Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfter Abschnitt.
Die Welt ist 'ne Auster, und Tom sucht sie zu öffnen

Am andern Morgen um zehn Uhr war Tom auf dem Wege nach St. Ogg, um Onkel Deane zu sprechen, der am Abend vorher zurückerwartet wurde. Ihn hielt Tom für den rechten Mann, der ihm wegen einer Stelle den besten Rath geben könnte. Onkel Deane war in einem großen Geschäft, hatte nicht so kleinliche Ansichten wie Onkel Glegg und war in der Welt so rasch vorwärts gekommen, wie es Tom's Ehrgeiz entsprach.

Es war ein trüber, kalter, nebliger Morgen, der mit Regen zu enden drohte, recht so ein Morgen, wo selbst der Glückliche noch zur Hoffnung seine Zuflucht nimmt, und Tom war leider sehr unglücklich. Er fühlte die Demüthigung und die wahrscheinliche Härte seines jetzigen Looses mit der ganzen Schärfe einer stolzen Natur, und in das mannhafte Pflichtgefühl gegen seinen Vater mischte sich eine unbezwingliche Entrüstung gegen ihn, welche sein Unglück in der noch unerträglicheren Form eines Unrechts erscheinen ließ. Wenn das die Folgen des Prozessirens waren, so verdiente der Vater, wie die Onkel und Tanten immer gesagt hatten, allerdings Tadel, und es war ein bezeichnender Charakterzug an Tom, daß er zwar meinte, die Tanten müßten wohl etwas mehr für seine Mutter thun, daß er aber wegen ihres Mangels an thätiger Liebe und Großmuth keinen heftigen Widerwillen empfand wie Gretchen. In seiner Natur war nichts, was ihn hätte bewegen können, irgend etwas zu erwarten, was er nicht als ein Recht fordern konnte. Warum sollten Leute ihr Geld an andre weggeben, die selbst ihr eignes Geld nicht zusammen gehalten hatten? Für Tom lag in der Strenge eine gewisse Gerechtigkeit, und das um so mehr, als er zu sich selbst das Vertrauen hegte, er würde eine solche gerechte Strenge nie verdienen. Es war recht hart vom Schicksal, fühlte er, daß er durch die Unklugheit seines Vaters so schlimm im Leben zu stehen kam; aber es fiel ihm nicht ein, zu klagen und die Leute zu tadeln, weil sie ihm nicht jede Schwierigkeit aus dem Wege räumten. Er wollte niemanden um Unterstützung bitten, nur um Arbeit und Lohn. Der arme Tom hatte auch seine Hoffnungen, zu denen er in der feuchten Kerkerluft des Dezembernebels seine Zuflucht nahm. Mit sechzehn Jahren ist auch der positivste Mensch nicht vor Täuschung und Selbsttäuschung sicher, und bei dem Bilde, welches sich Tom von seiner Zukunft entwarf, ließ er sich nur von den Eingebungen seines eigenen tapfern Selbstvertrauens leiten. Onkel Glegg und Onkel Deane waren, wie er wußte, früher beide ganz arm gewesen; er wollte nun nicht langsam sparen und sich mit einem bescheidenen Vermögen zurückziehen wie Onkel Glegg, sondern es machen, wie Onkel Deane, nämlich in einem großen Geschäftshause eine Stelle annehmen und rasch vorwärts kommen. Die letzten drei Jahre hatte er von Onkel Deane kaum etwas gesehen, weil die beiden Familien wenig Verkehr mit einander hatten, aber grade aus diesem Grunde wandte sich Tom um so lieber an ihn. Onkel Glegg, das wußte er vorher, begünstigte einen kühnen Plan gewiß niemals, aber von den Mitteln, die Onkel Deane zur Verfügung standen, hatte er eine eben so große wie unbestimmte Vorstellung. Schon vor langer Zeit hatte ihm sein Vater gesagt, Onkel Deane sei für Guest und Comp. so unentbehrlich geworden, daß sie ihm mit Freuden einen Antheil am Geschäft bewilligt hätten; so wollte er's auch machen, war Tom's Entschluß. Immer arm zu bleiben und sich über die Schultern ansehen lassen, das war unerträglich. Er wollte für Mutter und Schwester sorgen, und alle Welt sollte sagen, er sei ein ausgezeichnet tüchtiger Mensch. Die Jahre, die auf diesem Wege lagen, übersprang er, und in der Eile seines festen Entschlusses übersah er ganz, wie langsam die Tage, Stunden und Minuten sind, welche die Jahre machen.

