Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenter Abschnitt.
Die »Onkels und Tanten« treten auf

Die Dodsons waren keine üblen Leute, und Frau Glegg war unter den Schwestern die hübscheste. Wie sie so in Frau Tulliver's Lehnstuhl dasaß, mußte jeder unparteiische Beobachter zugeben, für ihre funfzig Jahre sähe sie noch recht gut aus; Tom freilich und Gretchen hielten Tante Glegg für ein wahres Monstrum von Häßlichkeit. Es ist allerdings richtig, daß Frau Glegg alle Toilettenkünste verachtete; sie hatte zwar, wie sie selbst bemerkte, die besten Kleider von der Welt, aber ihre neuen Kleider zu tragen, ehe die alten ganz hin waren, das sei nicht ihre Art. Andere Frauen möchten ihre besten Spitzentücher jeden Monat waschen lassen, wenn sie wollten, aber wenn sie stürbe, sie, Frau Glegg, da würde sich schon zeigen, daß sie in ihrem großen Kleiderschranke in dem Auszuge rechter Hand schönere Spitzen habe als die vornehmste Frau in St. Ogg. Und mit den falschen Locken war es ebenso; Frau Glegg hatte die schönsten funkelnagelneuen braunen Locken in ihrem Auszuge, ganz kleine runde und mehrere andere in verschiedenen Stadien des Herabhängens, aber an einem Alltage neue schöne Locken vorzubinden, das hätte in ihren Augen geheißen, das heilige und das unheilige traumhaft und wüst vermischen. Bisweilen freilich trug Frau Glegg ihre drittbesten Locken, auch wenn sie in der Woche einen Besuch machte, aber nie bei einer Schwester, vor allem nicht, wenn es zu Frau Tulliver ging, die seit ihrer Verheirathung jedes schwesterliche Gefühl empfindlich gekränkt hatte, indem sie kein falsches Haar trug, während doch – so meinte Frau Glegg zu Frau Deane – eine Hausfrau und Mutter wie Betty, deren Mann noch dazu immer prozessirte, eigentlich besser wissen müßte, was sich paßte. Aber Betty war ja immer schwach.

Wenn nun heute Frau Glegg ihre Locken außergewöhnlich lang herunterhingen, so hatte sie dabei einen Zweck; sie wollte damit die schärfste und beißendste Anspielung auf Frau Tulliver's kleine blonde Locken machen. Die arme Frau Tulliver hatte schon manche Thräne vergossen über Schwester Glegg's spitze Bemerkungen gegen diese jugendlichen Locken, aber das Bewußtsein, daß sie ihr gut standen, tröstete sie natürlich. Frau Glegg behielt heute im Hause auch ihren Hut auf, natürlich nicht fest zugebunden, sondern ein bischen zurückgeschoben; das war immer ein Zeichen von schlechter Laune; in einem fremden Hause, meinte sie, sei man nie vor Zug sicher. Aus demselben Grunde trug sie auch einen kleinen Pelzkragen, der ihr eben bis an die Schultern reichte, aber vorn auf der Brust lange nicht zusammen ging; ihr langer Hals war durch eine mächtige Halskrause geschützt. Um genau zu ermessen, wie weit Frau Glegg's schiefergraues seidnes Kleid hinter der Mode zurück war, müßten wir in den Moden jener Zeit besser Bescheid wissen; doch ließ sich aus gewissen kleinen gelben Flecken in der Seide und einem Modergeruch, wie von feuchten Kleiderschränken, mit ziemlicher Sicherheit schließen, daß es zu einer Generation von Kleidern gehörte, die gerade alt genug waren, um von Frau Glegg als neu getragen zu werden.

Frau Glegg hielt ihre große goldne Uhr in der Hand und hatte die Kette vielfach um die Finger geschlungen, als sie gegen Frau Tulliver, die eben einen Blick in die Küche geworfen hatte, bemerkte, sie wisse zwar nicht, wie viel es bei andern Leuten an der Zeit sei, aber nach ihrer Uhr sei es halb eins.

»Ich weiß gar nicht, was das heute mit Schwester Pullet ist«, fuhr sie fort; »sonst war doch in unsrer Familie immer einer so zeitig wie der andre; wenigstens haben wir's immer so gehalten, als unser armer Vater noch lebte, da brauchte keine Schwester eine halbe Stunde auf die andern zu warten. Aber wenn neue Moden in der Familie aufkommen sollen, ich will nicht Schuld dran sein; ich werde nicht erst auf einen Besuch kommen, wenn die andern schon weggehen. Ich muß mich recht wundern über Schwester Deane; sie machte es doch sonst mehr wie ich. Aber wenn Du mir folgen willst, Betty, dann warte ja nicht mit dem Essen; im Gegentheil, wenn einer zu spät kommt, dann ist's seine eigene Schuld.«

»Aber Schwester, sie werden alle zur rechten Zeit hier sein«, antwortete Frau Tulliver sanft abwehrend. »Vor halb zwei ist das Essen nicht fertig. Wenn's Dir zu lange währt, ich hole Dir gern ein Stück Käsekuchen und ein Glas Wein.«

»Nun, Betty«, erwiderte Frau Glegg, indem sie bitter lächelte und ein ganz klein wenig den Kopf zurückwarf, »ich hätte doch geglaubt, Du kenntest Deine eigene Schwester etwas besser. Ich habe nie zwischen den Mahlzeiten gegessen und denke nicht daran, mich in dieser Beziehung zu ändern. Aber 's ist rechter Unsinn, erst um halb zwei zu essen, wenn das Essen um eins fertig sein könnte. Aus unsrer Familie hast Du das nicht, Betty!«

»Aber, Schwester Johanne, ich kann ja nicht dafür. Mein Mann ißt nicht gern vor zwei Uhr, und blos Deinetwegen wollen wir eine halbe Stunde früher essen.«

»Ja, ja mit den Ehemännern – das kenne ich; die schieben immer alles auf; die sind im Stande und warten mit dem Essen bis nach dem Thee, wenn die Frau schwach genug ist und zu so was schweigt; aber es ist ein rechtes Elend mit Dir, Betty, daß Du nicht mehr Festigkeit hast. Ich hoffe nur, Deine Kinder leiden nicht darunter – und Du hast doch kein großes Essen für uns gemacht und Dich in Ausgaben gestürzt?! Deine Schwestern essen lieber ein Stück trocken Brod, als daß Du Dich durch Verschwendung ruinirst. Du sollt'st Dir doch ein Beispiel nehmen an Schwester Deane; die ist weit verständiger. Bedenke Deine beiden Kinder, für die Du zu sorgen hast, und Dein Mann hat mit seinen Prozessen Dein Vermögen schon durchgebracht, und sein eigenes wird er auch noch durchbringen. Ein gutes Stück Rindfleisch, wo Du gleich für die Leute Suppe von machen könntest« – so schloß Frau Glegg in einem Tone nachdrücklicher Verwahrung – »und ein einfacher Pudding ohne alles Gewürz, nur mit 'n bischen Zucker dran, das wäre weit passender.«

Schwester Glegg in solcher Laune – das war eine recht erfreuliche Aussicht! Frau Tulliver ließ sich möglichst nie auf einen Streit mit ihr ein, aber mit dem Essen, das war ein zarter Punkt, und die Verhandlungen darüber durchaus nicht neu. Frau Tulliver konnte also dieselbe Antwort geben, die sie früher schon oft gegeben hatte.

