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Von Sevilla.

Sevilla, 19. VIII. 19..

 

 

Aber nein, Verehrtester, Sie tun mir bitter unrecht, wenn Sie meinen, daß das, was ich Ihnen schrieb, nicht so ganz wahr wäre! Jedes Wort, das ich Ihnen schreibe, ist reinste Wahrheit und Wirklichkeit. Denn so, und genau so, hab ich's erlebt.

Freilich, Baron, kann man auch sagen: jedes Wort, das ich Ihnen schreibe, ist Lüge und nichts als Lüge. Denn nichts davon, gar nichts ist wirklich so gewesen.

Aber sehn Sie, da ist dennoch kein Widerspruch! Etwas begegnet mir in dieser Welt – und wenn mir's der Mühe wert erscheint, erzähle ich Ihnen davon. Denn das wollen Sie ja von mir haben, Lieber: mein Erlebnis. Nun – mein Erlebnis ist nie, niemals die nackte Wirklichkeit.

Ich kann Ihnen schon erklären, wie das ist. Als ich ein Schulbub war, war ich einmal sehr verliebt in ein kleines Mädel. Ich nannte sie Puella; das schien mir sehr poetisch zu sein.

Einmal standen wir beide am Ufer, bei einem Rosenbusch. Da weinte Puella.

»Warum weinst du?« fragte ich.

»Weil du mich nicht liebst!« antwortete sie.

Ich fragte sie: »Und wen anders sollte ich lieben?«

Da sagte Puella: »Wen? Mein Bildnis – unten im See!«

Verstehn Sie nun, Baron? Ich erlebe die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie sie sich mir darstellen – im Spiegel meiner Seele. Das aber, was ich erlebe, schreibe ich Ihnen – zuweilen.

* * *

Herr v. O. kam gestern von Madrid, brachte mir Ihre Grüße, Baron, und Ihre Zeilen. Sie schimpfen weidlich, daß ich Sie vernachlässige und seit einem Jahre schon kein Sterbenswörtchen von mir mehr habe hören lassen. Das ist beinahe wahr – aber nur beinahe, da ich gestern, ein paar Stunden, bevor Herr v. O. mich aufsuchte, einen schweren Brief für Sie zur Post gab. Und nun sitze ich schon wieder da, Ihnen zu schreiben! Da Sie, lieber Baron, solches doch nicht tun werden, so muß ich mir selbst ein hohes Lob dafür erteilen.

Eigentlich, Verehrtester, haben Sie mich mit dieser ganzen Geschichte mächtig reingelegt! Es ist nun gut zehn Jahre her, daß ich eines frühen Morgens zu Ihnen kam und um Hilfe jammerte, da ich keine Ahnung hatte, womit ich im Klub meine Pokerschuld der letzten Nacht bezahlen sollte. Sie lachten und gaben mir das Geld. Erklärten, daß Sie es nicht zurück haben wollten; dafür aber müsse ich versprechen, Ihnen von Zeit zu Zeit Briefe zu schreiben. Das sei Ihr bester Zusammenhang mit dem Leben, sagten Sie, dieser ständige Konnex mit allen Enden der Welt, diese Briefe, die Ihnen der alte Thomsen jeden Morgen ans Bett bringe. Sonst – was hätten Sie noch? An den Rollstuhl gefesselt und nur die Erwartung, sachte in die Ewigkeit zu rollen.

Ich sah alles natürlich ein und war ganz gerührt. Der arme Baron, dachte ich, man muß ihm die paar Jahre recht angenehm machen, die er noch zu leben hat. Dazu fühlte ich mich noch sehr geehrt. Ich wußte so ungefähr, wer Ihnen schreibt: ein paar Maler, ein paar Musiker, und eine Menge Diplomaten. Eine illustre Gesellschaft, deuchte mich: und ich komme da hinein und werde noch obendrein dafür bezahlt. Sehr geschmeichelt war ich.