Als er an die steinerne Brücke über den Floß kam und die erste Straße der Stadt betrat, war er in seinen Gedanken schon so weit, daß er die Mühle und die Ländereien zurückkaufte, das Haus umbaute und drin wohnte; er zog es jedem noch so hübschen neuen Hause vor und hielt eine ganze Menge Pferde und Hunde.

Indem er mit festem raschen Schritt die Straße entlang ging, weckte ihn aus seinen Träumen eine rauhe Stimme, die ihn vertraulich anredete:

»Nun, junger Herr, wie geht's Ihrem Vater?« Es war ein Schankwirth aus St. Ogg, ein Kunde von seinem Vater.

Tom war nicht in der Laune zu einem Gespräch, antwortete aber doch höflich: »Ich danke Ihnen, er ist noch recht krank.«

»'s ist 'ne recht böse Geschichte, junger Herr, daß er den Prozeß verloren hat, und es thut mir recht leid für Sie«, sagte der Schankwirth, der in seinem dummen Sinn sehr gutmüthig zu sein glaubte.

Tom erröthete und ging weiter; selbst die höflichste und zarteste Anspielung auf seine Lage hätte ihn geschmerzt, wie die Berührung einer frischen Wunde, und nun erst diese Anrede!

»Das ist der junge Tulliver«, sagte der Schankwirth zu einem Krämer, der nebenan in der Thür stand.

»So!« meinte der Krämer, »seine Züge kamen mir auch bekannt vor; er schlägt in die Dodsons, seine Mutter ist eine geborne Dodson. 's ist 'n hübscher schlanker Bursch; was hat er denn für'n Geschäft?«

»O, seines Vaters Kunden groß anzusehen und den vornehmen Herrn zu spielen; viel andres wird er wohl nicht gelernt haben.«

Aus seinen Zukunftsträumen geweckt und unsanft auf die Erde zurückversetzt, eilte Tom um so rascher nach dem großen Packhause von Guest u. Co., wo er seinen Onkel zu finden hoffte. Aber heute war der Onkel im Bankiergeschäft; der Kommis, der ihm das sagte, schien sich förmlich zu wundern, daß er ihn an einem Donnerstag Morgen im Packhause suchte.

Auf der Bank wurde Tom sofort in das Privatzimmer seines Onkels geführt. Deane verglich grade Rechnungen mit dem Buchhalter, aber als Tom herein kam, blickte er ihn freundlich an und sagte: »Nun, Tom, doch hoffentlich nicht wieder was vorgefallen zu Hause? Was macht der Vater?«

»Noch immer so hin, Onkel«, antwortete Tom, der schon etwas nervös wurde; »aber ich möchte mit Dir sprechen, wenn Du etwas Zeit hättest.«

»Setz Dich, setz Dich«, sagte der Onkel und wandte sich wieder zu den Rechnungen, in die er sich mit dem Buchhalter die nächste halbe Stunde so verlor, daß Tom sich schon verwundert fragte, ob er immer so still würde sitzen müssen, bis die Bank geschlossen würde, – so wenig Aussicht auf ein Ende schien die ruhige einförmige Arbeit dieser behäbigen Geschäftsmänner zu haben. Ob ihm der Onkel wohl eine Stelle bei der Bank gäbe? Wäre doch eine recht langweilige Geschichte, meinte er, so immerfort zu schreiben und die Wanduhr ticken zu hören; er würde lieber auf andere Weise reich. Endlich kam eine gewisse Unruhe in die stille Arbeit; der Onkel nahm eine Feder, unterschrieb etwas mit 'nem großen Schnörkel, der Buchhalter ging fort, und die Uhr klang plötzlich für Tom's Ohr nicht mehr so laut.

»Nun, Tom«, sagte der Onkel, als sie allein waren, indem er sich etwas im Sessel drehte und seine Schnupftabacksdose hervorholte, »was giebt's, mein Junge, was giebt's?« Er hatte von seiner Frau gehört, was gestern vorgefallen war, und war darauf gefaßt, Tom werde ihn bitten, die Pfändung verhindern zu helfen.