»Mein Mann sagt, so lange er's bezahlen könne, wolle er seine Freunde immer gut bewirthen, und in seinem eigenen Hause kann er doch thun was er will.«

»Nun Betty, aus meinen Ersparnissen kann ich Deinen Kindern nicht genug hinterlassen, um sie vor Noth zu schützen. Und auf das Vermögen meines Mannes dürft ihr nicht rechnen; ich werde gewiß vor ihm sterben; in seiner Familie werden die Leute durchweg alt; und wenn er auch vor mir stirbt, so läßt er mir doch nur den Nießbrauch für Lebenszeit und nach meinem Tode fällt alles an seine eigenen Verwandten, dafür wird er schon sorgen.«

Das Geräusch rollender Räder war für Fran Tulliver eine hochwillkommene Unterbrechung; sie eilte hinaus, um Schwester Pullet zu empfangen, denn in der vierrädrigen Kutsche konnte nur Schwester Pullet gekommen sein.

Frau Glegg sah zum Fenster hinaus, schüttelte den Kopf und verzog bitter den Mund. Ueber die große Kutsche hatte sie ihre ganz besondern Ansichten.

Als der Einspänner vor der Thür hielt, war Schwester Pullet in Thränen, und offenbar glaubte sie noch einige mehr vergießen zu müssen, ehe sie ausstiege, denn obgleich ihr Mann und Frau Tulliver bereit standen, ihr aus dem Wagen zu helfen, blieb sie doch ruhig sitzen, schüttelte traurig den Kopf und blickte durch Thränen hinaus in die Ferne.

»Nun, was giebts denn, Schwester?« fragte Frau Tulliver. Sie hatte keine sehr lebhafte Einbildungskraft, aber es fiel ihr ein, möglicher Weise sei der große Toilettenspiegel in Schwester Pullet's bestem Schlafzimmer abermals zerbrochen.

Frau Pullet antwortete nur mit neuem Kopfschütteln; dann erhob sie sich langsam und stieg aus dem Wagen, nicht ohne sich vorsichtig umzusehen, ob ihr Mann auch dafür sorge, daß ihr schönes seidnes Kleid nicht schmutzig würde. Pullet war ein kleiner Mann mit aufgeworfener Nase, kleinen zwinkernden Augen und dünnen Lippen; er trug einen neuen schwarzen Anzug und eine weiße Halsbinde, die so fest gebunden war, daß offenbar eine höhere Rücksicht als die auf seine persönliche Bequemlichkeit dabei maßgebend gewesen sein mußte. Neben seiner großen hübschen Frau mit ihren weiten Puffärmeln, dem bauschigen Mantel und dem großen Hute mit mächtigen Federn und Bändern, sah er ungefähr aus, wie ein kleines Fischerboot neben einer stattlichen Brigg mit vollen Segeln.

Indem Frau Pullet in's Haus trat, streifte sie mit ihren Aermeln genau beide Pfosten – es war nämlich die Zeit, wo jede Frau, die nicht anderthalb Ellen in den Schultern maß, für ein gebildetes Auge wahrhaft lächerlich aussah – und indem sie in das Wohnzimmer trat, wo Frau Glegg saß, schickte sie sich wieder zu neuen Thränen an.

»Nun Schwester, Du kommst etwas spät; fehlt Dir was?« sagte Frau Glegg mit einer gewissen Schärfe, als sie sich die Hand reichten.

Frau Pullet setzte sich, nachdem sie vorher ihren Mantel sorgfältig aufgenommen hatte, und erwiderte mit großem Nachdruck:

»Sie ist hinüber.«

»Der Spiegel ist's also nicht«, dachte Frau Tulliver.

»Vorgestern ist sie gestorben«, fuhr Frau Pullet fort, »und die Beine waren ihr so dick wie mein Leib«, fügte sie nach kurzer Pause mit tiefer Wehmuth hinzu. »Sie hat schrecklich gelitten von dem vielen Abzapfen, und so 'ne schreckliche Menge Wasser – man hätte drin schwimmen können, sagen die Leute.«

»Nun, Sophie, dann ist's ja ein wahres Glück, daß sie todt ist, wer sie auch sein mag«, fiel Frau Glegg nachdrücklich und entschieden ein; »aber noch weiß ich gar nicht, von wem Du sprichst.«

»Aber ich weiß es«, erwiderte Frau Pullet mit tiefem Seufzen und Kopfschütteln, »und so 'nen Fall von Wassersucht giebt's im ganzen Kirchspiel nicht mehr. Es ist die alte Frau Sutton.«

»I, die ist ja gar nicht mit Dir verwandt und auch kaum mit Dir bekannt, so viel ich weiß«, entgegnete Frau Glegg, die bei jedem Unglücksfalle in der Verwandtschaft immer soviel weinte wie sich schickte, aber um Fremde niemals.

»So weit bin ich doch mit ihr bekannt, daß ich ihre Beine gesehen habe, als sie waren wie Blasen. Es war eine prächtige alte Frau; ihr Vermögen hat sie verdoppelt, mehr als einmal und sie hat's immer selbst verwaltet bis an ihr seliges Ende, und die Tasche mit den Schlüsseln hatte sie immer unter ihrem Kopfkissen. Ja, ja, es giebt nicht viele alte Leute im Kirchspiele wie sie war.«

»Und Medizin soll sie genommen haben, einen ganzen Wagen voll«, bemerkte Pullet.

»Ach ja«, fuhr die Frau seufzend fort, »sie hatte noch eine andere Krankheit lange vor der Wassersucht, und die Dokters konnten nicht herausbringen was es war. Und als ich sie letzte Weihnachten besuchte, da sagte sie zu mir: ›Frau Pullet,‹ sagte sie, ›wenn Sie je die Wassersucht haben, denn denken Sie an mich.‹ Ja, das sagte sie« – dabei fing Frau Pullet wieder bitterlich an zu weinen – »das waren ihre eigenen Worte. Und Sonnabend wird sie begraben, und Pullet ist zum Leichenbegängniß eingeladen.«

»Sophie«, fiel ihr Frau Glegg in's Wort, unfähig sich länger zurückzuhalten – »Sophie, ich muß mich doch sehr wundern, daß Du Dich so abquälst um Leute die Dich nichts angehen. Das hat unser Vater doch nie gethan und Tante Franziska auch nicht, und auch sonst keiner von unsrer ganzen Familie so viel ich weiß. Du könntest Dich ja nicht schlimmer anstellen, wenn Vetter Abbott plötzlich ohne Testament stürbe.«

Frau Pullet verstummte und fuhr nur leise zu weinen fort. Im Stillen aber war ihr der Vorwurf ihrer Schwester sehr schmeichelhaft. Um einen Nachbar zu weinen, der ihr nichts vermacht hatte, das konnten sich nicht viele Leute im Kirchspiele erlauben, aber Frau Pullet war auch mit einem vornehmen Pachter verheirathet und hatte Geld und Zeit genug übrig, um ihr Weinen und jeden andern Luxus auf's allerrespektabelste zu betreiben.

