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Neunzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 81 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 19):

Du Erde warst auch diese Nacht beständig,
Und athmest neu erquickt zu meinen Füßen,
Beginnest schon mit Lust mich zu umgeben,
Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen
Zum höchsten Dasein immerfort zu streben.

Goethe: Faust.


Als Dorothea wieder an der Hausthür mit Martha sprach, war Lydgate im anstoßenden Zimmer, dessen Thür angelehnt stand, im Begriff auszugehen. Er hörte ihre Stimme und kam sofort zu ihr hinaus.

»Glauben Sie, daß Ihre Frau mich diesen Morgen empfangen kann?« fragte sie, nachdem sie sich überlegt hatte, daß es besser sein würde, sich jeder Anspielung auf ihren gestrigen Besuch zu enthalten.

»Ich zweifle nicht, daß sie Sie mit Vergnügen empfangen wird,« sagte Lydgate, indem er seine Gedanken über Dorothea's Aussehen unterdrückte, das ebenso verändert war wie das Rosamunden's, »wenn Sie die Güte haben wollen, näher zu treten, damit ich ihr sage, daß Sie hier sind. Sie ist, seit Sie gestern hier waren, nicht ganz wohl gewesen, aber es geht ihr diesen Morgen besser, und ich glaube gewiß, daß es sie aufheitern wird, Sie wieder zu sehen.«

Es war klar, daß Lydgate, wie Dorothea es erwartet hatte, nichts von den näheren Umständen ihres gestrigen Besuches wußte; ja, er schien zu glauben, daß sie den Besuch ganz ihrer Absicht gemäß ausgeführt habe.

Sie hatte ein kleines Billet bereit, in welchem sie Rosamunde bat, sie zu empfangen, und welches sie dem Mädchen gegeben haben würde, wenn Lydgate ihr nicht in den Weg gekommen wäre; aber jetzt sah sie dem Ergebniß seiner Meldung mit großer Besorgniß entgegen.

Nachdem er sie in den Salon geführt hatte, stand er einen Augenblick still, um einen Brief aus der Tasche zu ziehen, den er ihr dann mit den Worten gab:

»Das habe ich gestern Abend geschrieben und wollte es Ihnen auf meinem Ritt nach Lowick bringen. Wenn man für etwas zu danken hat, wofür gewöhnliche Dankesworte nicht ausreichen, so ist Schreiben doch weniger unbefriedigend als Reden, man hört doch wenigstens nicht, wie unzulänglich die Worte sind.«

Dorothea's Züge klärten sich auf.

»Ich habe Ihnen zu danken, daß Sie mir gestattet haben, den Platz einzunehmen. Sie sind doch einverstanden?« fragte sie plötzlich zweifelnd.

»Ja, die Anweisung gelangt noch heute in Bulstrode's Hände.«

Er sagte nichts weiter, sondern ging zu Rosamunden hinaus, die erst kurz zuvor mit ihrer Toilette fertig geworden war und nun da saß und sich matt fragte, was sie anfangen solle; denn ihre Gewöhnung an eine kleine Thätigkeit trieb sie, selbst in den Tagen ihrer Trübsal, sich mit irgend etwas zu beschäftigen, durch das sie sich dann hindurch schleppte oder wobei sie gelegentlich auch wieder aus Mangel an Interesse nachließ.

Sie sah krank aus, hatte aber die gewöhnliche Ruhe ihres Wesens wieder gewonnen, und Lydgate hatte sich gescheut, sie mit irgend welchen Fragen zu behelligen. Er hatte ihr von Dorothea's Brief mit der Anweisung erzählt und hatte nachher gesagt:

»Ladislaw ist wieder hier, Rosy, er hat mir gestern Abend Gesellschaft geleistet; er kommt gewiß heute wieder. Ich fand ihn etwas angegriffen und niedergeschlagen aussehend,« und Rosamunde hatte nichts erwidert.