Aber es scheint, Baron, daß so ein halbgelähmtes Rollstuhlleben eine ausgezeichnete, bekömmliche Beschäftigung ist. Ich habe längst gar kein Mitleid mehr mit Ihnen. Der alte Diener, der Thomsen, ist nur zur Staffage da – die hübschesten Geschöpfe beiderlei Geschlechts wechseln sich ab bei Ihnen; eines bringt immer das andre mit. Tanzmädchen und Singmädchen und solche, die sich weder mit Bein noch Kehle ernähren können und sich darum anständige Frauen nennen. Und dazwischen ein Student oder ein Leutnant. Blutjung alles. O freilich, zuweilen ist ein Gelehrter bei Ihnen, oder ein Botschafter oder Parlamentarier; aber die füllen nur die Pausen aus, sind Ihnen grade gut genug, um am Bridgetisch Neuigkeiten zu erzählen.

Natürlich, Sie sind ja gelähmt, sind engelhaft tugendlich – ›sub umbelico‹. Sie sind sozusagen ein ätherisches Wesen, Baron, garantiert stubenrein ›in sensualibus‹, und jeder Herr Hofprediger kann Ihnen sein Töchterlein unbedenklich anvertraun. Nur, Liebster, ist mein jugendliches Vertrauen in die alleinseligmachende Kraft dessen, was Goethe »Iste! Iste!« nennt, längst in die Brüche gegangen. Ich weiß heute so gut wie Sie, Baron, daß so ein armer Rollstuhlgefesselter nur auf sehr weniges von all dem verzichten muß, was dieses Leben an Genüssen zu bieten versteht. O gewiß: Sie, Baron, halb gelähmt, genießen weniger, als Sie es tun möchten, wenn die Beine noch einen Gaul umspannen könnten; Sie genießen dennoch unendlich viel mehr als hundert Millionen Menschen, deren Hirn die große Kunst zu leben nie begreifen lernte.

Auch den ganzen Schwindel Ihrer Korrespondenz habe ich längst erfaßt. Was Sie schreiben, ist stets dasselbe: zwanzig Zeilen, einer Ihrer hübschen Freundinnen diktiert und dann von Ihnen unterschrieben. Sehr liebenswürdig stets, sehr verbindlich, voll Dankes, daß man des armen, kranken Freundes gedenke. Dann, sehr geschickt, ein individuell gebackenes Zuckerbrot für den betreffenden Schreiber und, hier und da die Bitte, über dies oder jenes, das Sie besonders interessiert, doch recht ausführlich zu schreiben. Darauf fallen sie alle herein, immer wieder – ich auch!

Ihre diplomatischen Freunde sind natürlich allesamt grandiose Esel – was könnten Diplomaten anders sein? Aber es macht Ihnen, aus alter Gewohnheit, Spaß, den Klatsch aus aller Herrn Ländern zu hören; dabei vielleicht die diabolische, halb schmerzliche Freude, aus eigenster Quelle zu erfahren, wie bald des besten Volkes dümmste Individuen es fertigbringen werden, die Staatskarre in den allerdicksten Schlamm zu fahren. Die andern Herren Korrespondenten, die paar Maler und Musiker, schreiben Ihnen ganz sicher nur von sich selbst – wovon könnten sie sonst reden! Das ist Ihnen zwar langweilig im allgemeinen, läßt Sie jedoch zuweilen etwas nicht Unwichtiges wissen, lange, ehe die Welt davon erfährt. Es ist ein ganz angenehmer Kitzel für einen armen Rollstuhlgefesselten, in der Zeitung eine große Neuigkeit zu lesen, über die man schon seit Jahren viel besser unterrichtet ist.