»Entschuldige, Onkel, wenn ich Dich belästige«, sagte Tom leise erröthend und mit etwas bebender Stimme, aber doch in einem Tone, der ein gewisses stolzes Selbstgefühl verrieth; »ich komme. Dich um Rath zu fragen, weil ich glaube, daß Du der rechte Mann dazu bist.«

»Aha«, sagte der Onkel und behielt die Prise zwischen den Fingern, während er Tom mit neuer Aufmerksamkeit ansah: »nun, laß hören.«

»Ich möchte eine Stelle, Onkel, die mir etwas einbrächte«, antwortete Tom, der niemals Umschweife brauchte.

»Eine Stelle?« sagte Deane und vertheilte die Prise mit ausgesuchter Unparteilichkeit zwischen seinen beiden Nasenflügeln. Tom fand, das Prisen sei eine recht unangenehme Gewohnheit.

»Sag' mir doch mal, wie alt bist Du denn?« fragte der Onkel, indem er sich im Stuhle zurücklehnte.

»Sechzehn, Onkel, das heißt, ich gehe in's siebzehnte«, erwiderte Tom und hoffte dabei, der Onkel würde bemerken, wie viel Bart er schon habe.

»Wenn mir recht ist, wollte Dein Vater einen Ingenieur aus Dir machen, nicht wahr?«

»Ja, aber da müßt' ich doch sehr lange warten, ehe ich was verdiente, nicht wahr, Onkel?«

»Ja freilich, aber mit sechzehn Jahren verdient man überhaupt noch nicht viel, mein Junge. Indeß Du hast ja viel gelernt; bist wohl ein tüchtiger Rechenmeister, he? Verstehst Du auch Buchführung?«

»Nein«, antwortete Tom, etwas niedergeschlagen. »Aber Stelling sagte, ich schriebe eine gute Hand, Onkel. Da ist meine Handschrift«, und dabei legte er eine Abschrift von dem Verzeichnisse auf den Tisch, welches er gestern gemacht hatte.

»Ei, das ist recht hübsch geschrieben, recht hübsch. Aber, siehst Du, mit der besten Handschrift von der Welt kriegst Du doch blos eine Schreiberstelle, wenn Du nichts vom Buchführen und Rechnen verstehst, und so'n Schreiber, der verdient nicht viel. Aber was hast Du denn in der Schule gelernt?« – Mit Fragen der Erziehung hatte sich Deane nicht viel abgegeben, und was in theuren Schulen getrieben wurde, davon hatte er keine rechte Vorstellung.

»Ich habe lateinisch gelernt«, antwortete Tom, »viel Latein, und im letzten Jahre hab' ich Aufsätze gemacht, eine Woche lateinisch und die andre englisch, und denn hab' ich griechische und römische Geschichte gehabt und Euklid, und Algebra hab' ich angefangen, aber nachher wieder aufgehört, und einen Tag in jeder Woche hatten wir Arithmetik. Und denn hab' ich noch Zeichenstunden gehabt, und denn hatten wir verschiedene Bücher, wo wir draus lasen oder auswendig lernten – englische Gedichte und ein Buch über Rhetorik und so was.«

Bei dieser Aufzählung hatte Tom oft gestockt und kleine Pausen gemacht, als ob er die Titel seiner Bücher ablese, um seinem Gedächtniß nachzuhelfen. Als er zu Ende war, klopfte Onkel Deane auf die Dose und verzog den Mund; er fühlte sich in derselben Lage, in der manche achtbare Personen sind, wenn sie den Zolltarif lesen und zu ihrer Verwunderung finden, wie viel Dinge doch eingeführt werden, von denen sie nichts wissen. Als vorsichtiger Geschäftsmann hütete er sich aber wohl, über einen Rohstoff sich zu äußern, von dem er keine Kunde hatte. Die Vermuthung war indeß gegen diese neuen Artikel; hätten sie was getaugt, so wären sie für einen so gewiegten Mann gewiß nicht neu gewesen. Ueber das Latein hatte er seine sehr bestimmte Ansicht; da man keinen Puder mehr trüge, meinte er, müsse man im Falle eines neuen Krieges eine Steuer auf das Latein legen, als einen unter den höhern Klassen sehr gebräuchlichen Luxus, und diese Steuer würde noch dazu die Schiffsrheder garnicht treffen. Aber die Rhetorik – das war ihm schon bedenklich. Im Ganzen fühlte er nach dieser Liste von Gelehrsamkeit eine gewisse Abneigung gegen den armen Tom.