Als er jetzt zu ihr hinauf kam, sagte er sehr sanft zu ihr:

»Liebe Rosy, Frau Casaubon ist wieder gekommen, Dich zu besuchen; Du wirst sie gewiß gern empfangen, nicht wahr?«

Daß sie erröthete und etwas zu erschrecken schien, überraschte ihn nicht, nachdem sie der gestrige Besuch in eine solche Aufregung versetzt hatte, eine wohlthätige Aufregung, wie er meinte, da sie ihm in Folge derselben ihr Herz wieder zugewandt zu haben schien.

Rosamunde wagte es nicht, nein zu sagen. Nicht einmal mit einem Ton ihrer Stimme wagte sie es, die gestrigen Vorfälle zu berühren. Warum aber war Frau Casaubon wieder gekommen? Darauf wußte sie keine Antwort, und sie konnte sich einer geheimen Furcht nicht erwehren, denn Will Ladislaw's zerfleischende Worte hatten jeden Gedanken an Dorothea zu einem frischen Schmerz für sie gemacht. Gleichwohl wagte sie in ihrer neuen demüthigenden Unsicherheit nichts zu thun als zuzustimmen.

Sie sagte nicht ja; aber sie stand auf und ließ Lydgate einen leichten Shawl über ihre Schultern werfen, während er sagte:

»Ich muß gleich fortgehen.«

Dann fiel ihr plötzlich etwas ein, was sie sagen ließ:

»Bitte, sage Martha, daß sie Niemand anders in den Salon führt.«

Und Lydgate stimmte zu und glaubte diesen Wunsch vollständig zu verstehen. Er führte sie an die Thür des Salons hinunter und ging dann fort, indem er bei sich dachte, er sei doch ein recht kläglicher Ehemann, daß er sich für das Vertrauen seiner Frau zu ihm auf eine andere Frau verlassen müsse.

Wie Rosamunde, als sie auf Dorothea zuging, ihren weichen Shawl dichter um sich zog, hüllte auch ihre Seele sich in eine kalte Zurückhaltung. War Frau Casaubon gekommen, um ihr etwas über Will zu sagen? Wenn das der Fall sein sollte, so würde Rosamunde diese Freiheit sehr unangenehm empfinden, und sie bereitete sich darauf vor, jedem Worte Dorothea's mit höflicher Unnahbarkeit zu begegnen.

Will hatte ihren Stolz zu empfindlich verletzt, als daß sie ihm und Dorotheen gegenüber etwas von Reue hätte empfinden sollen; ihr war nach ihrer Meinung bei weitem das größere Unrecht geschehen. Dorothea war nicht nur die ›vorgezogene‹ Frau; sie hatte auch einen gewaltigen Vortheil dadurch vor ihr voraus, daß sie Lydgate's Wohlthäterin war, und der schmerzlich verwirrten Vorstellungsweise der armen Rosamunde schien es, daß diese Frau Casaubon, welche in allen Dingen, die sie betrafen, prädominirte, jetzt mit dem Bewußtsein ihrer vortheilhaften Stellung und mit der feindseligen Absicht, sich derselben gegen sie zu bedienen, gekommen sein müsse.

In der That würde sich wohl nicht blos Rosamunde, sondern Jeder, der nur die äußeren Umstände des Falles gekannt und nichts von der einfachen Eingebung, nach welcher Dorothea handelte, gewußt hätte, verwundert gefragt haben, warum sie gekommen sei.

In ihrer ganzen Erscheinung gleichsam der liebliche Geist ihrer selbst, ihre anmuthige schlanke Gestalt in einen weißen weichen Shawl gehüllt, mit dem Ausdruck der Milde und Unschuld um den runden kindlichen Mund und die Wangen, blieb Rosamunde in einer Entfernung von zehn Schritten vor Dorotheen stehen und verneigte sich.

