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Elfter Abschnitt.
Klein Gretchen sucht ihrem eigenen Schatten zu entlaufen

Wie gewöhnlich hatte Gretchen viel großartiger gehandelt, als Tom meinte. Der Entschluß, der in ihr aufstieg, als Tom und Lucie sie verlassen hatten, war durchaus nicht eine einfache Flucht nach Hause. Nein, sie wollte fortlaufen und zu den Zigeunern gehn, wo Tom sie nie wieder sähe. Dieser Gedanke war für sie durchaus nicht neu; sie hatte sich so oft sagen lassen müssen, sie sei halb wild, beinahe wie ein Zigeuner, daß es ihr in Augenblicken des Kummers als die beste Sicherheit gegen Vorwürfe und die für sie passendste Lebensweise erschien, zu den Zigeunern zu gehen und in einem kleinen braunen Zelte auf der Haide zu wohnen; die Zigeuner, meinte sie, würden sie mit Freuden aufnehmen und ihr wegen ihrer großen Gelehrsamkeit viel Achtung erweisen. Sie hatte ihre Ansichten hierüber auch Tom mitgetheilt und ihm zugemuthet, er solle sich das Gesicht braun färben, dann wollten sie zusammen weglaufen. Aber Tom hatte den Plan mit Verachtung zurückgewiesen und geäußert, die Zigeuner seien Diebe, hätten kaum was zu beißen und ritten höchstens auf einem Esel. Heute aber schien dem armen Gretchen ihr Unglück auf eine solche Höhe gestiegen zu sein, daß sie in dem Zigeunerleben ihre einzige Rettung sah, und sie erhob sich von ihrem Sitze unter dem Baume mit dem Gefühl, sie stehe vor einer großen Entscheidung; gradesweges wollte sie nach der nächsten Haide laufen, wo sie gewiß Zigeuner fände, und der böse Tom und ihre andern Verwandten, die immer an ihr herum mäkelten, sollten sie nie wieder sehen. Auch der Vater fiel ihr ein, als sie davon lief, aber sie versöhnte sich mit dem Gedanken, auch von ihm scheiden zu müssen, durch den Entschluß, sie wollte ihm durch einen Zigeuner-Jungen heimlich einen Brief schicken, worin sie ihm sagte, sie sei wohl und glücklich und habe ihn immer sehr lieb; der kleine Zigeuner sollte dann rasch weglaufen und nicht sagen wo sie wäre.

