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Die Drei im Turm.

Wien, 18. I. 1914.

 

 

Mein lieber Herr v. S., Sie haben ja, so gut wie ich, in Ihrer Zeitung von dem Unterseeboot gelesen, das im Kieler Hafen unterging. Ich schneide die Notiz aus und lege sie bei:

» U 3 untergegangen!

Kiel, 17. Januar.

In der Heikendorfer Bucht des Kieler Hafens sank heute das Unterseeboot U 3 beim Übungstauchen. Es kamen ums Leben: Kapitänleutnant Ludwig Fischer, Leutnant z. S. Kalbe, Torpedo-Unteroffizier Rieper.«

Von Einzelheiten weiß man noch nichts, man wird sie morgen früh erfahren. Wie sie auch sein mögen, sie sind mir gleichgiltig. Dies Unterseeboot ist das erste deutsche, das so absackt – aber gewiß nicht das letzte.

 

Ich war nicht dabei. Dennoch hab ich's miterlebt, wie es zuging in dem engen Schiffsbauch, unten auf dem Grunde der See.

Ich weiß nicht, ob es so war – aber ich weiß: so hätte es wohl sein können. Das Wasser drang in das Hinterschiff und aus dem Turme kam ein rascher kräftiger Befehl:

»Schotten dicht!«

Das war das letzte Wort, das drei Helden hinausschickten in die Welt, der letzte, stolze Gruß an das Leben.

Das Wort, das den Tod von drei Tapfern besiegelte, und das zugleich fünfundzwanzig andern das Leben gab.

Das Schiff sank, legte sich zur Seite. Die drei Männer im Turm hielten sich am Rad, griffen an die Steigeisen der eisernen Wände, fielen, stolperten übereinander. Und das Licht erlosch.

Der Kommandant, der Leutnant und sein Rudermaat.

Der Kommandant fluchte. Sein Leutnant sagte: ›Pardon!‹, weil er glaubte, den Vorgesetzten getreten zu haben. Der Matrose schwieg und rieb sich das zerstoßene Schienbein.

»Wir müssen zum Bootsraum«, sagte der Kapitän.

Sie zündeten ein Streichholz an, suchten die Tür. Sie rissen hart an der Klinke. Aber die stählernen Platten rührten sich nicht.

»Wir müssen sie öffnen«, sagte der Kapitän.

Und sie arbeiteten. Mit Händen und Füßen, mit Messern und allen Instrumenten, die zur Hand waren. Stundenlang – vergebens. Sie hätten ebensogut versuchen können, ein Loch durch die Schiffswand zu kratzen.

Sie gaben es auf, saßen still da und warteten. Nur der Matrose arbeitete weiter.

»Gib's auf, Junge«, sagte der Kommandant. »Du schwitzest und verbrauchst zuviel Sauerstoff.«

»Zu Befehl, Herr Kapitänleutnant!« Der Matrose verstand ihn nicht, aber er gehorchte.

Die drei saßen und warteten. Sie lauschten, lauschten auf ein Geräusch von draußen her. Von draußen her – von der Welt – –

Und sie hörten nichts.

Eine Stunde verrann. Noch eine. Und wieder eine.

Sie hörten nichts, aber sie spürten wohl eine Bewegung. Langsam hoben sich die Wände des Turmes, richteten sich allmählich auf.

Da leuchteten ihre Augen.

»Sie sind heran!« rief der Leutnant. »Sie heben uns!«

Und sie warteten weiter voll froher Hoffnung.

Nichts kam, garnichts. Sie blieben allein in ihrem eisernen Grabe. Ob man versuchen sollte, ein Zeichen zu geben? Wie denn nur?

»Vielleicht,« sagte der Kommandant, »vielleicht ist es das beste, sich vorzubereiten. Es wird voraussichtlich ganz überflüssig sein – ich meine nur so für alle Fälle.«

Er zog sein Taschenbuch heraus und den Füllfederhalter. Er riß ein paar Seiten heraus und gab sie den andern.

So schrieben sie – schrieben an die, die sie liebhatten in dieser Welt. Der Kapitän dachte an den japanischen Offizier, der vor Jahresfrist unterging in seinem Unterseeboot. Der hatte in diesen letzten Stunden eine Art Tagebuch geführt – denn zu langen Tagen wurden ihm die Stunden und Minuten.

Der Matrose summte. Dann bat er: »Darf ich singen?«

»Ja« sagte der Kommandant. »Aber nicht zu laut!«

Und der Mann von der Waterkant sang leise sein Lied. Natürlich: ›Teure Heimat‹.

»Sei – gegrüßt in wei–ter Fer–ne, teure Hei–mat sei ge–grüßt.«

»Nun, so sehr weit ist die Heimat nicht«, sagte der Kommandant. »Wir sind mitten im Hafen. Kaum ein paar hundert Bootslängen –« Er lachte bitter. Dann fuhr er fort: »Was brummen Sie da, Leutnant?«

»Es sind ein paar Zeilen von Heine – zu Befehl, Herr Kapitänleutnant.«

»So sagen Sie es doch laut, daß wir auch Freude dran haben!« befahl der Kapitän.