Aber Dorothea, die in einem Gefühl, dem sie nie zu widerstehen vermochte, wenn sie sich frei fühlen wollte, ihre Handschuhe ausgezogen hatte, trat Rosamunden entgegen und streckte ihr mit einem traurigen, aber offenem Ausdruck die Hand entgegen. Rosamunde konnte nicht umhin, ihrem Blick zu begegnen und ihre kleine Hand in die dargereichte Hand Dorothea's zu legen, welche sie mit sanfter Mütterlichkeit drückte, und sofort regte sich in ihr ein Zweifel an der Berechtigung ihrer vorgefaßten Meinung. Rosamunde hatte einen raschen Blick für Physiognomien; sie sah, daß Dorothea's Gesicht bleich und verändert, aber milde und sanft wie ihre feste Hand aussah.

Aber Dorothea hatte ein wenig zu sicher auf ihre eigene Kraft gebaut; die Klarheit und Intensität ihrer, diesen Morgen vollbrachten Geistesarbeit waren doch nur die Ausläufer einer nervösen Exaltation gewesen, welche ihren Körper so empfindlich gegen jede Berührung machte wie ein Stück des feinsten venetianischen Krystalls; und als sie Rosamunde ansah, schwoll ihr plötzlich das Herz, und sie vermochte nicht zu reden; sie bedurfte des ganzen Aufgebots ihrer inneren Kraft, um ihre Thränen zurückzuhalten. Es gelang ihr und die innere Bewegung malte sich nur flüchtig in ihren Zügen wie der Geist eines Seufzers, verstärkte aber bei Rosamunden den Eindruck, daß es mit Frau Casaubon's Gemüthszustande ganz anders beschaffen sein müsse, als sie es sich vorgestellt habe.

So setzten sie sich, ohne ein Wort mit einander gewechselt zu haben, auf die beiden gerade zunächst stehenden Stühle und fanden sich in Folge dessen dicht neben einander, während Rosamunde, als sie sich zuerst verneigte, geglaubt hatte, sie würde sich in großer Entfernung von Frau Casaubon halten. Aber sie gab es auf, darüber nachzudenken, wie alles endigen werde, und fragte sich nur verwundert, was wohl kommen werde.

Und Dorothea fing an, ganz einfach zu reden, und gewann beim Reden bald ihre Festigkeit wieder.

»Ich hatte gestern hier etwas auszurichten, womit ich nicht fertiggeworden bin, darum bin ich heute so zeitig wieder hier. Sie werden mich nicht aufdringlich finden, wenn ich Ihnen sage, daß ich gekommen bin, um über die Ungerechtigkeit, mit der man Ihren Mann behandelt hat, mit Ihnen zu reden. Es wird Ihnen wohlthun – nicht wahr? sehr Vieles über ihn zu erfahren, worüber er vielleicht nicht gern spricht, gerade weil es zu seiner Rechtfertigung dient und ihm zur Ehre gereicht. Werden Sie es nicht gern hören, daß Ihr Mann warme Freunde hat, die nicht aufgehört haben, an seinen reinen Charakter zu glauben? Sie werden mir gewiß erlauben, darüber zu reden, ohne zu finden, daß ich mir etwas herausnehme?«

Der herzliche, befürwortende Ton welcher mit großmüthiger Rückhaltlosigkeit über allen den Thatsachen zu schweben schien, die Rosamunden als eben so viele Gründe der Entfremdung und des Hasses zwischen ihr und dieser Frau erschienen, berührte ihre ängstlich zurückweichende Furchtsamkeit wohlthätig wie ein warmer Luftstrom. Diese Erleichterung war für Rosamunde zu groß, als daß sie in jenem Augenblicke noch viel anderes hätte empfinden sollen.