Bei dem Laufen gerieth Gretchen bald außer Athem, aber um die Zeit, wo Tom wieder nach dem Teiche kam, hatte sie schon eine gute Strecke Weges hinter sich und stand am Eingange eines Feldweges, der von der Landstraße abführte. Sie blieb stehen, um ein wenig zu verschnaufen, und überlegte sich, das Weglaufen sei doch nicht so angenehm, so lange man nicht auf der Haide bei den Zigeunern sei; indeß war sie in ihrem Entschlusse noch nicht wankend geworden, und gleich darauf trat sie in den Feldweg ein, ohne zu wissen, wohin er führe; der Weg, den sie vorhin nach dem Tannenhofe genommen hatten, war es nicht, und das war ihr um so lieber, als es ihr die Sicherheit gab, man werde sie nicht überholen. Bald sah sie zu ihrem Schrecken zwei Männer auf sich zukommen; an eine Begegnung mit Fremden hatte sie bisher nicht gedacht; sie war zu sehr beschäftigt gewesen mit dem Gedanken, ihre Verwandten könnten hinter ihr herkommen. Die beiden furchtbaren Fremden waren ruppige Kerls mit rothen Gesichtern, von denen einer ein Bündel an seinem Stock über der Schulter trug. Aber während Gretchen von ihnen Vorwürfe wegen ihres Ausreißens befürchtete, blieb zu ihrer Ueberraschung der Mann mit dem Bündel bei ihr stehen und bat halb jammernd, halb schmeichelnd, um ein paar Pfennige. Gretchen hatte ein paar Groschen bei sich, die ihr Onkel Glegg geschenkt hatte; sofort nahm sie diese heraus und gab sie höflich lächelnd dem armen Manne in der stillen Hoffnung, er würde für diese Großmuth dankbar und freundlich sein. »Mehr hab' ich nicht bei mir«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Danke auch, kleines Fräulein«, antwortete der Mann weniger achtungsvoll und dankbar als Gretchen gehofft hatte, und sie glaubte sogar zu bemerken, er lächle und blinzle seinen Kameraden an. Eilig ging sie weiter, bemerkte aber, daß die beiden Männer stehen blieben, wahrscheinlich um sich nach ihr umzusehen, und gleich darauf hörte sie laut lachen. Plötzlich fiel ihr ein, sie hielten sie wohl für verrückt; Tom hatte ja gesagt, mit dem kurzgeschnittenen Haar sehe sie aus wie verrückt, und das hatte sie noch nicht vergessen. Zudem war ihr Anzug sehr unordentlich; sie war weggelaufen wie sie aus dem Hause gegangen war. Auf fremde Leute, das war klar, konnte sie keinen günstigen Eindruck machen, und sie überlegte sich, sie wollte wieder in die Felder gehen. Das that sie denn auch, und es heimelte sie förmlich an, als sie an den Hecken entlang kroch; hier war sie ja vor jeder beschämenden Begegnung sicher. Bisweilen mußte sie über hohe Gatter klettern, aber das war ein geringes Uebel, sie kam doch rasch fort, und bald mußte sie ja die Haide sehen. So hoffte sie wenigstens, denn sie wurde immer müder und hungriger, und bis sie zu den Zigeunern kam, war an Butter und Brot nicht zu denken. Noch immer war es heller Tag; Tante Pullet hielt nach alter Gewohnheit ihrer Familie frühe Stunden und trank ihren Thee um halb fünf nach der Sonne und um fünf nach der Küchen-Uhr, und obwohl Gretchen schon eine Stunde unterwegs sein mochte, war doch noch kein Zeichen von Dämmerung zu sehen, und doch schien es ihr allmälich, als sei sie schon sehr weit gegangen, und es war wirklich erstaunlich, daß die Haide immer noch nicht kommen wollte. Bisher war sie meist durch Weideland gekommen und hatte nur einen Feldarbeiter in der Ferne gesehen. In einer Beziehung war das erfreulich, da Tagelöhner meist zu unwissend sind, um eine Reise zu den Zigeunern zu begreifen; indeß wäre es doch recht gut gewesen, wenn sie jemand getroffen hätte, der ihr den Weg hätte zeigen können, ohne nach ihren persönlichen Angelegenheiten weiter zu fragen. Endlich aber hörten die grünen Felder auf, und Gretchen sah durch das letzte Gatter auf einen breiten Feldweg, der nicht wie die bisherigen an beiden Seiten mit hohen Hecken eingefaßt war, sondern mit niedrigem Grase. Einen so breiten Feldweg hatte sie noch nicht gesehen, und ohne zu wissen warum, gab ihr der Anblick Hoffnung, sie sei nicht mehr weit vom Ziele; möglicher Weise trug auch der Anblick eines Esels dazu bei, den sie mit einem Klotz am Bein am Rande des Weges grasen sah; denn schon früher mal, als sie mit ihrem Vater über die große Haide gefahren war, hatte sie einen Esel mit diesem lästigen Hinderniß gesehen. Sie kroch durch das Gatter und schritt auf dem Wege vorwärts, mit dem neuen Muthe der Hoffnung, aber zugleich gespenstisch verfolgt von Schreckbildern, wie Apollyon oder ein Räuber mit der Pistole oder ein schielender gelber Zwerg mit einem Munde von einem Ohr zum andern, und dergleichen. Denn das arme Gretchen hatte zugleich die Schüchternheit einer lebhaften Phantasie und die Kühnheit einer leidenschaftlichen Natur. Sie war auf das Abenteuer ausgegangen, ihre unbekannten Stammverwandten, die Zigeuner, zu suchen, und jetzt auf diesem fremden Wege wagte sie kaum zur Seite zu blicken, aus Furcht, sie würde den Teufel von Schmied in seinem ledernen Schurzfell mit untergeschlagenen Armen sie angrinsen sehen, und nicht wenig schlug ihr das Herz, als ihr neben einer kleinen Erhöhung ein paar kleine nackte Beine in die Augen fielen, die mit den Füßen nach oben standen. Sie schienen ihr so gräßlich übernatürlich, irgend ein Teufelsspuk von Pilz; denn beim ersten Anblick war sie viel zu aufgeregt, um die zerlumpten Kleider und den zottigen Schwarzkopf zu sehen, der zu den Beinen gehörte. Es war ein schlafender Junge, und um ihn nicht zu wecken, ging Gretchen schneller und leiser vorbei; es fiel ihr nicht ein, daß er zu ihren Freunden, den Zigeunern, gehören könnte, die aller Wahrscheinlichkeit nach doch sehr feine Sitten hatten. Aber in der That war es so, und an der nächsten Biegung des Weges sah Gretchen wirklich hinter einem matten Feuer das kleine halbrunde Zelt, wo sie vor allem kränkenden Tadel, der sie in der gebildeten Welt verfolgt hatte, Schutz und Zuflucht zu finden dachte. Auch eine große Frau sah sie bei dem Feuer, unzweifelhaft die Zigeuner-Mutter, welche den Thee und was dazu gehörte besorgte. Zu ihrem eigenen Erstaunen war das Vergnügen, was sie empfand, nur mäßig, aber es war auch auffallend, daß die Zigeuner mitten auf einem Wege haus'ten und nicht auf einer großen Haide; so eine neblige unendliche Haide mit tiefen Gruben zum Verstecken, wo einen keiner finden könne, war immer auf dem Bilde gewesen, welches sich Gretchen vom Zigeunerleben gemacht hatte. Indeß ging sie weiter, und der Gedanke tröstete sie, von Verrückten wüßten die Zigeuner höchst wahrscheinlich nichts; sie liefe also nicht Gefahr, daß man sie aus Versehen zuerst für verrückt hielte. Bereits hatte sie Aufmerksamkeit erregt; die große Frau, die bei näherem Besehen ein Kind auf dem Arme trug, kam langsam auf sie zu. Gretchen sah dem fremden Gesichte mit einigem Zittern entgegen, aber rasch beruhigte sie der Gedanke wieder, daß Tante Pullet und die andern doch recht gehabt hätten, sie eine Zigeunerin zu nennen, denn das Gesicht vor ihr mit den glänzenden dunklen Augen und dem langen Haar hatte wirklich etwas von ihrem eigenen Gesichte, ehe sie sich das Haar abgeschnitten hatte.

