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Viertes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 66 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 4):

'Tis one thing to be tempted, Escalus,
Another thing to fall.

Shakespeare: Measure for Measure.


Lydgate hatte sicherlich gute Gründe, sich des Dienstes zu freuen, welchen seine Praxis ihm dadurch leistete, daß sie ein Gegengewicht gegen seine persönlichen Sorgen bildete. Es fehlte ihm jetzt an der zu anhaltenden Studien und speculativem Denken erforderlichen Energie und Freiheit des Geistes; aber am Krankenbette seiner Patienten brachten ihm die von außen her direkt an sein Urtheil und seine Sympathien gemachten Ansprüche den sonst entbehrten Impuls, der nöthig war, um ihn aus sich heraus zu reißen.

Es war nicht einfach jener wohlthätige Panzer der Routine, welcher den Einfältigen eine respectable Existenz sichert und den Unglücklichen die Möglichkeit gewährt, wenigstens ruhig zu leben – es war vielmehr ein beständiger Aufruf zu unmittelbarer Anwendung der Denkkraft und zur Erwägung der Bedürfnisse und der Beschwerden Anderer.

Viele von uns würden bei einem Rückblick auf ihr Leben bekennen müssen, daß der gütigste Mann, den sie je gekannt haben, ein Arzt war, ein Arzt, dessen feiner von der tiefsten Beobachtung geleiteter Takt uns bei unsern Leiden größere Wohlthaten erwiesen hat, als je ein Wunderthäter. Etwas von diesem zwiefachen Segen begleitete Lydgate immer bei seiner Thätigkeit im Hospital und in Privathäusern und diente ihm besser, als es irgend ein Opiat hätte können, ihn in seinen Sorgen und seinem Gefühle geistigen Verfalls zu beruhigen und aufrecht zu erhalten.

Und doch war auch Farebrother's Argwohn in Betreff des Opiats gegründet. Unter dem ersten bittern Druck drohender Verlegenheiten und in der ersten Erkenntniß, daß seine Ehe, wenn sie nicht eine einsame Knechtschaft werden solle, eine fortwährende Anstrengung, zu lieben, ohne allzuviel nach der Gegenliebe zu fragen, sein müsse, hatte er es ein- oder zweimal mit einer Dosis Opium versucht. Aber er hatte kein Verlangen nach solchen Mitteln, sich auf Momente aus den Klauen des drohenden Elends zu befreien. Er war stark und konnte viel Wein vertragen, machte sich aber nichts daraus und trank, wenn die Männer um ihn her geistige Getränke genossen, Zuckerwasser; denn selbst die ersten Stadien der durch geistige Getränke hervorgerufenen Aufregung erfüllten ihn mit geringschätzigem Mitleid.

Ebenso verhielt ex sich zum Spiel. Er hatte in Paris sehr oft Spielen gesehen und das Gebahren der Spieler dabei beobachtet, als ob es eine Krankheit wäre. Der Spielgewinn reizte ihn so wenig wie das Trinken. Er hatte sich gesagt, daß er nur auf einen Gewinn Werth legen könne, der durch den gewissenhaften Prozeß einer wohlthätig wirkenden, hohen geistigen Combination erreicht würde. Die Macht, nach welcher es ihn verlangte, konnte sich nicht in Gestalt nervös aufgeregter Finger, die einen Haufen Gold zusammenraffen, oder der halb barbarisch, halb stumpfsinnig triumphirenden Blicke eines Mannes darstellen, der die Einsätze von zwanzig bitter enttäuschten Genossen einstreicht.

Aber gerade wie er es mit dem Opium versucht hatte, fing er jetzt an sich mit dem Gedanken an das Spiel zu beschäftigen, nicht aus Lust an der Aufregung desselben, sondern mit einer Art von sehnsüchtiger innerer Ausschau nach jener leichten Art, sich Geld zu verschaffen, bei welcher man niemand mit Bitten anzugehen braucht und welche keine Verantwortlichkeit mit sich bringt. Wenn er um diese Zeit in London oder Paris gewesen wäre, so würden ihn solche Gedanken bei vorhandener Gelegenheit wahrscheinlich in ein Spielhaus geführt haben, nicht mehr um die Spieler, sondern um mit einem dem ihrigen verwandten Eifer das Spiel zu beobachten. Seinen Widerwillen gegen das Spiel würde das dringende Bedürfniß des Gewinns, wenn das Glück ihm hätte hold sein wollen, überwunden haben.

Ein Vorgang, der sich nicht lange, nachdem sich ihm die vage Aussicht auf eine Unterstützung von Seiten seines Onkels verschlossen hatte, zutrug, zeigte deutlich, wie eine ausgiebige Gelegenheit zum Spiel jetzt auf ihn gewirkt haben würde.