»Na«, sagte er endlich etwas kalt und höhnisch, »drei Jahr hast Du zu diesen Geschichten gebraucht, da mußt Du doch ziemlich fest drin sein. Willst nicht lieber etwas ergreifen, wo Dir diese Geschichten zu Nutze kommen?«

Tom erröthete tief und sagte mit großem Nachdruck: »Nein, Onkel, damit kann ich mir nichts verdienen. Latein und so was mag ich garnicht. Ich weiß auch garnicht, was es mir helfen soll, oder ich müßte denn Unterlehrer an einer Schule werden, und dazu verstehe ich wieder nicht genug; übrigens würde ich auch eben so gern Packträger. Ich mag so was nicht werden. Am liebsten träte ich in ein Geschäft, wo ich vorwärts käme, so'n Geschäft, wozu ein ganzer Mann nöthig ist, wo man aufpassen muß und was zu verantworten hat. Und soviel muß ich verdienen, daß Mutter und Schwester mit davon leben können.«

»Oho, mein Junge«, rief Onkel Deane; er fühlte die Verpflichtung, die alle in der Welt empor gekommenen Leute von funfzig Jahren so gern erfüllen, die freudigen Hoffnungen der Jugend etwas herabzustimmen, – »Oho, mein Junge, das ist leichter gesagt als gethan, viel leichter!«

»Aber hast Du's nicht auch so gemacht, Onkel?« fragte Tom ein wenig ärgerlich, daß der Onkel nicht so eifrig auf seine Gedanken einging; »ich meine, bist Du nicht auch durch Deine Fähigkeiten und gute Führung in der Welt emporgekommen?«

»Ja wohl, mein junger Herr«, erwiderte der Onkel und setzte sich in seinem Stuhl behaglich zurecht, um desto bequemer einen Rückblick auf sein Leben werfen zu können. »Aber ich will Dir sagen, wie das war. Ich nahm keinen Stock zwischen die Beine und meinte, da würde ein Pferd draus, wenn ich nur lange genug sitzen bliebe. Ich hielt die Augen offen und spitzte die Ohren und hatte meinen Rücken nicht zu lieb und nahm das Interesse meines Herrn wahr, als wär's mein eigenes. Ja, mein Junge, blos durch ordentliches Aufpassen in der Fabrik hab' ich mal herausgebracht, daß ganze fünfhundert Pfund verschwendet würden, die man sparen könnte. Und dabei hatte ich zuerst nicht mehr Schulkenntnisse als ein Waisenkind. Aber ich sah bald genug ein, ohne tüchtiges Rechnen käme ich nicht vorwärts, und da lernte ich's zwischen den Arbeitsstunden. Da sieh mal her« – und dabei zeigte Deane auf etwas Geschriebenes – »jetzt schreib' ich 'ne recht gute Handschrift, und im Kopfrechnen such' ich meinen Meister, aber ich hab's mir sauer werden lassen müssen, und den Unterricht hab' ich aus meiner eigenen Tasche bezahlt, und hab's mir oft vom Essen und Trinken absparen müssen, und was mir so im Geschäft vorkam, das suchte ich gründlich kennen zu lernen, und bei der Arbeit achtete ich auf alles und jedes, und trug's mit mir herum. Ich bin gewiß kein Mechanikus, das weiß ich, aber ein paar Geschichten hab' ich mir doch ausgedacht, die den Technikern nie eingefallen sind, und die haben ganz gehörig rentirt. Und in unsern Packhäusern, da ist nicht ein Artikel, von dem ich nicht auf den Pfennig wüßte, was er werth ist. Ja, mein Junge, wenn ich Stellen bekommen habe, so war's, weil ich dafür paßte. Wer in ein rundes Loch hinein will, der muß sich rund machen wie 'nen Ball, da hast Du die ganze Geschichte.«

Und wohlgefällig klopfte Onkel Deane auf seine Dose. Aus reiner Begeisterung war er soweit in die Sache hineingerathen und hatte dabei ganz vergessen, in welcher Beziehung dieser Rückblick zu seinem Zuhörer stehe. Natürlich hatte er ganz dasselbe schon mehr als einmal gesagt und bedachte heute nicht, daß ihm der übliche Portwein dazu fehle.