»Uebrigens hat Frau Sutton ein Testament gemacht«, bemerkte Pullet in der unklaren Absicht, etwas zur Entschuldigung der Thränen seiner Frau zu sagen; »unser Kirchspiel ist reich, aber so viele Tausend hinterläßt doch keiner, wie Frau Sutton, und die Legate die sie gemacht hat, sind nicht der Rede werth; die ganze Geschichte fällt an den Neffen ihres Mannes.«

»Na, was hatte sie denn von ihrem Reichthum?« meinte Frau Glegg, »wenn sie keine eigenen Verwandten hatte, denen sie's vermachen konnte. Ich stürbe zwar nicht gern, ohne mehr Geld auf Zinsen zu hinterlassen, als andre Leute erwarten, aber es ist doch eine traurige Geschichte, wenn es aus der Verwandtschaft geht.«

»Ja, aber Schwester«, erwiderte Frau Pullet, die sich inzwischen hinlänglich erholt hatte, um ihren Schleier abzunehmen und sorgsam zusammen zu legen, »'s ist 'n ganz netter Mann, dem Frau Sutton ihr Geld vermacht hat; er hat das Asthma und geht jeden Abend um acht Uhr zu Bett. Er hat es mir selbst gesagt, ganz offenherzig, als wir mal Sonntags zusammen aus der Kirche gingen. Er trägt ein Hasenfell auf der Brust, und zittert etwas mit der Stimme – 's ist 'n recht anständiger Mensch. Ich sagte ihm, den größten Theil des Jahrs wäre ich in den Händen des Doktors, und er antwortete: ›Frau Pullet, das kann ich Ihnen nachfühlen.‹ Ja, das sagte er, das waren seine eigenen Worte. Ach Gott, ach Gott!« seufzte Frau Pullet und schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, wie wenige Menschen ihre Erfahrungen in rother und weißer Medizin, stärkenden Sachen in kleinen Flaschen und lösenden Getränken in großen Flaschen, und Pillen das Stück zu 'nem Schilling, und Zugpflaster zu 'nem halben Thaler, ganz zu würdigen verständen.

»Schwester, nun kann ich wohl meinen Hut abnehmen. Hast Du denn nach der Hutschachtel gesehen?« wandte sie sich an ihren Mann.

»Sie wird oben sein«, erwiderte Frau Tulliver, die dringend wünschte, mit hinaus zu gehen, damit sie Frau Glegg's Auseinandersetzung nicht zu hören brauchte, daß Schwester Sophie die erste Dodson sei, die sich ihren gesunden Leib mit Medizin verderbe.

Frau Tulliver ging gern mit ihrer Schwester nach oben; sie untersuchte dann immer ganz genau ihren neuesten Hut und sprach sich über Putzmacherei und sonstige Modesachen aus. Das war eine Schwäche von ihr, die vor allem Schwester Glegg unwirsch machte; nach ihrer Ansicht ging Betty für ihre Verhältnisse viel zu gut gekleidet und war zu stolz, um ihr Töchterchen in die guten Sachen zu kleiden, die ihr Schwester Glegg aus den allerältesten Lagen ihrer Garderobe schenkte; sie erklärte es für eine Sünde und Schande, dem Kinde irgend etwas zu kaufen, außer vielleicht ein Paar Schuhe. Darin jedoch that sie ihrer guten Schwester Tulliver Unrecht; diese hatte wirklich große Anstrengungen gemacht, um Gretchen zu bewegen, einen italienischen Strohhut und ein gefärbtes seidenes Kleid zu tragen, welche Tante Glegg abgelegt hatte; aber der Erfolg war der Art gewesen, daß Frau Tulliver die Kunde davon in ihrer mütterlichen Brust verschließen mußte: Gretchen hatte nämlich erklärt, das Kleid rieche häßlich nach Farbe, hatte es dann gleich den ersten Sonntag, wo sie es trug, von oben bis unten mit Sauce begossen, und da das half, den Hut mit seinen grünen Bändern tüchtig durchgepumpt, so daß er eine gewisse Aehnlichkeit bekam mit einem Kräuterkäse in welken Salatblättern. Zur Entschuldigung für Gretchen muß ich anführen, daß Tom sie mit dem Hute ausgelacht und gesagt hatte, sie sähe aus wie eine alte Hexe.

Auch Tante Pullet schenkte wohl Kleider, und diese waren immer so hübsch, daß sie sowohl Gretchen wie ihrer Mutter gefielen. Ueberhaupt war Schwester Pullet für Frau Tulliver die liebste, und diese Neigung war bis zu einem gewissen Grade gegenseitig; nur bedauerte Frau Pullet immer, daß Betty's Kinder so unartig und ungezogen wären; sie wollte gern alles mögliche für sie thun, aber es war und blieb doch recht schade, daß sie nicht so artig und hübsch waren wie Lucie Deane. Gretchen und Tom ihrerseits fanden Tante Pullet leidlich, namentlich weil sie nicht war wie Tante Glegg. Wenn Tom in den Ferien zu Hause war, so besuchte er sie immer höchstens einmal; beide Onkel schenkten ihm dann natürlich Geld, aber bei der Tante Pullet gab es so viele Kröten in den Kellerlöchern, die er mit Steinen werfen konnte, daß er am liebsten zu ihr ging. Gretchen hatte vor den Kröten förmliche Angst und träumte ganz schrecklich von ihnen, aber Onkel Pullet seine Spieluhr hörte sie gern.

Wenn Frau Tulliver nicht dabei war, kamen die andern Schwestern sämmtlich überein, das Tulliver'sche Blut vertrage sich schlecht mit dem Dodson'schen, der armen Betty ihre Kinder seien ganz und gar Tulliver's, und selbst Tom, obschon er aussähe wie ein Dodson, könnte leicht ebenso verkehrt werden wie sein Vater. Und gar Gretchen! Die sei ganz das Bild ihrer Tante Moß, einer plumpen Person mit starken Gliedern, die sehr arm verheirathet war, gar kein Porzellan hatte, und deren Mann kaum seinen Pachtzins aufbringen konnte. Aber als jetzt Frau Pullet mit Frau Tulliver allein war, fielen ihre Bemerkungen natürlich sehr ungünstig für Schwester Glegg aus, und beide kamen im tiefsten Vertrauen dahin überein, Schwester Johanne werde mit der Zeit ganz unausstehlich. Ihr Zwiegespräch wurde indeß durch die Ankunft von Schwester Deane mit der kleinen Lucie unterbrochen, und Frau Tulliver hatte den stillen Kummer, daß Luciens blonde Locken sehr hübsch saßen und in bester Ordnung waren. Es war ihr ganz unbegreiflich, wie grade Schwester Deane, die von allen Dodsons die schwächlichste und kümmerlichste war, zu einem solchen Kinde kam, welches man eigentlich für Frau Tulliver ihr Kind hätte halten können. Und neben Lucie sah Gretchen immer noch mal so schwarz und häßlich aus wie sonst.

Jedenfalls war es heute so. Die Kinder kamen mit dem Vater und Onkel Glegg aus dem Garten, und Gretchen hatte ihren Hut sehr nachlässig abgeworfen, und das Haar hing ihr wild um den Kopf. Sie erblickte Lucie, die neben ihrer Mutter stand, und stürmte sofort auf sie los. Allerdings war der Gegensatz zwischen den beiden Cousinen auffallend genug und für einen oberflächlichen Beobachter sehr zu Ungunsten Gretchens, obschon ein Kenner Züge in ihr hätte entdecken können, welche für die spätere Entwicklung mehr versprachen, als Luciens glatte Zierlichkeit. Es war ein Gegensatz wie etwa zwischen einem rauhen zottigen jungen Hunde und einem weißen Kätzchen. Lucie hatte den niedlichsten kußlichsten kleinen Mund wie eine Rosenknospe; alles an ihr war niedlich – ihr kleiner runder Hals mit den Korallenperlen, ihr grades Näschen, das von einem Stupsnäschen auch garnichts hatte, ihre feinen klaren Augenbrauen, die ein wenig dunkler waren als ihre Locken und zu den nußbraunen Augen paßten, welche mit schüchterner Freude zu Gretchen aufblickten; denn Gretchen, obschon kaum ein Jahr älter, war einen ganzen Kopf größer, Gretchen ihrerseits hatte an Luciens Anblick immer ein wahres Entzücken. Sie liebte es, sich eine Welt auszumalen, wo die Leute nie größer wurden als Kinder in ihrem Alter, und zur Königin dieses Reiches machte sie Lucien mit einer kleinen Krone auf dem Kopfe und einem kleinen Scepter in der Hand. Nur freilich war im Grunde Gretchen selbst die Königin, aber in Luciens Gestalt.