»Nun, kleine Dame, wo wollen Sie denn hin?« fragte die Zigeunerin mit einschmeichelnder Ehrerbietung.

Das war prächtig, und grade wie es Gretchen erwartet hatte; die Zigeuner erkannten sofort, daß sie eine feine Dame sei, und würden sie gewiß entsprechend behandeln.

»Ich will nicht weiter«, erwiderte Gretchen, und es kam ihr vor, als habe sie sich die Worte im Traume einstudirt. »Ich komme, um bei Euch zu bleiben.«

»Ei, das ist hübsch; kommen Sie nur mit. Ach was Sie für 'ne hübsche kleine Dame sind!« sagte die Frau und nahm sie bei der Hand. Gretchen fand sie sehr angenehm, hätte aber gewünscht, sie wäre nicht so schmutzig.

Als sie an das Feuer kamen, saß da eine ganze Gruppe Zigeuner herum. Eine alte Zigeunerin kauerte mit untergeschlagenen Beinen am Boden, und fuhr bisweilen mit einem Spieß in den Kessel, aus welchem ein starker Duft emporstieg. Zwei krausköpfige Buben lagen auf dem Bauche und stützten sich auf die Arme, wie ein paar kleine Sphinxe, und ein friedfertiger Esel neigte seinen Kopf über ein großes Mädchen, welches hinten über gebogen ihn an der Nase kraulte und ihm ab und zu eine süße Handvoll gestohlenes Heu zu fressen gab. Das Licht der schon tief am Himmel stehenden Sonne beleuchtete die Gruppe freundlich mit seinen schrägen Strahlen, und Gretchen fand den Anblick wirklich recht hübsch und angenehm, nur hoffte sie, man würde bald die Theetassen herumreichen. Wenn sie den Zigeunern erst den Gebrauch einer Waschschale beigebracht und Interesse an Büchern eingeflößt hätte, dann wäre alles ganz reizend. Einstweilen war es indeß etwas seltsam, daß die junge Frau mit der alten in einer Sprache redete, die Gretchen nicht verstand, während das große Mädchen, welches den Esel futterte, sich aufrichtete und sie anstarrte ohne sie im geringsten zu grüßen. Endlich sagte die Alte:

»Und Sie wollen bei uns bleiben, hübsche Dame? Setzen Sie sich doch und sagen Sie uns, wo Sie her sind.«

Es war förmlich wie ein Märchen; »hübsche Dame« ließ sich Gretchen gern nennen und auch so behandeln. Sie setzte sich und sagte:

»Ich bin von Hause weggegangen, weil ich unglücklich war, und nun will ich Zigeuner werden. Ich will bei Euch bleiben, wenn Ihr wollt, und ich kann Euch viele schöne Sachen lehren.«

»Ei was für eine kluge kleine Dame!« sagte die Frau mit dem Kinde, indem sie sich zu Gretchen setzte und das Kind herum krabbeln ließ; »und was für 'nen hübschen Hut sie hat, und so'n schönes Kleid«, fügte sie hinzu, indem sie Gretchen ihren Hut abnahm und aufmerksam ansah, und dabei gegen die alte Frau in ihrer unverständlichen Sprache eine Bemerkung machte. Das große Mädchen griff nach dem Hute und setzte ihn sich verkehrt auf; aber Gretchen war entschlossen, sich aus solchen Kleinigkeiten nichts zu machen.

»Ich möchte gar keinen Hut mehr tragen«, sagte sie; »viel lieber ein rothes Taschentuch, so wie Ihr (dabei sah sie ihre Nachbarin an); bis gestern war mein Haar noch ganz lang; da hab' ich's abgeschnitten, aber ich denke, es soll bald wieder wachsen«, fügte sie entschuldigend hinzu, falls etwa die Zigeuner ein starkes Vorurtheil für langes Haar hätten. Und in dem Augenblick war Gretchen so begierig, sich die gute Meinung der Zigeuner zu gewinnen, daß sie sogar ihren Hunger darüber vergaß.

»Oh, was ist das für eine hübsche kleine Dame! und gewiß reich, so reich«, sagte die Alte. »Haben Sie nicht in einem wunderhübschen Hause gewohnt?«

»Ja, unser Haus ist recht hübsch und ich habe auch den Fluß recht gern, wo wir fischen, aber ich bin oft so unglücklich. Ich hätte gern meine Bücher mitgebracht, aber ich lief so eilig weg. Aber ich kann Euch fast alles aus dem Kopfe sagen, was in meinen Büchern steht, so oft hab' ich sie durchgelesen, und das wird Euch amüsiren. Und ich kann Euch auch was aus der Geographie erzählen, nämlich von der Erde, wo wir drauf leben – sehr nützlich und interessant. Habt ihr schon was von Kolumbus gehört?«

Gretchens Augen funkelten und ihre Wangen glühten; sie fing ja schon wirklich an, die Zigeuner zu unterrichten und großen Einfluß auf sie zu gewinnen. Die Zigeuner ihrerseits horchten verwundert auf ihr Geschwätz, während ihre Aufmerksamkeit daneben zum guten Theile durch den Inhalt von Gretchens Tasche in Anspruch genommen wurde, welche ihre Nachbarin mittlerweile geleert hatte, ohne daß es die Kleine merkte.

»Kolumbus? ist das wo Sie wohnen, meine kleine Dame?« fragte die alte Frau.

»Nein, nicht doch!« erwiderte Gretchen mitleidig. »Kolumbus war ein ganz herrlicher Mann, der die halbe Welt entdeckt hat, und nachher haben sie ihn in Ketten gelegt und sehr schlecht behandelt. Es steht alles in meinem geographischen Katechismus, aber bis zum Thee kann ich das nicht alles erzählen, und … ich möchte meinen Thee haben

Die letzten Worte entschlüpften Gretchen, ohne daß sie es wollte; vom Patronisiren und Belehren war sie plötzlich in den einfachen Kindeston gefallen.