Da deklamierte der Leutnant:

»Sie seufzten viel – sie weinten noch mehr,
Sie drückten sich schweigend die Hände,
Sie lachten manchmal – sie sangen sogar
Und –«

»Nun und –?« fragte der Kommandant.

»Und sie verstummten am Ende.«

Der Kommandant sagte: »Verstummen – ja, wenn's denn nicht anders ist! Auch das Lachen und Singen und Händedrücken will ich Ihnen zugestehn und meinetwegen auch noch das Seufzen! Aber das Weinen, Leutnant, das soll uns keiner nachsagen können! Das müssen wir den andern überlassen!«

»Andern«! wiederholte der Leutnant. »Andern – da oben! Wenn –« Er sprach nicht zu Ende, und keiner antwortete ihm. Sie schwiegen und warteten. Stunden und wieder Stunden vergingen.

Der Kommandant überlegte: wir atmen Sauerstoff ein und atmen Kohlensäure aus. Wir müssen genug Sauerstoff im Raume haben und dürfen nicht zuviel Kohlensäure haben – nicht mehr als sieben Prozent! Sauerstoff haben wir genug für lange Zeit – es ist erst eine frische Bombe geöffnet worden; nach der Richtung also sind wir gesichert. Aber dieses verdammte CO2! Zwei Teile davon auf zehntausend Teile Luft ist das Normale; und erst bei acht Teilen auf hundert müssen wir sterben – erst dann! Nur: ein jeder Atemzug, ein jeder Hauch, den wir tun, bringt uns näher diesem Verderben; seltsam, gerade die stärkste Betätigung des Lebens führt uns dem Tode zu!

Die Hundegrotte bei Neapel fiel ihm ein; Menschen mögen sie ungefährdet betreten; doch sterben alle Hunde, die hineinlaufen. Vergiftet von der Kohlensäure, die über dem Boden schwebt. Und – unwillkürlich – richtete er sich höher auf.

Wie aber stirbt man? Sie würden Kohlensäure einatmen müssen, wie diese Hunde. Und das Gift geht in die Lunge und durch die Lunge ins Blut. Und dann, im Kreislauf, ins verlängerte Hirn, das der Sitz des Atmungszentrums ist, hinein in die Rautengrube, die besonders empfindlich ist für das Gift der Kohlensäure. Dann steht die Atmung still, die Lunge versagt ihren Dienst, asphyktisch wird man. Zwar – das Herz schlägt weiter, noch durch eine halbe, eine, anderthalb Stunden – man mag in dieser Zeit noch zurückgerufen werden ins Leben.

Und er sagte zu den beiden andern: »Es ist durchaus kein Grund, die Hoffnung aufzugeben, selbst – selbst wenn wir ohnmächtig werden sollten. Inzwischen ist das Hebeschiff heran, und man wird uns herausholen und dann wiederbeleben!«

Der Leutnant nickte, aber der Matrose schaute ihn stier an.

»Hast du mich verstanden, Junge?«

Der Rudermaat versuchte, sich stramm zu richten: »Zu Befehl, Herr Kapitänleutnant!«

Und wieder Schweigen und Warten. Durch stille, unendliche Stunden.

Sie lagen da in dieser eisigen Ruhe. Der Leutnant dachte: es ist, als ob wir schon tot wären seit Ewigkeiten.

Sie schliefen halb, und sie wußten nicht, ob es durch Stunden geschah oder Sekunden. Dann wachten sie auf – klappernd vor Frost. Rieben sich die Glieder – fielen wieder zurück.

Ein wirres Träumen kam über sie.

Es war, als ob nun nicht drei mehr dächten in diesem engen Turm. Nicht drei Hirne mehr, sondern nur eines. Darin wucherten in endlosem Wachsen lange Ranken wildverschlungener Gedanken.

Die Mutter und die Heimat und die Liebste. Und blauer Himmel und Sonnenschein.

– – Sie beißen die Zähne aufeinander und verkrampfen die Hände. Sie wachen auf, auf einen Augenblick, fühlen, wie Wahnsinn in ihnen hochsteigt, Instinkt des Tieres, das alles zerfleischt in dem entsetzlichen Kampf ums Dasein. Und sie haben Angst, fürchten sich nicht vor den andern, aber vor dem, was sie selbst – vielleicht! – tun könnten.

Und endlich, in qualvollen, schrecklichem Kampfe, siegt dennoch der Mensch. Ein jeder fühlt, daß er sich retten könnte, daß er weiterleben könnte, durch viele gute Jahre. Und jeder wirft dieses Leben weg – ohne ein Wort, still, einfach, um der beiden andern willen, deren Leben doch sein eigenes mordet, mit jedem leisen Atemzuge –

Aber das Schicksal weiß, daß sie Helden sind. Männer, die siegten im allerschwersten Kampf. Und das Schicksal ist gütig, und es schenkt ihnen nach fürchterlichen, jämmerlichen Stunden einen schönen, traumschönen Tod.

* * *

Sie schlummern, schlafen – tiefer nun und tiefer. Süße Träume singen in ihre Ohren, frohe Bilder gaukeln vor ihren Augen. Wie ferne, seltsame Musik klingt es durch den eisernen Turm –

Hinüber – –

Ich weiß nicht, ob es so wahr; aber ich weiß: es hätte wohl so sein können.


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