»O Lucie«, brach sie nach der ersten stürmischen Umarmung aus, »Du bleibst doch bei uns, nicht wahr? Tom, gieb ihr doch auch einen Kuß.«

Tom war ebenfalls zu Lucie herangetreten und begrüßte sie, aber küssen wollte er sie nicht – nein, das nicht; er wandte sich zu ihr, mit Gretchen zusammen, weil es im ganzen leichter schien, als zu all' den Onkeln und Tanten guten Morgen zu sagen. Er stand da und sah mehr im allgemeinen in die Welt hinein, als daß er sich etwas besonders angesehen hätte, erröthend, ungeschickt und halb lächelnd, wie verlegene Jungen in Gesellschaft pflegen, grade als wenn sie aus Versehen in die Welt gekommen wären und sie in einem ganz bedenklich unordentlichen Zustande träfen.

»Heda!« rief Tante Glegg laut und nachdrücklich. »Kommen kleine Jungen und Mädchen in's Zimmer und sagen Onkel und Tante nicht guten Tag?! Als ich noch klein war, da war das anders.«

»Geht, Kinder, und sprecht mit den Onkeln und Tanten«, sagte Frau Tulliver etwas ängstlich und trübe; sie hätte Gretchen gern erst hinauf geschickt und ihr das Haar bürsten lassen.

»Nun, und wie geht's euch? Ihr seid doch hoffentlich artig?« meinte Frau Glegg eben so laut und nachdrücklich wie vorhin und drückte ihnen dabei die Hand, daß ihnen die Finger von den großen Ringen weh thaten, und küßte sie sehr gegen ihren Willen auf die Backe. »Hübsch grade, Tom, hübsch grade! Wer in die Privatschule geht, der muß den Kopf oben haben. Mußt mich ordentlich ansehen«. Tom verzichtete augenscheinlich auf dies Vergnügen, denn er suchte seine Hand aus der ihrigen loszumachen. »Streich Dir das Haar hinter's Ohr, Gretchen, und zieh' Deine Schultern nicht aus dem Kleide.«

Tante Glegg sprach immer so laut und nachdrücklich mit den Kindern, als wären sie taub, oder vielleicht gar dumm. Sie hielt das für ein Mittel, ihnen beizubringen, daß sie verantwortliche selbständige Wesen seien, und nebenbei sollte es auch ein heilsamer Dämpfer auf ihre Unarten sein. Betty's Kinder waren ja so schlecht erzogen; einer mußte ihnen doch mindestens ihre Pflicht beibringen.

Tante Pullet war viel freundlicher. »Ei, Kinder, ihr wachst ja ganz mächtig. Wenn sie nur kräftig dabei bleiben«, fügte sie hinzu und blickte schwermüthig zu der Mutter hinüber. »Was das Mädchen für starkes Haar hat! wenn ich in Deiner Stelle wäre, ich schnitte es etwas dünner und kürzer; es ist für ihre Gesundheit nicht gut. Gewiß sieht sie davon so braun aus – meinst Du nicht auch, Schwester Deane?«

»Kann's nicht sagen«, erwiderte Frau Deane und schloß sogleich ihren Mund wieder fest zu und warf einen kritischen Blick auf Gretchen.

»Ei was«, meinte Tulliver, »das Kind ist ganz gesund, ihr fehlt nichts. Es giebt rothen Weizen und weißen Weizen, und mancher zieht das Korn vor, wenn's ein bischen dunkel aussieht. Freilich, Betty, wenn Du dem Kinde das Haar schneiden wolltest, daß es etwas glatter anliegt, das könnte nicht schaden.«

Ein schrecklicher Entschluß stieg in Gretchen auf. Zunächst wollte sie gern wissen, ob Tante Deane Lucie wohl noch etwas länger bei ihnen ließe. Das kostete Mühe; Tante Deane that es nicht gern, aber als Lucie sich bereit erklärte, auch ohne die Mutter in der Mühle zu bleiben, da redete auch Vater Deane zu, und die Sache war abgemacht.

Deane war ein etwas derber, aber aufgeweckter Mann, mit einem Aeußern, wie man es in England in allen Schichten der Gesellschaft findet. Ein bischen Kahlkopf, röthlicher Backenbart, starker Vorderkopf, und eine durchgängige Solidität ohne Plumpheit. Leute von diesem Aussehen findet man unter dem englischen Adel so gut wie unter Krämern und Tagelöhnern; dabei aber hatte Deane einen scharfen Blick in seinem braunen Auge, der nichts weniger als gewöhnlich ist. Er führte eine silberne Schnupftabacksdose und tauschte dann und wann eine Prise mit seinem Schwager Tulliver, dessen Dose nur versilbert war; es war deshalb auch ein stehender Scherz zwischen ihnen, daß Tulliver mit den Dosen ebenfalls tauschen wollte. Deane hatte seine Dose von den Eigenthümern des Geschäfts, in welchem er arbeitete, zu derselben Zeit, wo sie ihm einen Antheil am Geschäft gaben, in Anerkennung seiner schätzbaren Dienste als Buchhalter zum Geschenk erhalten. Er genoß in St. Ogg die höchste Achtung, und es gab Leute, die sogar meinten, Fräulein Susanne Dodson, welche ursprünglich die schlechteste Partie von ihren Schwestern gemacht haben sollte, werde noch einmal in einem bessern Wagen fahren und in einem schönern Hause wohnen, als ihre Schwester Pullet. Nach Ansicht dieser selben Leute ließ sich garnicht absehen, wohin es jemand noch bringen könne, der in dem großen Fabrik- und Rhederei-Geschäft der Herren Guest u. Co. (die nebenher auch noch Bankiers waren) seine Hand hatte, und Frau Deane war, wie ihre vertrautesten Freundinnen bemerkten, stolz und habgierig genug; die würde ihrem Manne schon keine Ruhe lassen, daß er es in der Welt noch weiter brächte.

»Gretchen«, sagte Frau Tulliver, indem sie ihre Tochter zu sich heranwinkte und ihr in's Ohr flüsterte, sobald die Sache mit Lucie entschieden war, – »Gretchen, geh hinauf und lass' Dir das Haar zurecht machen; Du siehst zu unordentlich aus. Ich habe Dir schon vorhin gesagt, Du solltest nicht hereinkommen, als bis das Mädchen Dich zurecht gemacht hätte.«

Gretchen wandte sich zur Thür, zupfte im Vorbeigehen Tom am Aermel und flüsterte ihm zu, er solle mitkommen. Tom war mit Freuden bereit.

»Komm mit mir hinauf«, sagte sie, sobald sie auf dem Flur waren. »Ich habe vor Tisch noch was vor.«

Beide gingen hinauf in das Schlafzimmer der Mutter und Gretchen nahm sofort aus einem Auszuge eine große Scheere.

»Was willst Du mit der Scheere?« fragte Tom mit steigender Neugier, aber statt aller Antwort faßte Gretchen ihr Vorderhaar und schnitt es über der Stirn grade weg.

»Herrje, Gretchen, Du wirst es schön kriegen!« rief Tom; »schneid' lieber nicht mehr ab.«

Aber während er noch sprach, war die große Scheere schon wieder am Schneiden, und er mußte herzlich lachen; Gretchen sah zu putzig aus.

»Da Tom, schneid mir's hinten auch ab«, sagte Gretchen, wie aufgeregt durch ihre eigene Kühnheit und begierig, die Sache nun auch ganz zu thun.

»Nimm Dich in Acht; es giebt was«, meinte Tom, indem er warnend mit dem Kopfe nickte und die Scheere bedenklich in der Hand hielt.