»Ist die arme kleine Dame hungrig?« sagte die junge Frau; »gebt ihr von dem kalten Fleisch. Sie sind gewiß weit gegangen. Wo sind Sie denn zu Haus?«

»In der rothen Mühle; das ist weit weg«, erwiderte Gretchen. »Mein Vater heißt Tulliver; aber er darf nicht wissen, wo ich bin, sonst kommt er und holt mich wieder nach Hause. Wo wohnt denn Eure Königin, die Königin der Zigeuner?«

»Was! will die kleine Dame zur Königin gehen?« fragte die junge Frau. Das große Mädchen stand die ganze Zeit da, und starrte und grinste Gretchen an; ihre Manieren waren sicher nicht angenehm.

»Nein«, erwiderte Gretchen, »ich meine blos, wenn sie keine gute Königin ist, denn könntet Ihr Euch wohl freuen, wenn sie stürbe, und könntet eine andre wählen. Wenn ich Königin wäre, ich wollte eine recht gute Königin sein und gegen jeden freundlich.«

»Da hat die kleine Dame was hübsches zu essen«, fuhr die Alte dazwischen und gab Gretchen ein Stück trocknes Brod, welches sie aus einem schmutzigen Beutel genommen hatte, und einen Streifen kalten Speck.

»Danke«, sagte Gretchen und sah sich beides an, ohne es zu nehmen; »wollt Ihr mir nicht lieber etwas Butterbrod und Thee geben? Speck mag ich nicht.«

»Thee und Butter haben wir nicht«, erwiderte die Alte mit scharfer Stimme, als wäre sie des freundlichen Tones müde.

»O, dann ein bischen Brod und Syrup, das wäre auch gut«, sagte Gretchen.

»Wir haben keinen Syrup«, antwortete die Alte grob, und darauf folgte ein scharfer Wortwechsel zwischen den beiden Frauen in ihrer unverständlichen Sprache, und eine von den kleinen Sphinxen griff nach dem Brod und Speck und aß es hinunter. In diesem Augenblick kam das große Mädchen, die einige Schritte weit weggegangen war, an das Feuer zurück und sprach ein paar Worte, die eine große Wirkung hervorbrachten. Die Alte überließ Gretchen ihrem Hunger und fuhr mit dem Spieß mächtig in den Kessel, und die jüngere Frau kroch unter das Zelt und holte ein paar große flache Schüsseln und Löffel hervor. Gretchen zitterte etwas und war schon bange, die Thränen kämen ihr in die Augen. Das große Mädchen stieß einen hellen Schrei aus, und gleich darauf kam der Junge angelaufen, den Gretchen vorhin schlafend gesehen hatte, ein wilder Bube ungefähr von Tom's Alter. Er starrte Gretchen an, und wieder gab es viel unverständliches Geschwätz. Sie fühlte sich sehr einsam und sah schon kommen, sie finge gewiß bald an zu weinen; die Zigeuner schienen sich gar nichts aus ihr zu machen, und ihr geträumter Einfluß war rasch dahin. Aber die schon halb losbrechenden Thränen wurden durch einen neuen Schreck zurückgedrängt, als zwei Männer herankamen, bei deren Annäherung eben jene plötzliche Aufregung entstanden war. Der ältere von beiden warf seinen Sack auf die Erde und redete die beiden Frauen in einem lauten und scheltenden Tone an, worauf diese mit einem wahren Hagel von gell tönenden Unverschämtheiten antworteten. Zu gleicher Zeit lief ein schwarzer Köter auf Gretchen los und jagte ihr durch wüthendes Bellen einen Schreck ein, der sich noch erhöhte, als der jüngere von den beiden Männern unter fürchterlichen Flüchen den Hund zur Ruhe brachte und mit einem dicken Stocke schlug.

Ueber solche Leute Königin zu sein, oder ihnen unterhaltende und nützliche Kenntnisse beizubringen, das erkannte Gretchen nun wohl für unmöglich.

