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Zweiter Abschnitt.
Frau Tulliver's Hausgötzen

Gretchen war fünf Stunden von Haus gewesen und dachte mit einiger Besorgniß, der Vater könnte sie vermißt und vergebens nach seinem kleinen Mädel gefragt haben. Daß sonst etwas vorgefallen sei, glaubte sie nicht.

Eilig ging sie durch den Hof und trat vor Tom in's Haus, aber beim Eintritt kam ihr zu ihrem Schrecken ein starker Tabacksgeruch entgegen. Die Thür des Wohnzimmers stand etwas offen, der Geruch kam da heraus. Wie auffallend! konnte ein Gast des Hauses jetzt im Hause rauchen? War die Mutter auch drin? Dann konnte sie gleich erfahren, daß Tom angekommen sei. Inzwischen war Tom auch in's Haus getreten, und beide sahen zusammen in das Wohnzimmer. Da saß in ihres Vaters Lehnstuhl ein derber schmutziger Kerl, den Tom schon mal gesehen haben mußte; der rauchte und trank, einen Bierkrug und Glas hatte er neben sich.

Wie ein Blitz durchzuckte es Tom; er sah, was das war. Den Exekutor im Hause haben und ausgepfändet werden, das waren ihm von früh auf geläufige Wendungen; diese Ausdrücke gehörten mit zu der Schande und dem Elend, wenn einer Bankerott machte, all sein Geld verlor, ruinirt war und zu den armen Leuten herab sank. Da nun der Vater sein ganzes Vermögen verloren hatte, so war es nur natürlich, daß ihn auch dieses Unglück noch dazu traf, und Tom erklärte sich die Sache einfach genug aus dem Verlust des Prozesses. Aber die unmittelbare Anschauung dieser Schande traf Tom viel tiefer in's Herz als die schlimmste Befürchtung, und in diesem Augenblick war es ihm, als fange seine wahre Noth jetzt erst an; bisher hatte er so zu sagen nur einen dumpfen Schmerz gefühlt; jetzt hatte ihm das Schicksal den kranken Nerv selbst berührt.

»Guten Morgen, junger Herr«, sagte der Mann im Lehnstuhl, indem er mit plumper verlegener Höflichkeit die Pfeife aus dem Munde nahm. Die beiden erschreckten jungen Gesichter waren ihm doch nicht recht geheuer. Aber ohne zu antworten, wandte sich Tom eilig von dem verhaßten Anblick weg. Gretchen hatte nicht begriffen, was der Fremde wollte; sie ging hinter Tom her und flüsterte, »wer kann das sein, Tom? was ist mit dem Mann?« Dann überkam sie plötzlich die unbestimmte Furcht, der Fremde habe vielleicht mit einem neuen Anfall ihres Vaters zu thun, und lief eilig die Treppe hinauf, horchte einen Augenblick an der Thür der Schlafkammer und trat leise auf den Zehen hinein. Da war alles still; der Vater lag besinnungslos mit geschlossenen Augen, wie sie ihn in der Morgenfrühe verlassen. Ein Dienstmädchen war da, aber ihre Mutter nicht. Das Mädchen wußte auch nicht, wo sie sei; Gretchen eilte hinaus und sagte zu Tom, der Vater schlafe ruhig, sie müßten die Mutter suchen.

Unten im Hause war Frau Tulliver nicht, auch in keinem Schlafzimmer. Oben war nur noch ein Zimmer, wo sie nicht nachgesehen hatten – die Vorratskammer, wo die Mutter ihr Leinen hatte und all die kostbaren besten Sachen, die nur bei ganz besondern Gelegenheiten in Gebrauch genommen wurden. Tom ging voraus und öffnete die Thür – da saß die Mutter zwischen allen ihren Schätzen. Eine von den Leinenkisten war offen, der silberne Theetopf war aus seinem vielen Papier losgewickelt und das beste Porzellan stand in Reihe und Glied oben auf der zweiten noch verschlossenen Leinenkiste; Eßlöffel und Kochlöffel aller Art lagen auf den Börten, und auf dem Schooße hatte die arme Frau einige Tischtücher, die mit ihrem vollen Namen: »Elisabeth Dodson« gezeichnet waren; die betrachtete sie und schüttelte den Kopf und weinte mit bitterlich verzogenem Munde.

Als Tom eintrat, ließ sie die Tücher fallen und fuhr in die Höhe.