»Einerlei – mach nur rasch«, rief Gretchen und stampfte mit dem kleinen Fuße auf. Ihre Wangen waren glühend roth.

Am Hinterkopfe war das schwarze Haar so dick – wie verführerisch für einen Jungen, der schon von der verbotenen Frucht gekostet hatte, einem Pony die Mähne zu beschneiden! Wer jemals mit einer Scheere durch eine tüchtige Masse Haar geschnitten hat, der wird das verstehen. Ein köstlicher Knipp, und noch einer, und das dicke Haar vom Hinterkopf fiel schwer zu Boden, und Gretchen stand da, geschoren mit unregelmäßigen Zacken und Kerben, aber so leicht und frei, als wäre sie aus Waldes-Dickicht in's offene Feld getreten.

»Hurrah, Gretchen!« rief Tom und sprang um sie her und klatschte lachend mit den Händen – »Du lieber Himmel, wie putzig Du aussiehst! Guck nur mal selbst in den Spiegel, Du siehst grade aus wie der blödsinnige Kerl, nach dem wir in der Schule mit Nußschalen warfen.«

Bei diesen Worten bekam Gretchen plötzlich große Angst. Vorher hatte sie hauptsächlich daran gedacht, daß sie ihr lästiges Haar und die lästigen Bemerkungen darüber los würde, und nebenbei auch an den Triumph, den sie durch ihr entschlossenes Handeln über Mutter und Tanten davontrüge. Sie wollte garnicht, daß ihr Haar hübsch aussähe, davon war gar keine Rede; sie wollte nur, die Leute sollten sie für ein kluges kleines Mädchen halten und nicht immer an ihr herummäkeln. Aber jetzt, wo Tom sie auslachte und sagte, sie sähe ganz blödsinnig aus, da bekam die Sache ein anderes Ansehen. Sie besah sich im Spiegel, und immer noch lachte Tom und schlug die Hände zusammen, und Gretchens glühende Backen fingen an zu erblassen, und ihre Lippen bebten etwas.

»Gretchen, Du mußt gleich zum Essen hinunter«, sagte Tom. »Wie putzig, nein wie putzig!«

»Lach mich nicht aus, Tom«, rief Gretchen heftig, und vor Aerger traten ihr die Thränen in die Augen, und sie stampfte mit dem Fuße und stieß ihn zur Seite.

»Na, Du Hitzkopf, was hast Du denn nun wieder?« sagte Tom; »warum hast Du's denn eben abgeschnitten? Aber ich gehe 'runter, ich rieche das Essen schon«. Damit sprang er die Treppe hinab und ließ das arme Gretchen allein mit dem bittern Gefühle, sie habe mal wieder etwas unwiderrufliches gethan – ein Gefühl, mit dem ihre kleine Seele aus täglicher Erfahrung nur zu vertraut war. Jetzt, wo die Sache geschehen war, erkannte sie deutlich genug, wie thöricht sie gehandelt hatte und daß sie nun über ihr Haar mehr würde hören müssen als jemals; denn Gretchen that alles mit leidenschaftlicher Erregung, und wenn sie etwas gethan hatte, so überschaute sie nicht nur die Folgen davon, sondern erkannte auch wie anders es sein würde, wenn sie nicht so gehandelt hätte; und dabei malte ihre lebhafte Einbildungskraft ihr jede Einzelheit auf das deutlichste und natürlich übertrieben aus. Tom dagegen machte nie so thörichte Geschichten wie Gretchen, weil er einen wunderbaren Instinkt dafür hatte, was ihm zum Nutzen ausschlagen würde und was zum Schaden, und so kam es, daß er bei viel größerem Leichtsinn und Trotz als Gretchen sich fast niemals den Tadel zuzog, er sei unartig oder ungezogen. Aber wenn Tom mal etwas verbrach, so bekannte er sich dazu und vertheidigte es; die Folgen waren ihm dann einerlei. Wenn er seines Vaters Wagenpeitsche am Gatter entzwei hieb, dann war's nicht seine Schuld: warum faßte die Peitsche auch grade in die Angel? Wenn Tom Tulliver mit der Peitsche an ein Gatter schlug, so war er überzeugt, nicht, daß Jungens überhaupt das Recht dazu hätten, sondern, daß er, Tom Tulliver, berechtigt sei, gegen dies besondere Gatter zu schlagen, und es fiel ihm daher nicht ein, daß ihm das leid thun sollte.

Gretchen aber, wie sie da weinend vor dem Spiegel stand, fand es undenkbar, zum Essen hinunter zu gehen und die strafenden Blicke und Worte ihrer Tanten zu ertragen, während Tom und Lucie, und vielleicht auch ihr Vater und die Onkel sie auslachen würden; denn da Tom sie ausgelacht hatte, warum sollte sie nicht jeder andre auch auslachen? und wenn sie nur ihr Haar in Ruhe gelassen hätte, so könnte sie jetzt mit Tom und Lucie am Tische sitzen und Aprikosen-Pudding essen, und den schönen, schönen Crême. Was sollte sie thun als schluchzen?! So saß sie da, hülflos und verzweifelnd zwischen ihren abgeschnittenen schwarzen Haaren, wie Ajax unter den gemordeten Schafen.

Plötzlich ging die Thür auf, und das Hausmädchen trat herein. »Gretchen, Du sollst sogleich herunter kommen. Aber um des Himmels willen, was hast Du gemacht? Du siehst ja aus wie eine wahre Vogelscheuche!«

»Sag so was nicht, Käthchen«, antwortete Gretchen wüthend; »geh fort!«

»Aber ich sage Dir, Du sollst gleich 'runter kommen, die Mutter will es haben«, und dabei suchte sie die Kleine vom Boden aufzuheben. Aber Gretchen widersetzte sich.

»Geh fort, mach daß Du wegkommst, Käthchen, ich will nichts essen, und ich komme nicht herunter.«

»Na, meinetwegen, aber ich kann nicht bleiben, ich muß bei Tische aufwarten«, und damit ging das Dienstmädchen fort.

Zehn Minuten später guckte Tom herein. »Gretchen, warum kommst Du nicht zu Tische, Du klein Dummbart? es giebt so viel schöne Sachen und Mutter sagt, Du sollst kommen. Was weinst Du denn nun wieder, Du kleiner Affe?«

O, es war schrecklich! Tom war so hart und gleichgültig; wenn er auf der Erde gelegen und geweint hätte, da hätte sie mit ihm geweint, und unten gab's so viel schönes zu essen, und sie war so hungrig. O, wie war das hart und bitter!

Aber ganz schlecht war Tom doch nicht; er hatte zwar keine Lust, mit zu weinen, und ließ sich auch durch Gretchens Kummer nicht in seiner Eßlust stören; aber er neigte sich doch zu ihr und sagte mit leiser tröstender Stimme:

»Willst Du nicht 'runter kommen, Gretelchen? Soll ich Dir ein Stück Pudding bringen, wenn ich selbst gegessen habe? Und Crême und so was?«

»Ja–a–a!« schluchzte Gretchen und lebte wieder etwas auf.

»Na, gut«, sagte Tom und wandte sich zur Thür, aber er kehrte noch einmal um und meinte: »Aber das beste wäre, Du kämst selbst herunter. Das Dessert kommt grade, Nüsse und Feigen und Datteln, – hörst Du?! – und der süße Obstwein.«

Gretchens Thränen flossen nicht mehr, und sie sah nachdenklich aus, als Tom sie verließ. Seine Gutmüthigkeit hatte ihrem Schmerze seinen Stachel genommen, und nun behaupteten auch die Nüsse und der süße Wein ihr altes Recht. Langsam erhob sie sich und langsam ging sie die Treppe hinab. Vor der Thür des Eßzimmers blieb sie stehen; sie war nur angelehnt, und Gretchen guckte durch die Spalte. Sie sah ihren Platz zwischen Tom und Lucie frei, sah den Crême auf dem Nebentische stehen – das war zu viel. Leise trat sie ein und setzte sich auf den leeren Stuhl, aber sie saß kaum, als sie es schon bereute und sich wieder nach oben wünschte.