Nun, und dann komme ich. Ich bin bezahlt für diese Schreibebriefe, ob zwar sich mein Honorar dem Nullpunkt immer mehr nähert, wenn es diesen auch kaum je erreichen wird. Wenn ich guter Laune bin, bilde ich mir ein, daß meine Briefe die einzigen sind, die zu lesen Sie wirklich interessiert. Bin ich schlechter Laune freilich, so glaube ich ebenso fest, daß sie das Porto und das Papier nicht wert seien, und daß Sie, lieber Baron, sie nach den ersten Zeilen in den links neben Ihrem Bette stehenden hübschen Papierkorb werfen. Und wenn solche Stimmung andauert, kommt es eben vor, daß ich Ihnen lange Zeit garnicht schreibe – Sie sehn, es ist Rücksicht auf Sie, Baron, die Sie freilich in Ihrem Genießerleben ebensowenig verdient haben wie weiland mein höchst unangebrachtes Mitleid.

* * *

Den Herrn v. O., der mir Ihre Grüße brachte, nahm ich abends mit in die ›Variedades‹. Ein Sevillaner Tingltangl ist das, spielt von vier Uhr nachmittags bis vier Uhr morgens, etwa drei Stunden jede einzelne Vorstellung. Es kostet keinen Eintritt; man zahlt nur für irgendein Getränk. Oben in den Logen trinkt man Wein und läßt sich die Künstlerinnen hinkommen, die ihr Geld bei zwölfstündigem Arbeiten sauer genug verdienen. Man zahlt ihnen Unterhaltungshonorar, das der Kellner in Empfang nimmt und ihnen gleich gibt; dafür bleiben sie, bis sie wieder auf die Bühne müssen. Ich gehe oft in die ›Variedades‹ – oder in die ›Novidades‹, das andre Tingltangl, genau so verräuchert und verschmutzt und genau so männergefüllt – denn das weibliche Geschlecht ist unter den Zuschauern kaum vertreten. Wo in der Welt kann man sonst tanzen sehn? Nur gelegentlich in Paris, London, Berlin oder St. Petersburg – dann nämlich, wenn grade das Kaiserlich Russische Ballett da gastiert. Wundervolle Überlieferung, große Kunst, und man vergißt sie nicht mehr, die Pawlowa und Karsawina, die Mordkin, Fokine, Bolm und Nijinsky. Aber: große Aufmachung und sehr hohe Preise – eine Kunst nur für die ganz Reichen und eine Handvoll Künstler, die Freikarten bekommen. Sonst? Tanzen freilich überall und immer wieder neue Sterne, die von einer blöden Presse in den Himmel gelobt werden. Es ist stets derselbe kindische, versnobte Dilettantismus, ein armseliges Gehupfe für ein höchst anspruchsloses Publikum. In Andalusien aber, und da nur in Sevilla, kann ich jeden Abend große Tanzkunst sehn. Und die Menge zahlt nichts dafür; es genügt, wenn man eine Tasse Kaffee bestellt, die auch nicht teurer ist als irgendwo anders. Ich freilich bin ein großer Kavalier; jeden Abend habe ich ein paar Tänzerinnen in meiner Loge, dir mir, theoretisch, Tanzunterricht geben. Ich kenne nun jede Bewegung in jedem der hundert Tänze Andalusiens und bin längst soweit, daß ich sehn kann, ob eine Beschleppte oder Kurzgerockte da auf der Bühne eine Spanierin oder eine Zigeunerin ist, ob sie aus Granada, Jaën oder Sevilla stammt.

Mehr und immer heißer liebe ich Spanien und die Spanier. Wie dumm war ich doch, als ich entrüstet war über Grausamkeiten, mich lustig machte über all den Schmutz! Und das und manches andre in meinem nordischen Hochmut für so wichtig nahm, daß ich fast verächtlich hinabsah auf dies Land, wo doch ein jeder Stein ein Stück Kultur ist. Freilich bin ich nicht der erste, und werde nicht der letzte sein, dem die Intelligenz solchen Narrenstreich spielt. Gewohnt an die Tradition einer alten Kultur, reisen wir los und stoßen auf eine andre, die uns innerlich fremd ist, wenn wir sie auch noch so gut intellektuell erfassen mögen. Dinge des täglichen Lebens, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind, und die wir nun vermissen: da kommen wir uns überlegen vor, halten unsre Kultur für die viel höhere.