Sie antwortete anmuthig in dem frischen Behagen ihrer Seele:

»Ich weiß, Sie sind sehr gütig gewesen. Ich werde gern Alles hören, was Sie mir über Tertius sagen wollen.«

»Vorgestern,« sagte Dorothea, »wo ich ihn gebeten hatte, zu mir nach Lowick hinauszukommen, um mir seine Ansicht über die Angelegenheiten des Hospitals mitzutheilen, hat er mir alles in Betreff seines Benehmens und seiner Gefühle, bei diesem traurigen Vorfall, welcher ihm die Verdächtigungen unwissender Menschen zugezogen hat, erzählt. Der Grund, weshalb er mir das sagte, war, weil ich kühn genug war, ihn zu fragen. Ich war überzeugt, daß er nie etwas Unehrenhaftes gethan haben könne, und ich bat ihn, mir die Geschichte zu erzählen. Er gestand mir, daß er sie noch Niemandem, selbst Ihnen nicht erzählt habe, weil es ihm widerstrebe, zu sagen, ›Ich habe nichts Unrechtes gethan‹, als ob das für einen Beweis gelten könne, da ja Schuldige ebenso redeten. Die Wahrheit ist, daß er nichts von jenem Raffles und nichts davon gewußt hat, daß sich an die Person desselben schlimme Geheimnisse knüpften, und daß er geglaubt hat, Herr Bulstrode biete ihm das Geld an, weil er es aus Herzensgüte bereue, das Darlehen vorher verweigert zu haben. Seine ganze Sorge war, seinen Patienten richtig zu behandeln, und es machte ihn etwas betroffen, daß der Fall nicht den von ihm erwarteten Ausgang nahm; er dachte damals und denkt noch jetzt, es könne dabei möglicherweise von Niemandem etwas Unrechtes geschehen sein. Und das habe ich Herrn Farebrother und Herrn Brooke und Sir James Chettam mitgetheilt, und sie glauben alle an die Rechtlichkeit Ihres Mannes. Das muß Sie doch freuen und Ihnen neuen Muth geben, nicht wahr?«

Dorothea's Züge hatten sich belebt, und als ihr Gesicht dem Rosamunden's ganz nahe kam, empfand die letztere, diesem selbstvergessenen Feuereifer gegenüber etwas wie verschämte Schüchternheit in Gegenwart eines Höherstehenden.

Erröthend und verlegen sagte sie:

»Ich danke Ihnen, Sie sind sehr gütig.«

»Und er war von dem ihm widerfahrenen Unrecht so durchdrungen, daß er sich nicht entschließen konnte, sich über Alles gegen Sie auszusprechen. Aber Sie werden ihm verzeihen. Er schwieg, weil ihm Ihr Glück mehr als alles Andere am Herzen liegt; er fühlt sein Leben so eng mit dem Ihrigen verknüpft, und der Gedanke, daß sein Unglück Sie kränken muß, ist ihm kränkender als irgend etwas. Er konnte sich gegen mich, die ich ihm gleichgültig bin, aussprechen. Und da habe ich ihn gebeten, ob ich Sie besuchen dürfe, weil ich so innigen Antheil an seinem und Ihrem Ungemach nehme. Deshalb bin ich gestern hergekommen und deshalb komme ich heute wieder. Ungemach ist so schwer zu tragen, nicht wahr? Wie können wir leben und wissen, daß Jemand unter Widerwärtigkeiten leidet, unter marternden Widerwärtigkeiten, ohne zu versuchen, ob wir ihm nicht helfen können?«

Dorothea, war so ganz von den Gefühlen, denen sie Ausdruck gab, hingenommen, daß sie an nichts dachte, als daß sie aus innerster eigener Erfahrung mit Rosamunden rede. Ihre innere Bewegung hatte sich mehr und mehr auch ihrem Ausdruck mitgetheilt, bis der Ton ihrer Stimme Einem durch Mark und Bein hätte dringen können, wie die leise Wehklage eines leidenden Geschöpfes im Dunkel der Nacht.

Und wieder hatte sie unbewußt ihre Hand auf die kleine Hand gelegt, die sie schon vorher gedrückt hatte.

Rosamunde brach, von innerem Weh überwältigt, wie wenn man ihr die Sonde in eine Wunde gesenkt hätte, in krampfhaftes Weinen aus, wie sie es Tags zuvor gethan hatte, als sie sich an Lydgate anklammerte.