Das Billardzimmer im ›Grünen Drachen‹ war der beständige Versammlungsort einer gewissen Gesellschaft, deren Mitglieder größtentheils, wie unser Bekannter Herr Bambridge, für Vergnüglinge gelten. Hier war es, wo der arme Fred Vincy einen Theil seiner denkwürdigen Schuld contrahirt, wo er, nachdem er sein Geld mit Wetten verloren hatte, genöthigt gewesen war, von Mitgliedern jener lustigen Gesellschaft zu borgen.

Es war in Middlemarch allgemein bekannt, daß auf diese Weise viel Geld gewonnen und verloren werde, und der dadurch bewirkte üble Ruf des ›Grünen Drachen‹, als eines Hauses der Ausschweifung, machte für gewisse Kreise die Versuchung, diesen Ort zu frequentiren, nur um so größer. Wahrscheinlich hätten die Stammgäste desselben gern, wie die Eingeweihten der Freimaurerei, etwas Wichtiges in Betreff ihres Versammlungsortes zu verschweigen gehabt; aber sie bildeten keine geschlossene Gesellschaft, und viele anständige alte und junge Leute kehrten gelegentlich in das Billardzimmer ein, um mit anzusehen, wie es dort herging.

Lydgate, der eine geschickte Hand für das Billard hatte und das Spiel liebte, hatte in der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Middlemarch gelegentlich ein paar Parthien im ›Grünen Drachen‹ gespielt; aber später hatte es ihm sowohl an Zeit zum Spielen wie an Geschmack für die dort anzutreffende Gesellschaft gefehlt.

Eines Abends jedoch hatte er Veranlassung, Herrn Bambridge hier aufzusuchen. Der Pferdehändler hatte versprochen, ihm einen Abnehmer für sein noch übriges gutes Pferd zu verschaffen, an dessen Stelle Lydgate entschlossen war, sich mit einem billigen Gaul zu behelfen; er hoffte durch dieses bescheidenere Auftreten vielleicht zwanzig Pfund zu erübrigen, und es kam ihm jetzt auf jede noch so kleine Summe an, sofern er in derselben ein Mittel erblickte, seine Lieferanten hinzuhalten.

Da er gerade vorüberging, war es nur eine Zeitersparniß für ihn, wenn er rasch hinauf lief. Bambridge war noch nicht da, würde aber, wie sein Freund Horrock sagte, sicher bald kommen, und Lydgate spielte zum Zeitvertreib eine Parthie Billard. Auch an diesem Abend hatte er die glänzenden, weitoffenen Augen und die ungewöhnliche Lebhaftigkeit, welche Farebrother schon vor einiger Zeit an ihm aufgefallen waren. Seine so seltene Anwesenheit wurde in dem Billardzimmer, wo sich eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft eingefunden hatte und wo sowohl mehrere Zuschauer als einige Spieler lebhaft wetteten, allgemein bemerkt.

Lydgate spielte gut und fühlte sich sicher. Rund um ihn her wurden Wetten geschlossen; rasch fuhr es ihm durch den Kopf, daß er leicht so viel gewinnen könne, um die durch den Umtausch seines Pferdes ersparte Summe, zu verdoppeln, und er fing an, auf sein eigenes Spiel zu wetten, und gewann wieder und wieder.

Inzwischen war Bambridge eingetreten, aber ohne daß Lydgate ihn bemerkt hätte. Er war nicht nur aufgeregt durch das Spiel, sondern es erwachte auch die Vorstellung in ihm, wie er am nächsten Tage nach Brassing, wo höher gespielt wurde, gehen wolle, um dort mit einem kühnen Griff den Teufelsköder ohne den Angelhaken zu erhaschen und sich dadurch Befreiung von seinen täglichen Sorgen zu verschaffen.

Er war noch immer im Gewinnen, als zwei neue Gäste eintraten. Der eine war der junge Hawley, der eben seine juristischen Studien in London absolvirt hatte, und der andere war Fred Vincy, der neuerdings mehrere Abende an diesem früher soviel von ihm frequentirten Orte zugebracht hatte.

Der junge Hawley war ein vollendeter Billardspieler und trat jetzt mit seiner sicheren Hand frisch an das Billard heran. Aber Fred Vincy, den Lydgate's Anblick erschreckte und der erstaunt war, ihn mit aufgeregten Mienen wetten zu sehen, trat nicht in den das Billard umgebenden Kreis ein, sondern blieb im Hintergrunde stehen.

Fred hatte sich seit Kurzem für seine Besserung durch ein wenig Freiheit belohnt. Er hatte seit sechs Monaten unter der Leitung von Herrn Garth alle Arbeiten außer dem Hause mit Freudigkeit ausgeführt und hatte durch anhaltende Uebung die Mängel seiner Handschrift nahezu beseitigt, eine Uebung, die ihm vielleicht etwas weniger schwer geworden war, weil dieselbe oft Abends bei Herrn Garth unter Mary's Augen vor sich ging.