Im Sommer hatte ich ein Haus in Rota, am Meer. Die alte Maria, die mir den Haushalt führte, hatte nie in ihrem Leben eine Zahnbürste gesehn und ebensowenig ein W. C. Sie konnte nicht lesen noch schreiben und nicht mal auf die Uhr sehn – ihre Zeiteinteilungen waren: ›un rato‹ und ›un ratito‹, ein Weilchen und ein kleines Weilchen. Sie glaubte fest, daß meine Chamäleons sich nur von Luft ernährten, und daß es völlig überflüssig sei, ihnen Fliegen zu geben. Gottheiten, das wußte sie, gibt es drei; aber sie hatte ihre eigene Trinität: den gekreuzigten Christus, die Jungfrau und den »Manolo« – das war das Jesuskindchen, das die Jungfrau auf dem Arm trug. Kurz, sie war äußerst ungebildet und stand jeder Art von Zivilisation Jahrhunderte fern. Dabei aber hatte sie ein untrügliches Gefühl für alles, was mit Kunst zusammenhing. Einige Maler waren da, Deutsche, Pariser, Sevillaner; ich hatte immer ein paar zum Abendessen, da die alte Maria sehr gut kochte. Stets zeigten sie ihre Studien der Alten – es war erstaunlich, mit welch somnambuler Sicherheit sie ihr Urteil abgab und namentlich die Farbenwirkung zu bewerten wußte – kein Ureinwohner Chikagos hätte je auch nur ein Wort darüber zu sagen gehabt. Wenn man einem Amerikaner ein Kunstwerk zeigt, muß man ihm eine Gebrauchsanweisung daneben legen – jedem Spanier aber ist ein Empfinden für Kunst und Kultur angeboren.

* * *

Ich nahm Ihren Freund mit hinaus in den Park Maria-Louisa; hatte er in den ›Novidades‹ das Volk gesehn, so konnte er hier die elegante Welt bewundern: so etwas gibt es noch in Sevilla. Das fährt in Karossen den Korso auf und nieder, lächelt, winkt sich zu, begrüßt sich. Immer weniger Reiter dazwischen, immer mehr Automobile. Aber die müssen auch im Schritt fahren, kriechen daher wie dicke Schnecken. Jeder will natürlich ein Auto haben, glaubt nur noch damit recht paradieren zu können – wenn auch zu Hause kein ganzer Stuhl mehr steht.

Bald werden keine Wagen und keine Reiter mehr da sein – dann hört natürlich auch der Korso auf, denn mit Autos kann man wirklich nicht Korso fahren. Und die ›Elegante Welt‹, diese schöne, schillernde Seifenblase, zerplatzt.

Drinnen im Parke steht ein Denkmal Gustav Adolf Becquers, des spanischen Dichters mit dem deutschen Namen – es fehlte nur, daß er sich ›Becker‹ schriebe. Einer, der abseits vom Wege ging, dessen Schloß in dem Traumlande stand, wo Goldnebel leuchten, wo E. A. Poe daheim war, E. Th. A. Hoffmann, Baudelaire und Villiers. Gustav Adolf Becquer, mein lieber Vetter!

Um einen mächtigen Baum herum zieht sich das Marmordenkmal. Aufstrebend die Herme des unglücklichen Dichters, zur Seite drei schöne Frauen, die verzückt mit innerm Ohre den Worten des Dichters lauschen: die erzählt ihnen ein dunkler Genius, der geflügelt über ihnen schwebt.