Auf die arme Dorothea stürmte ihr eigener Kummer gewaltsam wieder ein; sie mußte nothgedrungen an den Antheil denken, den Will Ladislaw möglicherweise an Rosamunden's innerem Aufruhr habe. Sie fing an zu fürchten, es möchte ihr nicht gelingen, sich bis zum Ende ihres Besuches zu beherrschen, und während ihre Hand noch auf Rosamunden's Schoß lag, obgleich diese ihre darunterliegende Hand zurückgezogen hatte, kämpfte sie gegen ihre eigenen aufsteigenden Thränen.

Sie suchte die Herrschaft über sich selbst durch den Gedanken wieder zu gewinnen, daß es sich hier vielleicht um einen Wendepunkt für drei Leben, – nicht für ihr eigenes, nein was diesem geschehen war, war unwiderruflich –, für die drei Leben handele, welche durch Gefahr und Unglück ein heilig nahes Anrecht an das ihrige hatten. Vielleicht war es noch Zeit, das zarte zerbrechliche Geschöpf, das da weinend vor ihr saß, von dem Elend falscher unvereinbarer Bande zu befreien, und ein Augenblick wie dieser kehrte nie wieder; sie und Rosamunde konnten nie wieder beide mit derselben erschütternd frischen Erinnerung an das gestern Vorgefallene zusammen kommen. Sie fühlte, daß die zwischen ihnen bestehende Beziehung eigenthümlich genug sei, um ihr einen besonderen Einfluß einzuräumen, obgleich sie keine Ahnung davon hatte, daß die Art, wie ihre eigenen Gefühle dabei im Spiele waren, Rosamunden vollkommen bekannt sei.

Rosamunde durchlebte eine innere Krisis, von deren Neuheit selbst Dorothea keine Vorstellung hatte; sie erlebte die erste große Erschütterung ihrer Traumwelt, in welcher sie bisher so voll Zuversicht zu sich selbst und so kritisch gegen Andere einhergewandelt war, und die sonderbare unerwartete Kundgebung der Gefühle einer Frau, welcher sie sich mit scheuer Abneigung und mit Furcht, in der sicheren Voraussetzung genähert hatte, daß sie eifersüchtigen Haß gegen sie hegen müsse, machte ihre Seele nur um so unsicherer in dem Bewußtsein, daß sie in einer Welt der Fiction gewandelt sei, die eben über ihr zusammenbreche.

Als Rosamunden's convulsivisches Weinen endlich bei wiederkehrender Ruhe nachließ und sie das Schnupftuch, in welches sie ihr Gesicht vergraben hatte, wieder wegzog, begegneten ihre Augen denen Dorotheen's mit einem so hülflosen Ausdruck, als wären sie blaue Blumen. Was konnte es ihr nützen, nach diesem Thränenausbruch noch an ihr Benehmen zu denken. Und Dorothea, welche die Spur einer stillen Thräne nicht weggewischt hatte, sah fast eben so kindlich aus. Von Stolz konnte zwischen diesen Beiden nicht mehr die Rede sein.

»Wir sprachen von Ihrem Mann,« sagte Dorothea etwas schüchtern. »Ich fand sein Aussehen neulich durch seine Leiden traurig verändert. Ich hatte ihn seit vielen Wochen nicht gesehen; er sagte, er habe sich in dieser Zeit der Prüfung sehr einsam gefühlt; aber er würde es alles besser haben ertragen können, wenn er ganz offen gegen Sie hätte sein dürfen.«

»Tertius wird so böse und ungeduldig, wenn ich irgend etwas sage,« entgegnete Rosamunde, in der Meinung, daß er sich gegen Dorothea über sie beklagt habe. »Er kann sich nicht wundern, daß ich nicht gern über peinliche Dinge mit ihm rede.«