»O mein Junge, mein Junge!« sagte sie, indem sie ihn umhalste. »Daß ich diesen Tag erleben muß! Wir sind ruinirt … wir müssen alles verkaufen … so weit hat Euer Vater mich gebracht! Wir behalten garnichts, wir sind reine Bettler … wir müssen in's Armenhaus.«

Sie küßte Tom, setzte sich wieder und nahm ein anderes Tischtuch auf den Schooß und schlug es ein wenig auseinander, um das Muster zu sehen; stumm vor Jammer standen die Kinder dabei, die Worte »Bettler« und »Armenhaus« hatten sie ganz niedergeschmettert.

»Das sind die Tischtücher, zu denen ich das Garn selbst gesponnen habe«, fuhr die Mutter fort, indem sie ein Stück Leinen nach dem andern herausnahm und mit einer Heftigkeit auseinander schlug, die um so befremdender und kläglicher schien, als die dicke blonde Frau sonst so ruhig und passiv war; wenn sie bisher mal krausen Sinnes wurde, dann war es nur auf der Oberfläche gewesen – »ja, das Garn hab' ich selbst gesponnen und der alte Hiob hat die Tücher gewebt; er brachte das Stück auf seinem Rücken nach unserm Hause, ich weiß es noch wie heute, daß ich vor der Thür stand und ihn kommen sah; da dachte ich noch nicht an euren Vater. Und das Muster hab' ich selbst ausgesucht – und so wunderschön ist's gebleicht, und gezeichnet hab' ich's auch selbst, daß alle Leute sagten, so'n Zeichnen hätten sie noch nicht gesehen; wer das Zeichen heraus haben will, der muß in's Leinen schneiden, weil's ein ganz besondrer Stich ist. Und die Tücher sollen nun alle verkauft werden und zu fremden Leuten kommen, und vielleicht schneiden sie mit Messern hinein und sie halten nicht mal so lange ich lebe. Du bekommst keins davon, mein Junge«, sagte sie und dabei blickte sie Tom mit thränenschweren Augen an, »und ich hatte sie doch für Dich bestimmt. Du solltest alle mit diesem Muster haben; Gretchen hätte die mit dem großen gewürfelten Muster gekriegt; das ist auch recht hübsch, wenn die Schüsseln noch nicht auf dem Tische stehen.«

Tom schnitten diese Worte in's Herz, aber gleich darauf regte sich sein Aerger, und mit zornglühendem Gesicht sagte er:

»Aber die Tanten, Mutter? die werden Dir das doch nicht verkaufen lassen! Wissen sie's denn schon? Sie können doch nicht Dein Leinenzeug in andrer Leute Hände kommen lassen! Hast Du denn zu ihnen hingeschickt?«

»Ja wohl, ich habe Lukas gleich hingeschickt, sowie der Exekutor in's Haus kam, und Tante Pullet ist hier gewesen und hat so geweint und immerfort gesagt, euer Vater hätte Schande gebracht über meine Familie und uns im ganzen Lande zum Gespött gemacht, und die Tischtücher mit den kleinen Punkten will sie für sich selbst kaufen, weil sie von dem Muster nicht genug kriegen kann, und die sollen nicht in andrer Leute Hände kommen, aber von dem gewürfelten hat sie schon mehr als sie gebrauchen kann. (Damit fing Frau Tulliver an, die Tischtücher wieder in die Kiste hineinzulegen, indem sie ganz mechanisch sie faltete und glatt strich.) Und Onkel Glegg ist auch hier gewesen und hat gesagt, das Bettzeug müßten sie für uns kaufen und ein paar Möbeln, damit wir uns doch setzen und schlafen könnten, aber erst muß er mit der Tante sprechen, und dann wollen sie alle herkommen und sich berathen. Aber das weiß ich doch schon, mein Porzellan kauft keiner von den Verwandten«, und damit wandte sich Frau Tulliver zu den Tassen und dem sonstigen Porzellangeschirr – »denn die Schwestern hatten alle was daran auszusetzen, als ich's kaufte; sie mochten die kleine goldne Ranke zwischen den Blumen nicht leiden. Aber besseres Porzellan hat keine von meinen Schwestern, nicht mal Schwester Pullet, und ich habe es für mein eigen Geld gekauft, was ich mir seit meinem fünfzehnten Jahre gespart hatte, und den silbernen Theetopf hab' ich mir auch gekauft, euer Vater hat keinen Pfennig dazu bezahlt, und nun hat er mich geheirathet und mich soweit gebracht. O, es ist recht hart!«

Und wieder brach die arme Frau in Thränen aus, hielt sich das Taschentuch an die Augen und schluchzte einige Zeit; dann ließ sie die Hände sinken und sagte noch immer leise schluchzend, als müsse sie sprechen, obschon sie die Stimme noch nicht beherrschen konnte:

»Und ich hab' ihm doch so oft gesagt: thu' was Du willst, Tulliver, hab' ich gesagt, aber fang keinen Prozeß an; mehr konnt' ich doch nicht thun! Ich hab's ruhig mit ansehen müssen, daß er mein eigenes Vermögen durchgebracht hat, und was für euch Kinder bleiben sollte auch; Du behältst keinen Groschen, mein Junge, aber Deine arme Mutter hat keine Schuld.«

Sie hielt Tom die Hand hin und sah aus ihren hülflosen kindlich blauen Augen kläglich zu ihm auf. Der arme Junge trat zu ihr und küßte sie, und sie fiel ihm um den Hals. Zum ersten Male in seinem Leben empfand Tom gegen den Vater ein Gefühl des Vorwurfs. Bisher war seine natürliche Neigung, andere zu tadeln, dem Vater gegenüber durch das günstige Vorurtheil zurückgehalten, er müsse immer Recht haben aus dem einfachen Grunde, weil er Tom Tulliver's Vater sei; jetzt öffneten die Klagen seiner Mutter jener Neigung auch nach der Seite des Vaters hin den Weg, und mit seiner Entrüstung gegen Wakem mischte sich eine Entrüstung anderer Art. Vielleicht war sein Vater mit Schuld daran, daß sie soweit herunter gekommen waren und zum Gespött der Leute wurden, aber von Tom Tulliver sollte niemand lange mit Verachtung sprechen. Die angeborne Kraft und Festigkeit seiner Natur fing an, sich geltend zu machen; der Aerger über die Tanten und das Gefühl, er müsse auftreten wie ein Mann und für die Mutter sorgen, gab seinem Wesen doppelte Triebkraft.

»Quäl' Dich nicht so ab, Mutter«, sagte er zärtlich; »ich werde mir bald was verdienen können, ich finde gewiß eine Stelle.«

»Gott segne Dich, mein Junge«, erwiderte die Mutter ein wenig beruhigt; dann sah sie sich wehmüthig um und sagte: »es ginge mir nicht so nahe, wenn wir die Sachen behalten könnten, wo mein Name drin steht.«

Gretchen hatte dieser Scene mit steigendem Aerger zugesehen. Die Vorwürfe gegen ihren Vater – den Vater, der halb todt da lag – schlugen all ihr Mitleid für den Jammer um das Tischzeug und Porzellan nieder, und ihr Unwille wurde noch dadurch gesteigert, daß sich ihre Selbstsucht verletzt fühlte, weil sowohl Tom als die Mutter sie stillschweigend von dem gemeinsamen Unglück ausschlossen. Gegen die hergebrachte geringschätzige Behandlung ihrer Mutter war sie schon abgestumpft, aber für die leiseste Billigung derselben von Seiten Tom's hatte sie ein sehr lebhaftes Gefühl. Das arme Gretchen war durchaus nicht lautere Hingebung, sondern machte große Ansprüche, wo sie heftig liebte. Endlich fuhr sie beinahe wild heraus:

»Mutter, wie kannst Du so sprechen? Als fragtest Du nur nach den Sachen, wo Dein Name drin steht, und nicht eben so gut nach denen, die Vaters Namen tragen! und als dürften wir nach was anderm fragen, als nach unserm lieben Vater ganz allein, wo er so daliegt und vielleicht nie wieder mit uns sprechen kann. So solltest Du auch denken, Tom! Du solltest unsern Vater von niemand tadeln lassen.«

Vor Kummer und Zorn fast erstickt, verließ Gretchen das Zimmer und setzte sich wieder an des Vaters Bett. Bei dem Gedanken, daß die Welt ihn tadeln würde, fühlte sich ihr Herz nur um so mächtiger zu ihm hingezogen. Sie haßte den Tadel; ihr Lebenlang war sie genug getadelt worden, und nichts als Aerger und Verdruß war daraus entstanden. Ihr Vater hatte sie immer vertheidigt und entschuldigt, und die liebevolle Erinnerung an diese seine Zärtlichkeit gab ihr die Kraft, für ihn alles zu thun und zu tragen.

Tom war einigermaßen entsetzt über Gretchens Ausbruch. Sie hatte gewagt, der Mutter, ja ihm selbst zu sagen, was Recht sei! Sie sollte doch allmälich wissen, daß diese herrschsüchtige, anmaßende Art sich nicht zieme. Aber als er gleich darauf zu seinem Vater in's Zimmer ging, rührte ihn der Anblick, den er da hatte, so tief, daß die leichteren Eindrücke der letzten Stunde sofort verschwanden. Als Gretchen ihm seine tiefe Bewegung ansah, ging sie zu ihm und fiel ihm um den Hals. Die beiden Kinder setzten sich an's Bett und vergaßen alles andere über dem Gefühl, daß sie einen Vater hätten und einen Kummer.


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