Man mag viel gegen dies Denkmal sagen, das Don Lorenzo Collant Valera schuf. Der bronzene Genius ist gewiß verpfuscht und paßt nicht zu den weißen Marmordamen und der Marmorbüste des Dichters. Auch gedanklich ist das alles zu ausgeklügelt, zu absichtlich und gewollt. Und endlich: der Baum ist alt, wird sicher einmal zusammenstürzen und den Dichter zerschlagen, wie die Frauen, die ihn lieben. Aber selbst dann, wenn kluge Leute diese Gefahr rechtzeitig erkennen, wenn sie den Baum mit unsäglicher Mühe vorsichtig herausnehmen – was dann? Soll das Denkmal stehenbleiben mit einem Loch in der Mitte? Oder will man ein neues Bäumchen hineinpflanzen? Es tut weh, daran zu denken.

Denn kein Denkmal in der ganzen Welt hat so viel Poesie, wie dieses; es ist das einzige, in dem eine Harmonie von Kunst und Natur je versucht wurde. Diese drei schönen Frauen leben wirklich, leben ein somnabules Leben – und atmen in diesem Traumleben die glühende Kunst ihres Dichters. Zum Kunstwerk wurde der alte Baum, wurden die Ranken, die rings emporwachsen – zur Natur wurden die Steinbilder.

Und nun das Erstaunliche, das fast Unbegreifliche, das, was nur in diesem Lande, in Spanien, möglich ist! Dies Denkmal errichteten ein paar Possenschreiber, die Brüder Alvarez Quinteros. Stellen Sie sich vor, die Flers und Caillavet würden Villiers de l'Isle Adam ein Denkmal setzen! Oder: die Verfasser der ›Spanischen Fliege‹ würden die Einnahmen dieses Meisterwerks dazu benutzen, um Novalis ein Standbild zu errichten!

Und grade das taten die Brüder Alvarez Quinteros: mit den Tantiemen ihres erfolgreichen Schmarrns ›La Rima Eterna‹ schufen sie dies Steinbild zwischen den Palmen des Parkes Maria-Louisa.

* * *

Als ich, vor manchen Jahren, das erstemal in Andalusien war, sammelte ich, wie ich's überall tue, Folkloristisches. Ich schrieb eine Menge von Coplas auf, die ich aus dem Munde des Volkes hörte, und war baß erstaunt über die fade Nichtigkeit, ja oft blödsinnige Dummheit ihres Inhalts.

Seither habe ich viele tausende Coplas gehört, und neben manchen albernen auch lustige und schwermütige, leidenschaftliche und sentimentale: keine kleinste Schattierung der Stimmung des Menschenherzens, die nicht in irgendeiner Copla ihren Ausdruck fände. Dann aber: ich begriff erst nach Jahren den Sinn dieser oder jener Copla, die mir zunächst völlig sinnlos zu sein schien.

»Aun subido en una torre los dos Gallos
No le alcanzarán nunca al Belmonte!«

»Und wenn sich die Gallos auf einen Turm stellten,
Sie werden dennoch nie den Belmonte erreichen!«

Das muß einem harmlosen, Coplas sammelnden Fremden gewiß recht blöde vorkommen. Belmonte und die beiden Gallos, das weiß er, sind Stierkämpfer. Also gut: ein Verschen zur Verherrlichung Belmontes – was weiter?

Wenn man aber, nach Jahren, des Stierkampfes große Kunst begriffen hat und Sevilla kennt und Triana, dann fühlt man: die Seele eines Volkes atmet in diesen zwei kleinen Zeilen!