»Er hat sich selbst getadelt, daß er nicht mit Ihnen gesprochen hat,« sagte Dorothea. »Was er von Ihnen sagte, war, daß er nicht glücklich sein könne, wenn er irgend etwas thue, was sie unglücklich mache – daß seine Ehe natürlich eine Fessel sei, die alle seine Entschlüsse beeinflussen müsse; und aus diesem Grunde lehnte er meinen Vorschlag, in seiner Stellung am Hospital zu verbleiben, ab, weil ihn das zwingen würde, in Middlemarch zu bleiben, und weil er nichts unternehmen möchte, was Ihnen peinlich sein würde. Er konnte mir das sagen, weil er weiß, daß ich in meiner Ehe in Folge der Krankheit meines Mannes, welche ihn in seinen Arbeiten hinderte und traurig stimmte, schwere Zeiten durchgemacht habe, und er weiß, daß ich es an mir selbst erfahren habe, wie hart es ist, immer in der Furcht zu leben, einen Anderen, der uns verbunden ist, zu verletzen.«

Dorothea hielt einen Augenblick inne; sie hatte einen Schimmer von Freude auf Rosamunden's Gesicht aufleuchten gesehen. Aber Rosamunde antwortete nicht, und Dorothea fuhr mit einer immer mehr zitternden Stimme fort:

»Die Ehe ist ein von allen übrigen so ganz verschiedenes Verhältniß. In der Enge der Beziehungen, die sie mit sich bringt, liegt sogar etwas Furchtbares. Selbst wenn wir jemand Anderen mehr als – mehr als unseren Mann liebten, so könnte es zu nichts führen.« Die arme Dorothea vermochte in ihrer angstvollen Beklommenheit nur gebrochen zu reden, – »ich meine, die Ehe absorbirt alle unsere Fähigkeit, Segen in dieser Art von Liebe zu spenden oder zu empfangen. Ich weiß, eine solche Liebe kann uns sehr theuer sein, aber sie mordet unsere Ehe, und dann haftet die Ehe an uns wie ein Mord, und alles Uebrige ist verschwunden. Und wenn uns dann unser Mann geliebt und uns vertrauet hat – und wir haben ihm nicht geholfen, sondern einen Fluch über sein Leben gebracht …«

Sie hatte ihre Stimme ganz sinken lassen, es befiel sie Furcht, daß sie zu weit gehe und daß sie rede, wie wenn sie die Vollkommenheit selbst wäre und mit dem Irrthum spräche. Sie war von ihrer eigenen Bekümmerniß zu sehr präoccupirt, um zu merken, daß auch Rosamunde zittere, und war mehr von dem Bedürfniß erfüllt, ihre Theilnahme an einem gemeinsamen Loose auszusprechen als Vorwürfe zu machen.

Sie legte ihre Hände auf Rosamunden's Hände und sagte in noch aufgeregterer Hast:

»Ich weiß – ich weiß, daß uns das Gefühl sehr theuer sein kann – unversehens ergreift es Besitz von uns – es ist so hart, es kann uns wie der Tod erscheinen, uns davon zu trennen – und wir sind schwach – ich bin schwach –«

Die Wogen ihres eigenen Kummers, aus deren Drang sie sich zu befreien suchte, um eine Andere zu retten, droheten sie selbst zu überfluthen. Sie hielt in sprachloser Aufregung inne ohne zu weinen, aber mit dem Gefühl, als ob sie innerlich mit Klammern festgehalten werde. Ihr Gesicht bedeckte eine noch tödtlichere Blässe; ihre Lippen zitterten, und sie preßte ihre Hände wie hülflos auf die darunter liegenden Hände Rosamunden's.

Als Rosamunde sich von einer stärkeren inneren Bewegung, als die sie selbst empfand, erfaßt, als sie sich in eine neue Anschauung hinein gedrängt sah, welche ihr alle Dinge in einem neuen, furchtbaren, unbestimmten Lichte erscheinen ließ, vermochte sie keine Worte zu finden, drückte aber unwillkürlich ihre Lippen auf Dorothea's Stirn, die ihr ganz nahe war, und dann hielten die beiden Frauen sich eine Minute lang fest umschlungen, wie wenn sie zusammen Schiffbruch gelitten hätten.

»Sie glauben etwas, was nicht wahr ist,« flüsterte Rosamunde hastig, während Dorothea's Arm sie noch umschlang, gedrängt von einem geheimen Bedürfniß, sich von etwas zu befreien, das sie bedrückte, als wäre es eine Blutschuld.