»Nun, Onkel«, sagte Tom ein wenig gekränkt, »genau so möcht' ich's auch machen. Kann ich nicht auch auf dieselbe Weise vorwärts kommen?«

»Auf dieselbe Weise?« fragte Deane und sah seinen Neffen mit stiller Verwunderung an. »Hör' mal, junger Herr, dabei sind ein paar Fragen zu beantworten. Das hängt davon ab, erstlich 'nmal, aus was für 'nem Stoffe Du bist, und dann, ob Du in die rechte Mühle kommst. Aber ich will Dir sagen, wie's steht. Dein armer Vater hat 'nen falschen Weg eingeschlagen mit Deiner gelehrten Erziehung. Mich ging die Sache nichts an, und ich habe mich nicht hinein gemischt. Aber es ist genau so gekommen, wie ich mir gedacht habe. Du hast allerlei Geschichten gelernt, die wohl für 'nen jungen Herrn passen wie Stephan Guest, der sein ganzes Leben lang blos Wechsel zu unterschreiben hat; bei so einem ist's einerlei, ob er sich den Kopf mit Latein vollpfropft oder mit nützlichen Dingen.«

»Aber, Onkel«, sagte Tom bedächtig, »daß mir das Latein beim Geschäft schaden soll, sehe ich doch nicht ein. Ich werd's bald genug vergessen, darauf soll's mir nicht ankommen. In der Schule mußte ich meine Arbeit thun, aber ich habe immer gedacht, später nütze es mir doch nichts; ich hab' mir nie was draus gemacht.«

»Ja, ja, das ist alles ganz gut«, erwiderte Deane, »aber es ändert doch nichts an dem, was ich sagen wollte. Das Lateinische und der andre gelehrte Krimskrams, das mag bald genug vergehen, aber was bleibt denn? Was kannst Du denn sonst noch? Von Buchführung verstehst Du nichts, sagst Du selbst, und vom Rechnen nicht soviel wie ein gewöhnlicher Krämer. Du wirst hübsch unten auf der Leiter anfangen müssen, sag' ich Dir, wenn Du weiter kommen willst im Leben. Daß Du blos vergißt, was der Vater Dich hat lernen lassen, das hilft nichts; Du mußt ganz vom frischen lernen.«

Tom biß sich heftig auf die Lippen; die Thränen wollten ihm kommen, aber er wäre eher gestorben, als daß er geweint hätte.

»Ich soll Dir zu einer Stelle verhelfen«, fuhr der Onkel fort; »na, dagegen ist nichts zu sagen. Will recht gern was für Dich thun. Aber ihr jungen Leute denkt heutzutage, das ginge gleich so mit gut leben und wenig arbeiten; ihr wollt nicht erst zu Fuß gehen und nachher auf's Pferd steigen. Aber bedenk doch selbst, wie's mit Dir steht: Du bist sechzehn Jahr alt und hast nichts rechts gelernt. So wie Du, giebt's 'ne ganze Masse, wie Kieselsteine am Meere. Vielleicht könntest Du irgend wo in die Lehre gehen, bei 'nem Apotheker oder so einem, wo Dein Latein Dir ein bischen nützte …«

Tom wollte sprechen, aber der Onkel hob die Hand auf und sagte:

»Halt, laß mich ausreden. Du willst nicht erst in die Lehre, das weiß ich, Du willst rascher vorwärts, und Du magst nicht hinter'm Ladentisch stehen. Aber wenn Du Abschreiber auf dem Comptoir wirst, dann mußt Du hinter dem Schreibtisch stehen und einen Tag wie den andern Tinte und Papier angucken. Viel Aussicht ist da nicht, und wenn 's Jahr zu Ende ist, bist Du nicht viel klüger als zu Anfang. Die Welt besteht nicht aus Dinte, Feder und Papier, und wenn Du weiter willst in der Welt, da mußt Du wissen, woraus die Welt besteht. Das beste für Dich wäre eine Stelle auf einer Werft oder in 'nem Packhause; da kriegst Du doch 'nen Begriff von der Geschichte; aber ich fürchte, das ist Dir nicht nach der Mütze; da mußt Du draußen 'rum stehen, in Nasse und Kälte, und Dich von grobem Volke herum stoßen lassen. Dazu bist Du 'n zu feiner Herr, fürcht' ich.«

Bei diesen Worten sah Deane seinen Neffen scharf an, und Tom hatte allerdings einen innern Kampf zu bestehen, ehe er antworten konnte:

»Ich will gern alles thun, was zu meinem besten ist, Onkel; ich will alle Beschwerden ertragen.«

»Schön und gut, wenn Du's nur durchführen kannst. Aber bedenke wohl, 's ist nicht genug, daß Du den Strick in die Hand nimmst, Du mußt auch in einem fort dran ziehen. Ihr jungen Leute, die ihr nichts im Kopfe noch in der Tasche habt, ihr macht immer den Fehler, daß ihr glaubt, ihr kämet besser in der Welt fort, wenn ihr 'ne Stelle annehmt, wo eure Röcke rein bleiben und die Ladenmädchen euch für vornehme Herren halten. So hab' ich's nicht gemacht, mein Junge; als ich sechzehn war, da roch meine Jacke nach Theer und meine Hände nach Käse. Aber dafür trag' ich jetzt auch einen feinen Tuchrock und sitze mit den ersten Kaufleuten der Stadt an einem Tische.«

Und wieder klopfte Onkel Deane auf seine Dose und schien unter seiner Weste und goldnen Uhrkette förmlich breiter zu werden.

»Ist vielleicht eine Stelle frei, Onkel, für die ich wohl paßte? Ich ginge am liebsten gleich an die Arbeit«, sagte Tom, und seine Stimme bebte etwas.

»Wart 'n bischen; nicht gleich so hitzig. Wenn ich Dir zu 'ner Stelle verhelfe, für die Du eigentlich zu jung bist, blos weil ich Dein Onkel bin, dann bin ich für Dich verantwortlich, und es muß sich doch erst zeigen, ob Du auch zu was taugst.«

»Ich hoffe, ich werde Dir nie Schande machen, Onkel«, sagte Tom, den es natürlich wie alle jungen Leute tief kränkte, daß man ihm die unangenehme Wahrheit sagte, man habe noch gar keinen Grund ihm zu trauen. »Dafür halte ich selbst zu viel auf meinen guten Namen.«

»Das ist brav, Tom, recht brav, den Geist lob' ich, und ich versage keinem meine Hülfe, der selbst das rechte will. Da hab' ich jetzt grade für einen jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren zu sorgen. Für den thue ich alles, was ich kann, es steckt was in ihm. Aber der hat seine Zeit anders benutzt als Du, ist ein fixer Rechner, kann einem im Handumdrehen sagen, wie viel Kubikinhalt eine Sache hat, und hat mich neulich auf 'ne neue Absatzquelle für schwedisches Tannenholz aufmerksam gemacht; versteht sich auch auf Fabriken recht gut, der junge Mann.«

»Ich thue wohl am besten, wenn ich mich gleich dran mache, die Buchführung zu lernen, nicht wahr, Onkel?« sagte Tom, der gern zeigen wollte, wie bereitwillig er sei zu arbeiten.

»Gewiß, gewiß, das kann nichts schaden. Aber … aha, da kommt der Buchhalter zurück. Nun, Tom, für jetzt haben wir ja nichts mehr zu besprechen, und ich muß wieder an's Geschäft. Guten Morgen. Grüß mir Deine Mutter.«

Damit reichte ihm der Onkel die Hand zum Zeichen freundlicher Entlassung, und Tom hatte nicht den Muth, in Gegenwart des Buchhalters noch weiter zu fragen. So ging er wieder hinaus in die naßkalte Luft. Er mußte noch wegen des Geldes in der Sparkasse bei Onkel Glegg vorsprechen, und als er sich endlich auf den Heimweg machte, war der Nebel noch dicker geworden, und er konnte nur wenige Schritt weit sehen; als er aber am Quai entlang ging, erschrack er plötzlich über einen großen Anschlagzettel an einem Ladenfenster, auf welchem mit mächtigen Buchstaben die Worte: »rothe Mühle« zu lesen waren. Es war das Verzeichniß der Sachen, die in der nächsten Woche verauktionirt werden sollten. Als hätte er ein Gespenst gesehen, so rasch stürzte er aus der Stadt.