Ich kenne sie alle, die großen Matadoren, sah sie hundert Male in der Arena wie im Weinhaus. Die ganz Großen meiner Zeit, das sind: der Mexikaner Gaona, der Spanier Belmonte und die Gallos, zwei Zigeuner. Gaona, sehr elegant, kühl, stets überlegen, ein Erfinder in seiner Kunst – das wissen Sie doch, Baron, daß der Stierkampf hier unter die schönen Künste zählt? Gaona, der die Gaoneras erfand. Dennoch: irgend etwas fehlt. Es scheint mir immer, er ist nicht bodenständig. Indianerblut hat er – seine Kunst ist erlernt. Was er erlernte, hat er zur höchsten Meisterschaft gebracht und selbst weiterentwickelt – dennoch ist er kein geborener Torero. Belmonte ist ein solcher – und er ist der eigentliche Kämpfer. Auf seiner Brust ist kein Fleck, der nicht die Narbe trüge von einem Stierhorn. Er ist ganz große Tradition. Sevillaner ist er – und natürlich liegt Sevilla auf den Knien vor ihm. Ganz Sevilla – bis zum Guadalquivir. Über der Brücke aber liegt die Vorstadt Triana. Da wohnen Zigeuner – und da wohnen auch die beiden Brüder Gallo. Triana ist für die Gallos!

Joselito, der Jüngere: er ist elegant wie Gaona. Aber nie kühl, nie überlegen. Stets leicht und voller Temperament – zuviel Temperament beinahe. So oft ich ihn in der Faëna sehe, habe ich das Gefühl: einmal schleppt die Quadriga der Maultiere nicht den toten Stier aus dem Sande, sondern die Leiche Joselitos. Er ist der sympatischste aller Toreros, hat die größten Erfolge überall.

Dennoch, was Joselito betrifft, stehe ich mit Sevilla gegen Triana: auf einem Turme stehend, wird er Belmonte nicht erreichen. Alle zusammen aber, der Mexikaner und der Spanier und der Zigeuner, können sich nicht messen mit Joselitos Bruder, dem andern Zigeuner aus Triana, dem alten Gallo.

Denn der ist ein Genie.

Ich habe vom alten Gallo Schweinereien gesehn, wie sie nie ein andrer Stierkämpfer sich geleistet hat. Ich sah ihn, in Jrun, vor dem ersten Stier auskneifen, den Degen wegwerfen, über die Planken springen und zittern und zähneklappern. Das machte: ein schwarzer Hund war ihm über den Sand gelaufen. Ich sah ihn, in Malaga – die Leute hätten ihn lieber totgeschlagen als vom Platz gelassen! – von hinten in den Leib eines Stieres stechen – ob welch schamloser Feigheit Hunderte von Selterwasserflaschen auf ihn hagelten. Das machte: es war ein Dreizehnter und ein Freitag dazu. Ich sah diesen selben alten Zigeuner an seinen guten Tagen – wenn er den Stier dem Mob auf der Sonnenseite weihen konnte – das Unerhörteste leisten an Kunst und Bravour. Sah ihn Dinge tun, von denen man sonst nur in spanischen Schauerromanen liest, daß sie irgendein sagenhafter Held der Arena einmal begangen habe – wo und wann weiß man nicht. Was je an Gewagtesten ein Toreador tat – das alles und viel mehr noch tat der alte Gallo an seinen guten Tagen.

Eine kleine Wolke, lieber Baron, schwebt dennoch über dem Kulturhimmel des Landes. Tennisplätze baut man und Fußballplätze. Abscheulich ist das.

Nicht, daß ich etwas gegen die Rasenspiele hätte. Jahrelang habe ich Bälle geschlagen, und der Rugbyklub, dem ich einmal angehörte, war im Lande bekannt durch seine Wildheit. Nur hier möchte ich's nicht haben. Wenn ich ein Tennisturnier in Granada ebenso gut sehn kann wie in Berlin, ein Fußballwettspiel in Madrid so gut wie in London, dann ist's aus mit dem andalusischen Tanz und dem spanischen Stierkampf. Wenn die internationale Leichtathletik die spanische Jugend begeistert und erzieht – dann ade, du Romantik der sonnigen Arena und der nächtlichen Tanzbuden!

Genug für heute! Also in Karlsbad werde ich Sie sehn? Vielleicht! Bis dahin, lieber Baron, stets Ihr ergebener H. H. E.


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