Aber seit vierzehn Tagen war Mary, während Farebrother sich in Middlemarch aufhielt, um einige auf seine dortige Pfarre bezügliche Pläne zur Ausführung zu bringen, zum Besuch bei den Damen im Pfarrhause in Lowick und Fred, der nichts Besseres anzufangen wußte, hatte wieder den ›Grünen Drachen‹ aufgesucht, theils um Billard zu spielen, theils um sich an dem Reiz der alten Unterhaltung über Pferde, Wettrennen und die Dinge im Allgemeinen, wie sie dort aus einem nicht gerade ganz correkten Gesichtspunkte geführt wurde, zu erfreuen.

Er hatte in dieser ganzen Saison noch nicht ein einziges Mal gejagt, hatte kein eigenes Reitpferd gehabt und hatte seine kleinen Touren von Ort zu Ort entweder mit Herrn Garth in dessen Einspänner oder auf dem bescheidenen Gaul, den Herr Garth ihm leihen konnte, gemacht. Es war doch ein bischen gar zu arg, daß er jetzt noch schärfer angespannt sein sollte, als, wenn er Geistlicher geworden wäre.

»Ich kann Ihnen sagen, mein gestrenges Fräulein, daß es ein schwereres Stück Arbeit ist, Land messen und Pläne zeichnen zu lernen, als es gewesen wäre, Predigten zu schreiben. Und Herkules und Theseus waren nichts gegen mich; sie konnten immer jagen und brauchten sich keine Buchhalterhandschrift anzueignen,« hatte er zu Mary mit dem Wunsche gesagt, das, was er für sie durchmache, von ihr gehörig gewürdigt zu sehen.

Und jetzt, wo Mary auf kurze Zeit fortgegangen war, hatte Fred wie ein Kettenhund, der seinem Halsbande nicht entschlüpfen kann, seine Kette ausgehakt und war ein bischen ausgekniffen, natürlich ohne die Absicht, sehr rasch oder sehr weit zu laufen. Er sah nicht ein, warum er nicht Billard spielen solle, aber er war entschlossen, nicht zu wetten.

Was das Geld betraf, so hatte Fred den heroischen Entschluß gefaßt, nahezu die ganzen achtzig Pfund, die Herr Garth ihm als Gehalt bewilligt hatte, zu sparen und wiederzuerstatten, was er leicht konnte, wenn er sich aller frivolen Ausgaben enthielt, da er mit Kleidern überflüssig versehen war und für Kost und Logis nichts zu bezahlen hatte. Auf diese Weise konnte er in einem Jahre den bei weitem größten Theil der neunzig Pfund abtragen, um welche er Frau Garth unglücklicherweise zu einer Zeit gebracht hatte, wo sie dieser Summe viel dringender bedurfte als jetzt.

Nichtsdestoweniger betrachtete Fred, wie wir nicht verhehlen dürfen, an dem heutigen Abend, dem fünften seiner neuesten Besuche im Billardzimmer, die zehn Pfund, welche er von seinem halbjährlichen Gehalte für sich zu behalten dachte, (während er sich darauf freute, um die Zeit, wo Mary wahrscheinlich zurückkommen werde, Frau Garth dreißig Pfund zu bringen) wenn er sie auch nicht bei sich hatte, doch in seinem Sinne als einen Fonds, von dem er wohl etwas riskiren könnte, wenn sich ihm die Chancen einer guten Wette bieten sollten.

Und warum nicht? Wenn es Gold regnete, warum sollte er nicht auch etwas davon auffangen? Er wollte gewiß nie wieder weit auf dieser Bahn gehen. Aber die Menschen, und besonders die dem Vergnügen ergebenen, lieben es, sich zu vergewissern, wie weit sie es Wohl im Bösen bringen könnten, wenn sie wollten, und zu beweisen, daß sie, wenn sie es vermeiden, sich elend oder arm zu machen oder die lockersten Reden zu führen, in denen ein Mensch sich ergehen kann, darum doch noch keine Einfaltspinsel sind.

Fred ließ sich nicht auf förmliche Gründe ein, die ein sehr künstlicher und ungenauer Behelf sind, wenn es sich darum handelt, dem Kitzel wiederkehrender alter Gewohnheiten und den Capricen jugendlichen Blutes gerecht zu werden; aber eine prophetische Stimme, die sich diesen Abend ganz im Geheimen in ihm vernehmen ließ, sagte ihm, daß er, wenn er erst zu spielen anfange, auch zu wetten anfangen werde, daß er einige Gläser Punsch nicht verschmähen und sich überhaupt so benehmen werde, daß er sich am nächsten Morgen recht jämmerlich vorkommen müßte. Aus solchen undefinirbaren Stimmungen heraus entstehen oft unsere Handlungen.