Die beiden Männer schienen wegen Gretchen anzufragen, denn sie blickten sie an und der Ton des Gesprächs wurde still und friedlich, wie immer, wenn einer neugierig fragt und der andre diese Neugierde befriedigen kann. Endlich sagte die jüngere Frau in derselben ehrerbietigen und einschmeichelnden Weise wie vorhin:

»Die hübsche kleine Dame will bei uns bleiben, Mann; ist das nicht nett?«

»Ja, sehr nett«, antwortete der jüngere von den beiden Männern, indem er den silbernen Fingerhut und andre Kleinigkeiten ansah, welche die Frau Gretchen aus der Tasche genommen hatte. Mit Ausnahme des Fingerhuts gab er alles der jüngern Frau zurück, und auf eine Bemerkung, die er dabei machte, steckte die es sofort wieder Gretchen in die Tasche. Nun ließen sich die Männer nieder und machten sich über den Inhalt des Kessels her, ein Gericht von Fleisch und Kartoffeln, welches sie aus einer großen irdenen Schüssel aßen.

Gretchen sah allmälich ein, Tom habe doch wohl Recht wegen der Zigeuner; wenn ihr der Mann nicht den Fingerhut zurückgab, dann waren sie doch ganz gewiß Diebe. Sie hätte ihm den Fingerhut gern geschenkt, weil sie sich nichts daraus machte, aber bei dem Gedanken, daß sie unter Dieben sei, verging ihr alle Freude an der Aufmerksamkeit und Ehrerbietung, die man ihr wieder bewies. Außer Robin Hood waren alle Diebe schlechtes Volk. Die Weiber sahen, daß die Kleine bange wurde, und die Alte sagte freundlich: »Wir haben nichts hübsches für unsere kleine Dame zu essen, und sie ist so hungrig, die süße kleine Dame.«

»Da, kleine Dame, versuchen Sie dies mal«, sagte die jüngere Frau und reichte ihr auf einem braunen Teller mit einem eisernen Löffel etwas Fleisch und Kartoffeln. Gretchen erinnerte sich, wie böse die Alte mit ihr gewesen war, weil sie das Brod und den Speck nicht hatte nehmen wollen, und wagte daher nicht dieses Gericht auszuschlagen, obgleich ihr vor Angst der Appetit vergangen war. Wenn ihr Vater nur in seinem Einspänner vorbeikäme und sie hineinnähme, oder wenn der große Roland oder Ritter Georg der Drachentödter zufällig des Weges zögen! Aber der Muth entsank ihr, als sie bedachte, daß diese Helden in der Gegend von St. Ogg sich nie sehen ließen, daß da nie etwas wunderbares hinkam.

Wie man sieht, war Gretchen Tulliver durchaus nicht ein so wohl erzogenes unterrichtetes kleines Wesen, wie ein Mädchen von acht oder neun Jahren heutzutage nothwendig ist; sie war erst ein Jahr lang nach St. Ogg zur Schule gegangen und hatte so wenig Bücher, daß sie bisweilen im Wörterbuch las, und so fand sich in ihrem Köpfchen die überraschendste Unwissenheit zusammen mit den überraschendsten Kenntnissen. Sie wußte z. B. daß es ein Wort Polygamie gab, und da sie auch mal etwas von einer Polyglottenbibel gehört hatte, so hatte sie daraus den Schluß gezogen, poly heiße viel; aber davon, daß es bei den Zigeunern keinen Thee und dergleichen gäbe, hatte sie keine Ahnung gehabt, und so waren ihre Gedanken überhaupt die seltsamste Mischung von scharfsichtigem Verstande und blinder Träumerei.

Ihre Vorstellungen von den Zigeunern hatten in den letzten fünf Minuten einen raschen Wechsel durchgemacht; statt sie für eine sehr achtungswerthe und bildungsfähige Gesellschaft zu halten, fürchtete sie jetzt beinahe, man werde sie umbringen, sobald es dunkel sei, und nachher zerhacken und stückweise kochen. Ja, der Verdacht ging ihr durch den Kopf, der alte Mann mit dem grimmigen Blick sei wohl der leibhaftige Teufel und könne jeden Augenblick seine Verkleidung ablegen und als der fürchterliche Schmied mit dem schrecklichen Grinsen oder als ein Ungeheuer mit feurigen Augen und Drachenflügeln vor ihr stehen. In dieser Stimmung war es ihr ganz unmöglich, von dem Fleischgericht auch nur zu kosten, und doch fürchtete sie nichts mehr, als den Zigeunern ihre entschieden ungünstige Gesinnung zu verrathen und sie dadurch zu beleidigen; mit einem so regen Interesse, wie kaum ein Theologe gehabt haben würde, fragte sie sich verwundert, ob der Teufel, wenn er wirklich gegenwärtig sei, wohl ihre Gedanken kennte.