Sie rissen sich wieder von einander los und sahen sich an.

»Als Sie gestern ins Zimmer traten, war es nicht so, wie Sie dachten,« sagte Rosamunde in demselben Ton.

Auf Dorothea's Gesicht malte sich etwas wie erstaunte Aufmerksamkeit. Sie erwartete eine Rechtfertigung Rosamunden's.

»Er sagte mir, daß er eine andere Frau liebe, auf daß ich wissen möge, daß er mich nie lieben könne,« sagte Rosamunde, immer hastiger werdend, je länger sie sprach. »Und jetzt, glaube ich, haßt er mich, weil – weil Sie gestern seine Verfahren mißdeuteten. Er sagte, ich sei Schuld, daß Sie schlecht von ihm denken, ihn für falsch halten werden. Aber ich will nicht Schuld daran sein. Er hat mich nie geliebt, das weiß ich gewiß; er hat immer gering von mir gedacht. Er sagte gestern, es gebe für ihn keine Frau außer Ihnen. Der Tadel für das Vorgefallene trifft nur mich. Er sagte, er werde sich nie gegen Sie aussprechen können und das um meinetwillen. Er sagte, Sie würden nie wieder gut von ihm denken können. Aber jetzt habe ich Ihnen alles gesagt, und er kann mir keinen Vorwurf mehr machen.«

Rosamunde hatte ihre Seele, von Antrieben, die sie bisher nicht gekannt hatte, geleitet, befreit. Sie hatte ihr Bekenntniß unter dem überwältigenden Einfluß von Dorothea's innerer Bewegung angefangen, im weiteren Verlauf desselben aber war ihr das Bewußtsein aufgegangen, daß sie damit Will's Vorwürfe, die noch wie eine Wunde in ihr brannten, zurückweise.

Die Eindämmung der Gefühle, welche sich in Dorotheen vollzog, war zu gewaltsam; als daß man ihre Empfindung eine freudige hätte nennen können. Es tobte in ihr ein Kampf der Gefühle, welchen die Anstrengung der Nacht und des Morgens zu einem schmerzlichen machte: – Sie konnte nur begreifen, daß es Freude sein werde, sobald sie die Fähigkeit, Freude zu empfinden, wieder erlangt haben würde.

Was sie zunächst empfand, war eine rückhaltlose Sympathie; sie konnte jetzt ohne Anstrengung Rosamunden ihre ganze Theilnahme zuwenden und antwortete nachdrücklich auf ihre letzten Worte:

»Nein, er kann Ihnen keinen Vorwurf machen.«

Mit ihrer gewohnten Neigung, das Gute an Anderen zu überschätzen, öffnete sie ihr Herz weit für Rosamunde, wegen der großmüthigen Anstrengung, mit welcher sie sie von ihren Leiden befreit hatte, ohne daran zu denken, daß diese Anstrengung nur ein Reflex ihrer eigenen Energie gewesen sei.

Nach einer Pause sagte sie:

»Es thut Ihnen also nicht leid, daß ich heute zu Ihnen gekommen bin?«

»Nein, Sie sind sehr gütig gegen mich gewesen,« erwiderte Rosamunde. »Ich hatte nicht geglaubt, daß Sie so gütig sein würden. Ich war sehr unglücklich und bin auch jetzt noch nicht glücklich. Es ist Alles so traurig.«

»Es werden aber bessere Tage kommen,« erwiderte Dorothea. »Ihr Mann wird nach Verdienst geschätzt werden, und es hängt von Ihnen ab, ihm sein inneres Behagen wieder zu geben. Er liebt Sie über Alles. Der schlimmste Verlust für Sie würde es sein, wenn Sie diese Liebe verloren hätten – und Sie haben sie nicht verloren.«

Sie versuchte es, den überwältigenden Gedanken an ihre eigene Befreiung zurückzudrängen, auf daß ihr kein Anzeichen von Rosamunden's wiederkehrender Liebe zu ihrem Manne entgehen möge.