Nicht Zukunftsträume wie vorher beschäftigten den armen Tom auf dem Heimwege; er empfand nur die Schwere des Augenblicks. Es schien ihm so ungerecht, daß Onkel Deane kein Vertrauen zu ihm habe, daß er nicht sofort einsähe, er würde sich gut halten, was doch ihm selbst so sicher war wie das Tageslicht. Augenscheinlich würde Tom Tulliver einen schweren Stand haben in der Welt, und zum ersten Male sank ihm das Herz in dem Bewußtsein, daß er doch wirklich recht unwissend sei und sehr wenig verstände. Wer mochte der beneidenswerthe junge Mann sein, der im Handumdrehen den Kubikinhalt einer Sache bestimmen und nützliche Winke über schwedisches Tannenholz geben konnte? Schwedisches Tannenholz?! Bisher war Tom immer ganz zufrieden mit sich gewesen, wenn er auch noch so oft in einem mathematischen Beweise stecken blieb und noch so falsch übersetzte; aber jetzt fühlte er sich plötzlich sehr im Nachtheil, daß er weniger wisse als jemand anders. Mit dem schwedischen Tannenholze hingen gewiß eine Menge Geschichten zusammen, die ihm weiter geholfen hätten, wenn er sie nur kennte. Mit einem muthigen Pferde und einem neuen Sattel – da wär's doch viel leichter gewesen, eine Rolle zu spielen.

Noch vor zwei Stunden hatte Tom seine Zukunft vor sich liegen sehen, wie einen lockend sanften Seestrand hinter einem Gürtel von kleinen Kieseln; er hatte im Grase am Ufer gestanden und geglaubt, über die Kiesel werde er bald hinwegkommen: aber jetzt fühlten seine Füße die scharfen Steine, der Steingürtel hatte sich erweitert, und der weiche Sand sich fast zu einem Nichts verengt.

»Was hat Onkel Deane gesagt, Tom?« fragte Gretchen, indem sie ihn zärtlich umfaßte, als er etwas trübselig sich in der Küche am Feuer wärmte. »Will er Dir 'ne Stelle geben?«

»Nein, das grad' nicht. Er hat mir überhaupt nichts versprochen, er schien zu glauben, eine gute Stelle könne ich noch nicht bekommen. Ich bin zu jung.«

»Aber er war doch freundlich, Tom?«

»Freundlich? Pah, was kommt darauf an? Ich fragte viel nach seiner Freundlichkeit, wenn ich 'ne Stelle bekommen könnte. Aber 's ist'n rechter Unsinn und dummes Zeug; da bin ich die ganze Zeit in der Schule gewesen und habe Lateinisch gelernt und sowas, und nun ist das zu nichts nütze, und Onkel sagt, ich müßte Buchführung und kaufmännisch rechnen lernen und sowas. Er meint, glaub' ich, ich sei zu nichts zu gebrauchen« – und dabei zuckte es bitter um seinen Mund, und er blickte abseits in's Feuer.

»O wie schade, daß Domine Sampson Eine Figur aus Walter Scotts Sterndeuter; ebenso Lucie Bertram. nicht hier ist!« sagte Gretchen, die der Versuchung nicht widerstehen konnte, etwas Scherz in ihre Trauer zu mischen; »wenn er mir die doppelte Buchführung zeigte, so wie Lucie Bertram, dann könnte ich sie Dir beibringen, Tom.«

»Du mir was beibringen! Ja wahrhaftig! Wie kannst Du nur so sprechen?« erwiderte Tom.

»Lieber Tom, ich scherzte ja nur«, sagte Gretchen und legte ihre Wange an seinen Arm.

