein Liplap war er, ein Halbblut, der einen großen Aufstand machte, zwanzigtausend Mann auf die Beine brachte und jeden abschlachten wollte, dem Niederlands Blut in den Adern floß. Es erging ihm schlecht: mit fünfzig andern wurde er hingerichtet. Sein Haus riß man nieder, ließ nur einen kleinen Teil der Mauer stehn. Die Tafel darauf berichtet in Holländisch und Malaiisch von des Rebellen Schicksal, verbietet für ewige Zeit das Bebauen dieses Platzes.

Der Deutsche las die Inschrift, starrte auf Peter Erbervelds Schädel. Der sieht aus, als ob er einem Riesen gehöre, wirkt doppelt so groß wie der eines andern Menschen; das kommt daher, weil man ihn immer von neuem anstreicht, eine Farbenschicht auf die andre setzt.

Wie er sich wandte, sah er das Malaienmädchen, lächelnd zu ihm hinschauend. Er ging auf sie zu – da wich sie zurück, floh vor ihm.

* * *

Dann, als er kaum zwei Tage oben in Buitenzorg war, stand sie plötzlich vor ihm auf der Terrasse des Bellevue-Hotels. Bot ihm Durianfrüchte zum Kauf an.

Sie schlug die Augen nieder, wünschte ihm, leise flüsternd, einen guten Tag: »Tabeh Tuwan!«

Kennt ihr Durianfrüchte? Sie wachsen auf dem Zibetbaum – man sollte sie eigentlich Zibetfrüchte nennen. Und die Zibetkatzen sind so verrückt nach ihnen wie unsere Kater nach Baldrian. So eine Frucht ist groß wie ein Menschenkopf, schön sieht sie nicht grade aus; die Schale ist rauh und zäh und rings mit Stacheln besetzt. Dabei stinkt sie wie verfaulte Zwiebeln und Mainzer Käse – man kann sie wirklich nur im Freien essen.

Aber das alles ist äußerer Schein – die Zibetkatzen sind schlaue Tiere und wissen ganz genau, was gut schmeckt. Keine Frucht und kein Fleisch, kein Kaviar und keine Auster kann sich der Durian an Wohlgeschmack vergleichen – man ißt und ißt und möchte nie aufhören. Das Fleisch ist weich und ein wenig klebrig, es schmeckt nach Rahm und nach Mandeln, mit ein wenig Sherry dazu. Und darüber schwebt, ganz leicht und pikant, ein leiser Zwiebelgeschmack.

Durianfrüchte bot ihm das braune Mädchen, half ihm, sie aufzuschneiden, lächelte und schaute ihn an.

Der Deutsche wußte nun: sie war ihm nachgekommen, hier hinauf in die Berge von Buitenzorg. Er sagte es ihr und sie nickte. Dann stand er auf, winkte ihr; ging in sein Zimmer. Und sie folgte ihm.

* * *

Das ging zwei Wochen und mehr; jeden Tag zur Siestazeit kam die schlanke Hatidja. Voller nun klang ihr stiller Gruß: »Tabeh Tuwanku jang kekazi – guten Tag, mein eigner und edler Herr, den ich liebe.«

Sie verkaufte Durianfrüchte den Gästen des Hotels, schlich auf sein Zimmer, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Jeder wußte das, aber keiner sagte ein Wort; nicht einmal van Straaten machte Bemerkungen.

Dann blieb sie weg; plötzlich, wie sie gekommen war.

* * *

Van Straaten nahm das Glas, das ihm der Boy reichte, trank seinen Whisky. Nickte bedächtig, lachte breit und gutmütig.

»Also zurück nach Batavia?« sagte er. »Dann ist ja alles in bester Ordnung. Sie haben recht. Hatidja wird jetzt beim Kanonenrohr knien, Blumen streuen und Papierschirmchen, sich zu bedanken. Und bald wird Kiaki Satome, der Kanonengroßvater, in noch größerer Gunst stehn bei allen Eingeborenen, Malaien wie Chinesen, Sundanesen und Javanern!«

»Was ist in Ordnung?« fragte der Deutsche. »Und warum soll sich Hatidja bei der Kanone bedanken?«

»Warum?« lachte der Handlungsreisende. »Weil die ihr geholfen hat, die gute alte Kanone! Weil sie wieder mal ein heiliges Werk getan und zu diesem Zweck der schlanken Hatidja solch liebenswürdigen Helfer geschickt hat: Sie, lieber Doktor!«

Der Deutsche zuckte die Achseln. »Nicht ein Wort verstehe ich«, sagte er.

»So muß ich Ihre Kenntnisse erweitern«, lachte der Holländer. »Was steht herum um Si Jagur, die alte Kanone? Was streut Papierschirmchen und bunte Blumen? Männer? O nein – oder doch nur, um ihrer Frauen fromme Wünsche zu unterstützen. Meist jedoch besteht die Gemeinde der Großvaterkanone aus weiblichen Wesen. Und, verstehn Sie wohl, Mädchen sind nicht dabei – nur Frauen sind es. Frauen eigner Art – solche, die keine Kinder haben. Und darum eben flehn sie: Lieber, alter Kiaki Satome, betrachte wohlgefällig die hübschen Geschenke und mache, bitte, bitte, unsern Leib fruchtbar! Manchmal hilft Si Jagur – und der süßen, kleinen Hatidja hat er gewiß gut geholfen. Er hat ihr den Rat gegeben: Siehst du den blonden Fremden da? Geh zu ihm; verkaufe ihm Durianfrüchte!«

Der Deutsche lachte auf, aber sein Lachen brach in der Mitte.

»Dann also«, begann er langsam, »dann wäre ich –«

Van Straaten unterbrach ihn: »Das Werkzeug, dessen sich die Kanone der göttlichen Vorsehung bedient hat!« nickte er. »Hoffentlich war Ihnen Ihre heilige Mühewaltung nicht allzu beschwerlich, was? Hatidja wird nun bald eines hellen Kindleins genesen – trinken wir auf einen Jungen! Dann ist sie glücklich und ihr Ehegatte nicht minder. Auch Kiaki Satome ist zufrieden, und so ist alles in bester Ordnung.«

Er reichte dem Boy sein Glas, ließ sich noch einen Highball mischen.

»Und da hier Ihre Sendung nun erfüllt ist, lieber Dokter, wollen Sie mit mir nach Surakarta reiten? Da liegt ebenfalls so eine Kanone: ›Njai Satome‹ heißt sie, die Großmutter, das ist auch eine Frau von Si Jagur – vielleicht wird Ihnen die ein neues Abenteuerchen vermitteln.«

»Eine nette Moral herrscht auf dieser Insel!« rief der Deutsche. »Bei den Menschen wie bei den Kanonen!«

»Finden Sie?« fragte der Holländer. »Schließlich: Moral ist eine Angelegenheit der Geographie!«


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