Mutter Tulliver stieß einen lauten Schrei aus, als sie ihr Kind sah, und ließ vor Schreck den großen Löffel in die Sauciere fallen, daß es rings auf das Tischtuch spritzte. Das Hausmädchen hatte sich wohl gehütet, den Grund anzugeben, warum Gretchen nicht hinunter kommen wollte; ihre Madame war nämlich gerade am Vorlegen und da hätte sie ein solcher Schreck außer Fassung gebracht. Frau Tulliver glaubte daher bis jetzt, Gretchen habe nur einen ihrer gewöhnlichen Anfälle von Unart und der strafe sich ja selbst hinlänglich, indem Gretchen um das schöne Essen käme. Der Schrei, den sie jetzt ausstieß, erregte natürlich allgemeine Aufmerksamkeit, alle Blicke richteten sich auf Gretchen, der sofort Wangen und Ohren brannten, als Onkel Glegg, ein freundlicher alter Herr mit weißen Haaren, zu ihr sagte: »Ei, was ist das für ein kleines Mädchen! Die kenn' ich ja noch gar nicht. Hast Du das fremde Kind auf der Landstraße gefunden, Käthchen?«

»Wahrhaftig«, sagte Tulliver leise zu Schwager Deane und lachte dabei im Stillen herzlich – »wahrhaftig, sie hat sich selbst das Haar abgeschnitten. Ist mir je so eine kleine Hexe vorgekommen!«

»Ei, kleines Fräulein, Du hast Dich ja recht putzig frisirt«, sagte Onkel Pullet, und vielleicht hatte der gutmüthige Mann in seinem ganzen Leben noch keine Bemerkung gemacht, die so weh that.

»Pfui, 's ist ja 'ne wahre Schande!« rief Tante Glegg im lautesten Tone des allerstrengsten Tadels; »kleine Mädchen, die sich selbst das Haar abschneiden, müssen Prügel haben und bei Wasser und Brod eingesperrt werden: sie gehören nicht bei Onkel und Tanten an den Tisch.«

»Ja, ja«, sagte Onkel Glegg, um die harte Auffassung seiner Frau durch einen Scherz zu mildern, »ich glaube, sie muß in's Gefängniß; da schneiden sie ihr das andre Haar auch noch weg, dann wird's wenigstens gleich.«

»Nun sieht sie ganz aus wie ein Zigeuner«, meinte Tante Pullet wehmüthig; »es ist recht schade, Schwester, daß das Mädchen so braun ist, der Junge sieht viel besser aus. Das wird ihr künftig noch mal schaden, fürcht' ich.«

»Sie ist ein recht unartiges Kind, die ihrer Mutter noch mal das Herz bricht«, sagte Frau Tulliver mit Thränen in den Augen.

Das arme Gretchen saß wie in einem Hagelwetter von Spott und Vorwürfen. Zuerst wurde sie roth vor Aerger, und der Zorn gab ihr eine Weile Kraft, so daß Tom meinte, sie würde es ganz gut überstehen, zumal bei Crême und Pudding. In diesem Glauben flüsterte er ihr zu: »Siehst Du, Gretchen? Hab' ich Dir nicht gesagt, Du würdest es kriegen?!« Er hatte ihr etwas freundliches sagen wollen, aber Gretchen war nicht in der Stimmung, das zu verstehen; sie glaubte, er freue sich über ihre Niederlage. Ihr bischen Trotz verließ sie sofort, ihr Herz schwoll über, und sie lief von ihrem Stuhle weg zum Vater, verbarg ihr Gesicht an seinem Halse und schluchzte laut.

»Na, beruhige Dich nur«, sagte der Vater und umfaßte sie zärtlich; »es schadet ja nicht viel, mein Herzchen; hast ganz recht, Dir das Haar abzuschneiden, wenn's Dir lästig war; nun laß aber das Weinen; Vater steht Dir bei.«

Köstliche Worte väterlicher Liebe! Für Gretchen waren es immer unvergeßliche Augenblicke, wenn der Vater ihr beistand. Sie bewahrte sie in einem treuen Herzen und erinnerte sich noch nach langen Jahren daran, als alle andern sagten, ihr Vater habe an seinen Kindern nicht gut gehandelt.

»Wie Dein Mann das Kind verzieht, Betty!« bemerkte Frau Glegg beiseite, und doch laut genug, gegen Frau Tulliver. »Das wird noch ihr Verderben, wenn Du Dich nicht vorsiehst. Unser Vater hat seine Kinder nicht so verzogen, sonst wären wir wohl nicht das geworden, was wir sind.«

Aber Frau Tulliver schien in diesem Augenblicke den Grad von Jammer erreicht zu haben, wo das Bewußtsein aufhört. Sie achtete garnicht auf die Bemerkung ihrer Schwester, sondern strich ihre Haubenbänder zurück und vertheilte in stummer Ergebung den Pudding.

Das Dessert endlich brachte Gretchen die Freiheit; die Kinder, hieß es, könnten ihr Dessert mit in's Gartenhaus nehmen, da es ein milder Tag sei, und sofort stürzten sie in den Garten, so munter wie kleine Thierchen, die unter einem Brennglase gesteckt haben.

Frau Tulliver hatte dabei ihre besondere Absicht; mit der ruhigen Plauderstunde nach Tische war der rechte Augenblick gekommen, den Verwandten mitzutheilen, was über Tom beschlossen sei, und dabei war Tom selbst am besten abwesend. Aus einer Andeutung ihres Sohnes wußte sie nämlich, daß er es ganz schrecklich fand, bei einem Pastor in Pension zu kommen, und es ungefähr ebenso ansah, als solle er zu einem Constabler. Daß ihr Mann thun würde, was er wollte, was auch Schwester Glegg oder Schwester Pullet dazu sagen mochten, das sah Frau Tulliver freilich mit stillem Jammer voraus; aber sie sollten wenigstens nicht sagen können, wenn die Sache schief ging, Schwester Betty habe mal wieder zu einem Narrenstreiche ihres Mannes Ja gesagt, ohne ihre nächsten Freunde ein Wort davon wissen zu lassen. Sie unterbrach nun ihren Mann, der grade mit Schwager Deane sich unterhielt, und meinte, es sei nun wohl Zeit, den Verwandten das Nöthige mitzutheilen.

»Gut, meinetwegen«, erwiderte Tulliver in etwas scharfem Tone. »Ich will gern sagen, was ich mit Tom vorhabe. Ich habe nämlich beschlossen« – die folgenden Worte richtete er besonders an Glegg und Deane – »ich habe beschlossen, Tom zu Doktor Stelling in Pension zu geben; er ist Pastor in Lorton und ein unbändig kluger Mann, bei dem mein Junge was ordentliches lernen kann.«

Ein Rauschen von Ueberraschung ging durch die Versammlung, wie man's wohl in einer Dorfkirche hört, wenn in der Predigt eine Anspielung auf einen Vorfall der letzten Woche vorkommt. Sämmtliche Onkel und Tanten waren höchlich erstaunt, daß in Tulliver's Familienangelegenheiten plötzlich ein Geistlicher auftrat. Onkel Pullet besonders hätte kaum mehr entsetzt sein können, wenn Tulliver ihm eröffnet hätte, er wolle Tom zum Lordkanzler in Pension geben; denn – traurig, aber wahr – von einem Bischof hatte Pullet die allerunklarste Vorstellung: er dachte sich darunter einen Baron, der ebensogut Geistlicher sein könnte als nicht, und da der Pastor in seinem eigenen Kirchspiel reich und von vornehmer Familie war, so lag der Gedanke, ein Geistlicher könne auch Unterricht geben, seinen bisherigen Erfahrungen zu fern, als daß er ihn sobald hatte fassen können. Er war daher vor Erstaunen so außer sich, daß er zuerst das Wort nahm.