»Nein, Gretchen, so machst Du's immer«, sagte Tom, indem er die Stirn ein wenig runzelte, wie er immer pflegte, wenn er gerechte Strenge üben wollte. »Immer stellst Du Dich über mich und alle andern, das hab' ich Dir schon öfter sagen wollen. Du hättest neulich nicht so zu unsern Verwandten sprechen dürfen. Mir mußt Du es überlassen, für Dich und die Mutter zu sorgen, und darfst Dich nicht so vordrängen. Du glaubst, Du wüßtest alles besser als wir andern, aber Du hast fast jedesmal Unrecht. Ich verstehe das alles viel besser als Du.«

Der arme Tom! er hatte sich eben den Text lesen lassen müssen und die Ueberlegenheit eines andern empfunden; bei seinem kräftigen, selbstbewußten Charakter konnte der Rückschlag nicht ausbleiben, und hier war nun ein Fall, wo er seine Ueberlegenheit mit Recht behaupten konnte. Gretchens Wange glühte und die Lippen bebten ihr von dem lebhaften Widerstreit ihrer Empfindungen; sie fühlte sich verletzt, und mit diesem Gefühl stritt ihre Liebe und eine gewisse Ehrfurcht und Bewunderung vor der Willenskraft und Charakterfestigkeit des Bruders. Sie antwortete nicht sogleich; böse Worte traten ihr auf die Zunge, aber sie unterdrückte sie und sagte endlich:

»Du hältst mich oft für eitel, Tom, und doch sind meine Worte nie so gemeint. Ich denke garnicht dran, mich über Dich zu stellen, und ich weiß recht gut, Du hast Dich gestern besser gehalten als ich. Aber Du bist immer so hart gegen mich, Tom.«

»Nein, ich bin nicht hart«, sagte Tom streng und bestimmt; »ich bin immer freundlich gegen Dich, und das werd' ich auch bleiben; ich will immer für Dich sorgen. Aber Du mußt auch folgen, wenn ich Dir was sage.«

Die Mutter trat herein, und Gretchen stürzte fort, um die gewaltsam drängenden Thränen zu verbergen. Das waren bittre Thränen; alle Leute waren so hart und unfreundlich gegen sie; nirgends fand sie die Nachsicht und Zärtlichkeit, die in der Welt waltete, welche sie sich in ihren Träumen aufbaute. Die Menschen in den Büchern waren immer freundlich und liebevoll, machten einander gern glücklich und zeigten ihre Freundlichkeit nicht dadurch, daß sie immer mäkelten. Aber die wirkliche Welt war nicht so heiter; die Menschen darin schienen Gretchen am freundlichsten gegen die zu sein, die sie nicht zu lieben vorgaben und nicht zu ihnen gehörten. Wenn aber das Leben keine Liebe bot, was hatte dann das arme Gretchen? Nichts als Armuth und die Gesellschaft des kleinlichen Jammers ihrer Mutter oder auch der herzzerreißenden kindischen Hülflosigkeit ihres Vaters. Niemals ist das Gefühl der Verlassenheit so traurig wie in der ersten Jugend, wo die Seele ganz Bedürfniß ist und noch keine langen Erinnerungen kennt, noch nicht in dem Leben anderer ein neues Leben gewonnen hat; die Zuschauer freilich nehmen es leicht mit solcher voreiligen Verzweiflung, als wenn ihre Kenntniß des spätern Lebens dem blinden Dulder die dunkle Gegenwart erhellte.

Mit gerötheten Augen, das schwere Haar zurückgestrichen, saß Gretchen an ihres Vaters Bett und blickte die Wände des traurigen Gemaches an, welches der Mittelpunkt ihrer Welt war. Du armes Menschenkind! Heiß verlangt Dich nach Schönheit und Glück, durstest nach allem Wissen, lauschest ängstlich auf jene traumhafte Musik, die immer fernab verhallt und nie näher kommen will, und trägst in Dir ein blindes unbewußtes Sehnen nach einem Etwas, das die wunderbaren Eindrücke dieses geheimnißvollen Lebens zusammenfüge und Deiner Seele eine Heimath gebe! –

Bei solchem Gegensatze zwischen der Außenwelt und der innern Welt – da müssen wohl schmerzliche Kämpfe kommen.


 << zurück weiter >>