»Wie! die kleine Dame mag unser Essen nicht riechen?« sagte die junge Frau, als sie bemerkte, daß Gretchen keinen Löffel voll aß. »Kosten Sie doch mal.«

»Ach nein, ich danke«, erwiderte Gretchen, indem sie zu einer letzten Anstrengung ihre ganze Kraft zusammen nahm und freundlich zu lächeln versuchte. »Ich fürchte, ich habe jetzt keine Zeit mehr; es wird schon ziemlich dunkel. Ich glaube, ich muß jetzt nach Hause; ein andermal komm' ich wieder und bringe euch einen Korb voll Obsttorten und so was mit.«

Indem Gretchen diese trügerische Zusage hinwarf, hoffte sie von Grund ihres Herzens, Apollyon werde leichtgläubig genug sein, sich dabei zu beruhigen. Aber ihre Hoffnung sank, als die Alte sagte: »noch ein bischen warten, kleine Dame; wenn wir mit dem Essen fertig sind, wollen wir Sie sicher nach Hause bringen; Sie sollen reiten, ganz wie 'ne Dame.«

Gretchen hatte kein rechtes Vertrauen zu diesem Versprechen, aber gleich darauf sah sie, wie das große Mädchen dem Esel einen Zaum anlegte und ein paar leere Säcke über den Rücken warf. »Nun, kleines Fräulein«, sagte der jüngere von den beiden Männern, indem er aufstand und den Esel am Zügel nahm, »wo wohnen Sie denn? wie heißt der Ort?«

»Die rothe Mühle«, erwiderte Gretchen eifrig, »und mein Vater heißt Tulliver.«

»Wie, die große Mühle, ein Stück diesseits von der Stadt?«

»Ja«, sagte Gretchen. »Ist's weit von hier? Wenn Ihr erlaubt, möcht' ich lieber gehen.«

»Nein, nein, es wird schon dunkel, wir müssen rasch machen, und auf dem Esel reitet sich's so gut, kleine Dame, das soll'n Sie mal sehn.« Damit hob er Gretchen auf und setzte sie auf den Esel. Es war ein kleiner Trost, daß nicht der ältere von den beiden Männern sie begleiten sollte, aber sie hoffte noch kaum, daß es wirklich nach Hause ginge.

»Hier ist Ihr hübscher Hut«, sagte die jüngere Frau, und jetzt war Gretchen der Hut sehr willkommen, »und nicht wahr? Zu Hause sagen Sie, daß wir sehr gut gegen Sie gewesen sind und daß wir gesagt haben, Sie wären eine hübsche kleine Dame.«

»O ja, ganz gewiß«, erwiderte Gretchen; »ich bin Euch recht dankbar. Aber ich möchte, Ihr ginget auch mit.« Alles lieber, als mit einem von den schrecklichen Männern allein sein! Es schien ihr lustiger, wenn mehrere Leute sie umbrächten.

»So, also mich mag die kleine Dame am liebsten leiden?« sagte die Frau, »aber ich kann nicht mitgehen; Sie reiten für mich zu schnell.«

Es zeigte sich nun, daß der Mann sich auch auf den Esel setzen und Gretchen vor sich nehmen sollte, und so schrecklich ihr das war, so war sie doch so unfähig, sich dagegen zu wehren, wie der Esel selbst. Die Frau klopfte sie freundlich auf den Rücken und sagte ihr artig adieu, der Mann brauchte seinen Stock, und raschen Schrittes trabte der Esel fort, denselben Weg zurück, den Gretchen vor einer Stunde gekommen war, während das große Mädchen und der wilde Junge mit Stöcken bewaffnet und schreiend und prügelnd ihm die ersten hundert Schritt das Geleite gaben.