»Aber, Schwager, warum willst Du ihn denn grade zu einem Pastor schicken?« fragte er und blickte dabei nach Glegg und Deane hinüber, ob die wohl die Sache begriffen.

»I, weil die Pastore den besten Unterricht geben, soviel ich höre«, erwiderte Tulliver in treuer Erinnerung an sein Orakel Riley. »Der Jacobs, der die Akademie hält, ist kein Pastor, und der Junge hat wenig bei ihm gelernt, und das hab' ich mir fest vorgenommen, wenn ich ihn wieder in die Schule gebe, denn nur bei jemand, der ganz anders ist als Jacobs. Und da ist der Doktor Stelling nach allem, was ich höre, gerade der rechte Mann, und zu Johanni soll mein Junge zu ihm«, schloß er mit großer Entschiedenheit, indem er auf seine Tabacksdose klopfte und eine Prise nahm.

»Na, aber 'ne schöne Rechnung wirst Du zu bezahlen haben! So'n Geistlicher kann gut rechnen«, meinte Deane und schnupfte dazu einmal über's andere, wie er immer that, wenn er sich 'ne Sache vom Leibe halten wollte.

»Und glaubst Du denn, Schwager, daß er bei dem Pastor lernt, was ein gut Stück Weizen ist?« fragte Glegg, der gern seinen Spaß machte, und da er sich vom Geschäft zurückgezogen hatte, es nicht blos für erlaubt, sondern sogar für passend hielt, die Dinge leicht zu nehmen.

»Na, wenn ich offen sein soll, ich habe mit Tom so meinen eigenen Plan«, antwortete Tulliver und machte eine bedeutsame Pause.

»Nun, wenn ich denn auch 'n mal sprechen darf, und das ist selten genug«, schob Tante Glegg mit bitterm Spott dazwischen, »denn möcht' ich wohl wissen, was für den Jungen gut's dabei herauskommen soll, wenn man ihn über seinen Stand erzieht.«

Tulliver überhörte das und wandte sich wieder an die Männer. »Die Sache ist die; ich habe mir überlegt, Tom soll was anders werden als ich. Ich habe mir das schon lange überlegt, und zum Entschlusse bin ich gekommen seit der Geschichte mit Nachbar Garnett und seinem Sohne. Da konnte man recht sehen, wie es thut, wenn ein Sohn bei seinem Vater in's Geschäft tritt. Ich denke mir, Tom soll mal so'n Geschäft haben, wo er nicht viel Kapital braucht, und da will ich ihn so viel lernen lassen, daß er's mit den Advokaten und solchen Leuten aufnehmen kann und mir selbst auch ab und zu an die Hand geht.«

Hier stieß Frau Glegg aus tiefer Kehle einen dumpfen Ton aus, und auf ihren fest geschlossenen Lippen spielte ein Lächeln, in welchem Mitleid und Hohn sich mischten.

»Es wäre für gewisse Leute viel besser«, fügte sie nach diesen einleitenden Tönen laut hinzu, »wenn sie sich die Advokaten vom Leibe hielten.«

»Hält denn Pastor Stelling eine ordentliche Schule, wie der hier im Marktflecken nebenan?« fragte Deane.

»Nein, keine Schule«, erwiderte Tulliver; »der Pastor nimmt blos zwei oder drei Schüler zum Privat-Unterricht; er kann sie dann viel besser beaufsichtigen.«

»Ja freilich, und der Junge wird dann viel rascher fertig, als wenn's ihrer viele sind«, bemerkte Onkel Pullet beistimmend; es kam ihm vor, als durchschaue er diese schwierige Frage schon vollständig.

»Ja, aber die Geschichte kostet denn auch viel Geld«, meinte Schwager Glegg.

»Na, runde hundert Pfund des Jahrs, mehr doch nicht«, erwiderte Tulliver mit einem gewissen Stolze. »Aber besser kann ich das Geld für den Jungen nicht anlegen; eine gute Erziehung ist das beste Kapital.«

»Das läßt sich hören«, sagte Glegg; »Du magst wohl Recht haben, Schwager.

Vergeuden läßt sich Gut und Geld;
Doch hat man was gelernt, das hält.

Den Vers hab' ich mal an einem Schulfenster gelesen. Aber wer nichts gelernt hat, der muß schon sein bischen Geld festhalten – nicht wahr, Schwager Pullet?« und dabei rieb sich Glegg das Knie und sah ganz lustig aus den Augen.

»Glegg, ich muß mich sehr über Dich wundern«, rief seine Frau; »es steht Dir recht schlecht in Deinen Jahren und Umständen.«

»Was steht mir schlecht?« fragte Glegg mit einem schelmischen Blick auf die andern; »der neue blaue Rock, den ich anhabe?«

»Du thust mir leid, Glegg. Ich meine, es steht Dir schlecht, so zu scherzen, wenn Du siehst, wie Deine eignen Verwandten sich Hals über Kopf ruiniren.«

»Wenn das auf mich gehen soll«, entgegnete Tulliver sehr gereizt, »meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu ängstigen, Frau Schwägerin; die Mühe können Sie sich sparen. Ich bin Mann's genug, für mich selbst zu sorgen; dazu brauch' ich keinen andern.«

»Du liebe Zeit«, meinte Deane, »da fällt mir ein, Wakem will seinen Sohn, den verwachsenen Jungen, ja auch zu 'nem Pastor schicken – hast Du nicht auch so was gehört, Susanne?«

»Kann's nicht sagen, weiß nichts davon«, erwiderte Frau Deane kurzab und schloß sogleich wieder den Mund. Sie wagte sich nicht gern dahin, wo Pfeile hin und wieder flogen.

»Nu«, sagte Tulliver und sprach um so heitrer, als er Frau Glegg zeigen wollte, er frage nichts nach ihr, – »nu, wenn Wakem seinen Sohn zu 'nem Pastor schickt, denn ist's gewiß klug, daß ich Tom auch hinschicke, darauf könnt ihr euch verlassen. Wakem ist so'n großer Schuft, wie der Teufel nur je einen gemacht hat, aber die Menschen kennt er und versteht sich auf alle Schliche. Ja ja, wenn man wissen will, wo man gutes Fleisch kriegt, denn braucht man nur zu fragen, wer Wakem sein Schlächter ist.«

»Aber Wakem sein Junge hat 'nen Buckel«, bemerkte Frau Pullet, der in ihrer düstern Weltanschauung bei der ganzen Geschichte zu Sinne war, als handle es sich um ein Leichenbegängniß; »bei dem ist's ganz in der Ordnung, daß er zu 'nem Pastor kommt.«

»Gewiß«, sagte Schwager Glegg, indem er die eben gehörte Bemerkung so auffaßte, wie sie möglicherweise einen Sinn haben konnte, »das sollt'st Du bedenken, Tulliver; Wakem sein Junge wird wohl gar kein Geschäft lernen; der soll blos ein vornehmer Herr werden.«

Mittlerweile war Frau Glegg's Entrüstung so hoch gestiegen, daß alle Mühe, sie ganz zurückzuhalten, doch ein gelindes Sprudeln nicht verhindern konnte. »Glegg«, rief sie mit verbissener Wuth ihrem Manne zu, »halte doch lieber Deinen Mund. Gieb Dir keine Mühe; unser Herr Schwager will garnicht wissen, was Du meinst, oder was ich meine. Es giebt Leute in der Welt, die wissen immer alles selbst am besten.«

»Na, das müssen Sie wohl selbst sein, wenigstens wenn man Sie sprechen hört«, erwiderte Tulliver, der wieder aufzubrausen anfing.