»Tertius hat also nichts an mir auszusetzen gehabt?« fragte Rosamunde, die jetzt begriff, daß Lydgate wohl etwas zu Frau Casaubon gesagt haben könne, die ja ganz anders sei als andere Frauen. Vielleicht war ein leiser Anflug von Eifersucht hier mit im Spiel.

Mit einem leichten Lächeln sagte Dorothea:

»Nein gewiß nicht! Wie konnten Sie das nur glauben?«

Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Thür, und Lydgate trat ein.

»Ich komme wieder in meiner Eigenschaft als Arzt,« sagte er. »Nachdem ich fortgegangen war, verfolgten mich zwei bleiche Gesichter; Frau Casaubon sah ebenso Pflege bedürftig aus, wie Du Rosy. Und es schien mir, daß ich meine Pflicht versäumt habe, als ich Sie beide verließ, und so bin ich, nachdem ich bei Coleman war, wieder hergekommen. Ich habe gesehen, daß Sie zu Fuß gekommen sind, Frau Casaubon, und der Himmel hat sich bezogen; ich glaube wir bekommen Regen. Darf ich Jemanden hinschicken, Ihren Wagen für Sie zu bestellen?«

»O nein! Ich brauche das Wetter nicht zu scheuen, das Gehen thut mir gut,« entgegnete Dorothea, deren Gesicht jetzt voll Leben war, indem sie aufstand. »Ihre Frau und ich haben lange geplaudert, und ich muß jetzt fort. Man hat mir von jeher vorgeworfen, daß ich mich nicht mäßigen könne und immer zu viel rede.«

Sie streckte Rosamunden die Hand entgegen, und sie nahmen ernst und ruhig ohne Kuß oder eine sonstige demonstrative Herzensergießung von einander Abschied. Ihre Unterhaltung hatte eine zu tiefe innere Bewegung in ihnen Beiden hervorgerufen, als daß sie sich oberflächlicher äußerlicher Anzeichen derselben hätten bedienen mögen.

Als Lydgate sie bis an die Thür geleitete, sagte sie nichts von Rosamunden, erzählte ihm aber von Farebrother und den anderen Freunden, die seiner Darstellung des Sachverhalts vollen Glauben geschenkt hätten.

Als er zu Rosamunden zurückkehrte, hatte sie sich bereits in resignirter Erschöpfung auf's Sopha geworfen.

»Nun Rosy,« sagte er, indem er sich über sie hinbeugte und ihr Haar berührte, »was denkst Du jetzt, nachdem Du sie so lange gesprochen hast, von Frau Casaubon?«

»Ich glaube, sie ist besser als alle anderen Menschen,« erwiderte Rosamunde, »und sie ist sehr schön. Wenn Du so oft zu ihr gehst und Dich mit ihr unterhältst, wirst Du roch unzufriedener mit mir werden als bisher!«

Lydgate lachte über dieses, ›so oft‹ und sagte, »Aber hat sie Dich etwas weniger unzufrieden mit mir gemacht?«

»Ich glaube, ja!« erwiderte Rosamunde, indem sie zu ihm aufschaute. »Wie matt sehen Deine Augen aus, Tertius, und streiche Dein Haar zurück.«

Er erhob seine große weiße Hand, um ihr zu gehorchen und war dankbar für diesen kleinen Beweis ihres Interesses an ihm. Die schweifende Phantasie der armen Rosamunde war furchtbar gegeißelt von ihren Streifzügen zurückgekehrt, so gedemüthigt, daß sie sich gern wieder unter dem alten, verachteten Schutzdach einnistete.

Und das Schutzdach war noch vorhanden, Lydgate hatte sich in sein jetzt so eingeengtes Loos mit trauriger Resignation gefunden. Er hatte dieses zerbrechliche Geschöpf für sich gewählt und hatte die Last ihres Lebens auf sich genommen. Mitleidig mußte er diese Last tragen und, mit ihr beladen, wandern, so gut es gehen wollte.



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