Bürger's Leonore auf dem nächtlichen Ritt mit ihrem gespenstischen Bräutigam empfand gewiß kein schlimmeres Entsetzen als das arme Gretchen bei diesem ganz gewöhnlichen Ritte auf einem kurzbeinigen Esel mit dem Zigeuner hinten drauf, der an nichts dachte, als daß er ein hübsch Stück Geld verdienen würde. Der rothe Schein der untergehenden Sonne kam ihr wie eine fürchterliche Vorbedeutung vor und das Geschrei des zweiten Esels mit dem Klotz am Bein schien ihr damit in schrecklicher Verbindung zu stehen. Zwei niedrige Strohhütten, die einzigen, die am Wege lagen, erhöhten noch den Schauer; die Hütten hatten kaum Fenster, und die Thüren waren verschlossen. Möglicherweise wohnten Hexen drin, und Gretchen fühlte sich sehr erleichtert, als der Esel nicht anhielt.

Endlich – o freudiger Anblick – endlich hörte dieser Feldweg, der längste auf Gottes weiter Welt, wirklich auf und führte auf eine breite Chaussee, wo grade eine Kutsche vorbei fuhr, und am Kreuzpunkte stand ein Wegweiser mit der Inschrift: »Nach St. Ogg eine halbe Stunde«. Den Wegweiser hatte sie gewiß schon mal gesehen. Der Zigeuner wollte sie also wirklich nach Hause bringen, war also doch wohl kein böser Mensch, und sie hatte ihn vielleicht gekränkt, als sie sich gesträubt hatte, mit ihm allein zu sein. Dieser Gedanke wurde um so stärker, je mehr sie sich überzeugte, der Weg sei ihr vollkommen bekannt, und sie überlegte schon, wie sie wohl mit dem beleidigten Zigeuner ein Gespräch anknüpfen und ihn nicht blos besänftigen, sondern auch den Eindruck ihrer Angst verwischen könne, als sie an einen Kreuzweg kamen und Gretchen einen Reiter auf einem Pferde mit einer weißen Blässe erblickte.

»Halt, halt«, rief sie aus, »das ist mein Vater! O Vater, Vater!«

Die plötzliche Freude war fast schmerzlich, und ehe ihr Vater herangeritten kam, schluchzte sie heftig. Tulliver war höchlich verwundert; er hatte auf seinem Rückwege von Basset einen kleinen Umweg gemacht und war noch nicht zu Hause gewesen.

»Aber was bedeutet denn das?« fragte er, indem er sein Pferd anhielt, während Gretchen rasch von dem Esel abstieg und zu ihrem Vater lief.

»Das kleine Fräulein hat sich wohl verirrt«, antwortete der Zigeuner; »sie kam in unser Zelt dahinten auf der Heide, und ich wollte sie nach Hause bringen. 's ist ein weiter Weg, wenn man sich den ganzen Tag müde gelaufen hat.«

»Ja, Vater, der Mann war sehr gut gegen mich und wollte mich nach Hause bringen; ein recht freundlicher, guter Mann.«

»Da nehmt, da ist was für Eure Mühe«, sagte Tulliver und gab dem Zigeuner ein paar Schillinge. »Ein besseres Werk habt Ihr lange nicht gethan. Ich wüßte nicht, was ich ohne das kleine Mädel machen sollte; kommt her und hebt sie mir auf's Pferd.«

»Nun Gretchen, was ist das für eine Geschichte?« fragte er, als sie weiter ritten; Gretchen hatte ihm den Kopf an die Brust gelegt und schluchzte. »Wie kommst Du dazu, herum zu laufen und Dich zu verirren?«

»Ach, Vater«, antwortete Gretchen unter strömenden Thränen, »ich lief weg, weil ich so schrecklich unglücklich war. Tom war so böse mit mir, ich konnt's nicht aushalten.«

»Na, sei nur stille«, sagte der Vater beruhigend; »Du darfst nicht dran denken, von Vater weg zu laufen. Was sollte Vater wohl anfangen ohne sein kleines Mädel!«

»Ich will's auch nie wieder thun – Vater, – ganz gewiß nicht.«

Zu Hause sagte Tulliver über die ganze Geschichte sehr deutlich seine Meinung, und die Folge davon war, daß Gretchen zu ihrer großen Verwunderung weder von der Mutter den geringsten Vorwurf bekam, noch von Tom mit ihrer Reise zu den Zigeunern ausgelacht wurde. Diese Behandlung war so ungewöhnlich, daß Gretchen sich beinahe darüber ängstigte und bisweilen auf den Gedanken kam, sie habe sich wohl so schlecht aufgeführt, daß man nicht gern davon rede.


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