»O, ich sage garnichts«, erwiderte Frau Glegg höhnisch. »Man verlangt meinen Rath nie, und ich gebe ihn auch nie.«

»Das wäre wohl das erste Mal in Ihrem Leben«, meinte Tulliver; »'s ist sonst das einzige, was Sie nur zu gern geben.«

»Nun, wenn ich nicht gern gebe, so habe ich doch gern geliehen«, erwiderte Frau Glegg. »Es giebt Leute, denen ich Geld geliehen habe, und vielleicht muß ich's noch bereuen, daß ich mein Geld verliehen habe an Verwandte.«

»Na Kinder, laßt's gut sein«, sagte ihr Mann freundlich. Aber Tulliver ließ sich seine Entgegnung nicht abschneiden.

»Für das Geld haben Sie 'nen Schuldschein, so viel ich weiß«, sagte er, »und bei aller Verwandtschaft, Ihre fünf Prozent haben Sie ruhig genommen.«

»Schwester«, warf Frau Tulliver mit bittendem Tone ein, »trink doch Dein Glas aus und nimm noch ein paar Mandeln und Rosinen.«

»Betty, Du thust mir leid«, entgegnete Frau Glegg, der es sehr gelegen kam, sich auch mal gegen die wehrlose Frau Tulliver zu wenden, – »Du thust mir wirklich leid; mir jetzt von Mandeln und Rosinen zu sprechen!«

»Herrje, Schwester Glegg, sei doch nicht so streitsüchtig«, bemerkte Frau Pullet und fing wieder etwas an zu weinen. »Du kannst ja 'nen Schlag kriegen, wenn Du Dich nach dem Essen so aufregst, und wir sind eben erst aus der Trauer; wirklich, 's ist nicht hübsch, so was unter Schwestern.«

»Freilich ist's nicht hübsch«, fuhr Frau Glegg auf. »Wirklich, es ist weit gekommen, wenn eine Schwester die andre einladet, förmlich um mit ihr zu zanken und sie zu beleidigen.«

»Aber beruhige Dich doch, Johanne«, sagte ihr Mann; »sei doch verständig, nimm Vernunft an.«

Aber während er noch sprach, stürmte Tulliver, der noch lange nicht genug gesagt hatte, von neuem los. »Wer will sich denn mit Ihnen zanken?« rief er; »Sie sind es, die keinen Menschen in Frieden läßt; Sie haben immer was zu mäkeln. Ich zanke mich mit keiner Frau, die sich in den gehörigen Schranken hält.«

»In den gehörigen Schranken! nu wahrhaftig«, rief Frau Glegg, und ihre Stimme wurde förmlich schrill. »Ich habe manche Leute gekannt, die viel höher standen, als Sie, Herr Schwager, die behandelten mich mit ganz anderm Respekt als Sie, aber die sind lange todt und liegen im Grabe; wenn die hier wären, die machten's anders als mein Mann hier, die säßen nicht ruhig dabei und ließen mich von Leuten beleidigen, die mir nie nahe gekommen wären, wenn nicht eine aus unsrer Familie eine schlechtere Partie gemacht hätte, als sie wohl hätte machen können.«

»Wenn's darauf ankommt«, fuhr Tulliver los, »meine Familie ist so gut wie Ihre – ja, und noch viel besser. In unserer Familie haben wir keine Frau mit so 'nem verfluchten bösen Temperament.«

»Nun«, sagte Frau Glegg und stand auf, »ich weiß nicht, Glegg, wie Du über solches Fluchen denkst, aber ich bleibe nicht eine Minute länger in diesem Hause. Du kannst noch bleiben, wenn Du willst, und mit dem Wagen nachkommen – ich gehe zu Fuß.«

»Aber, liebe Frau, hör' doch!« sagte ihr Mann traurig, und dabei folgte er ihr zum Zimmer hinaus.

»Tulliver, Tulliver, wie konntest Du nur so sprechen?« rief Frau Tulliver mit Thränen in den Augen.

»Mag sie gehen«, erwiderte der Mann, viel zu aufgeregt, als daß ihn Thränen hätten abkühlen können; »mag sie gehen, je eher desto lieber; die wird sich sobald nicht wieder an mich wagen.«

Frau Tulliver war wie zerschlagen. »Schwester Pullet«, meinte sie, »glaubst Du, daß es irgend was nützt, wenn Du ihr nachgehst und sie zu beruhigen suchst?«

»Das laßt lieber«, erwiderte Deane; »ihr müßt euch ein ander Mal aussöhnen.«

»Dann denke ich, Schwestern, wir gehen hinaus und sehen nach den Kindern«, sagte Frau Tulliver und trocknete sich die Augen.

Dieser Vorschlag kam sehr gelegen. Tulliver kam es vor, als sei die Luft plötzlich von aufdringlichen Fliegen frei, seit die Frauen aus dem Zimmer waren. Er liebte es sehr, mit Deane gemüthlich zu plaudern, und dieses Vergnügen erlaubte die angestrengte Thätigkeit seines Schwagers nur selten. In seinen Augen war Deane der allerschlauste Mensch in seiner Bekanntschaft und hatte überdies eine so schlagfertige Zunge, womit es bekanntlich bei Tulliver selbst nicht zum besten aussah. Nun waren endlich die Frauen fort, und man konnte ohne leichtfertige Unterbrechung ein ernsthaftes Gespräch führen – so nämlich, daß man seine Ansichten über den Herzog von Wellington austauschte, der sich bei der Frage der Katholiken-Emanzipation in einem so gänzlich neuen Lichte gezeigt hatte, und daß man etwas wegwerfend über sein Verfahren in der Schlacht von Waterloo sprach, die er gewiß nie gewonnen hätte, wenn nicht so viele Engländer da gewesen wären, von Blücher und den Preußen ganz zu schweigen, die, wie Tulliver von einem sehr genau unterrichteten Manne gehört hatte, grade zur rechten Zeit angekommen seien; über diesen letzteren Punkt erhob sich dann wieder ein kleiner Streit, indem Schwager Deane von den Preußen nicht ganz viel wissen wollte und aus dem ungeschickten Bau ihrer Schiffe, so wie der wenig befriedigenden Art des Geschäfts mit Danziger Bier, einen ziemlich ungünstigen Schluß auf die Tüchtigkeit der Preußen im allgemeinen zog. Auf diesem Punkte einigermaßen geschlagen, setzte Tulliver seine Befürchtungen auseinander, England würde doch nie wieder, was es früher gewesen, aber sein Schwager, dessen Haus sich einer steigenden Einnahme erfreute, sah natürlich die Sache günstiger an und brachte über den Stand der Einfuhr, namentlich in Häuten und Getreide, einige Thatsachen vor, welche Tulliver's düstere Auffassung einigermaßen beruhigten und den Zeitpunkt noch nicht ganz so nahe erscheinen ließen, wo das Land ganz und gar den Papisten und Radikalen zur Beute würde und ehrliche Leute nichts mehr zu hoffen hätten.

Schwager Pullet saß ruhig dabei und hörte mit offenen Augen diesen bedeutsamen Verhandlungen zu. Er verstand sich nicht auf Politik, hielt sie für ein besonderes »Talent«, aber so viel er von der Sache verstand, war dieser Herzog von Wellington doch so was ganz besonderes nicht.


 << zurück weiter >>