Worauf aber Fred am wenigsten gefaßt war, das war, seinen Schwager Lydgate, den er noch immer für einen wichtigthuerischen Patron mit einem ungeheuren Selbstbewußtsein hielt, hier in großer Aufregung wetten zu sehen, wie er selbst es nicht schlimmer hätte thun können. Fred, der davon gehört hatte, daß Lydgate verschuldet sei und daß sein Vater sich geweigert habe, ihm zu helfen, war durch diesen Anblick so betroffen, daß er es sich selbst nicht recht zu erklären vermochte, und seine Lust, am Spiele Theil zu nehmen, war plötzlich verschwunden.

Es war eine sonderbare Verkehrung der Rollen, wie Fred, der mit seinem blonden Gesicht, seinen gewöhnlich so heiteren und sorglosen Augen und seiner Bereitwilligkeit, allem, was Vergnügen versprach, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, jetzt unwillkürlich ernst und wie durch den Anblick von etwas Unschicklichem fast verlegen aussah, während Lydgate, der gewöhnlich einen Ausdruck selbstbewußter Kraft und ein nachdenkliches Wesen hatte, welches ihn auch bei der angespanntesten Aufmerksamkeit nicht zu verlassen schien, jetzt mit jenem aufgeregten Ausdruck eines getrübten Selbstbewußtseins, das uns an ein Thier mit wilden Augen und eingezogenen Klauen gemahnt, handelte, sprach und beobachtete.

Lydgate hatte durch Wetten auf seine eigenen Stöße sechszehn Pfund gewonnen, aber der Eintritt des jungen Hawley hatte der Sache eine andere Wendung gegeben. Dieser spielte vortrefflich und fing an, gegen Lydgate's Stöße zu wetten, dessen nervöse Anspannung dadurch gereizt wurde, nicht mehr nur seinem eigenen Spiele zu vertrauen, sondern den von einem Anderen geäußerten Zweifeln gegen dasselbe Trotz zu bieten. Das Trotzbieten war aufregender als das Vertrauen, aber weniger sicher. Er fuhr fort, auf sein eigenes Spiel zu wetten, fing aber an, oft Fehlstöße zu machen. Und doch ließ er nicht nach; denn er war ganz in dem, einem gewohnheitsmäßigen Spieler eigenen, bewußtlosen Taumel befangen.

Fred beobachtete, daß Lydgate stark verliere, und sah sich dadurch in die für ihn neue Situation versetzt, sich den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie er, ohne Lydgate zu verletzen, seine Aufmerksamkeit ablenken und ihm vielleicht einen plausiblen Grund, das Zimmer zu verlassen, an die Hand geben könne. Er sah, wie auch Andere Lydgate's sonderbares, seinem sonstigen Wesen so unähnliches Behaben aufmerksam beobachteten, und es kam ihm der Gedanke, daß es vielleicht hinreichen würde, Lydgate aus seinem Zustande der Absorption zu reißen, wenn er ihn nur anstoße und ihn bei Seite rufe.

Es wollte ihm aber kein besserer Vorwand für diese Störung einfallen, als die eben so kühne wie unwahrscheinliche Behauptung, daß er Rosy besuchen und gern wissen wolle, ob sie diesen Abend zu Hause sei, und er war eben im Begriff, diesen desperaten Einfall zur Ausführung zu bringen, als ein Kellner mit der Bestellung an ihn heran trat, daß Herr Farebrother unten sei und ihn zu sprechen wünsche.

Fred war nicht eben angenehm überrascht, ließ aber sagen, er werde gleich hinunter kommen. Er trat unter diesem neuen Antriebe an Lydgate heran und zog ihn mit den Worten: »Kann ich Dich einen Augenblick sprechen?« bei Seite. »Farebrother läßt mir eben sagen, er wünsche mich zu sprechen. Er ist unten ich dachte, es würde Dir vielleicht angenehm sein, zu wissen, daß er da sei, wenn Du ihm vielleicht etwas zu sagen haben solltest.«

Fred hatte einfach den ersten besten Vorwand gebraucht, Lydgate anzureden, da er doch nicht zu ihm sagen konnte: »Du verlierst ja niederträchtig und machst, daß alle Leute Dich erstaunt anstarren, Du thätest besser fortzugehen.« Aber auch wenn er inspirirt gewesen wäre, hätte er kaum etwas zur Erreichung seines Zweckes Geschickteres ersinnen können. Lydgate hatte Fred's Anwesenheit bis jetzt noch gar nicht bemerkt, und sein plötzliches Erscheinen mit der Ankündigung Farebrother's übte auf ihn die Wirkung einer starken Erschütterung.

»Nein, nein,« erwiderte Lydgate; »ich habe ihm nichts Besonderes zu sagen. Aber das Spiel ist zu Ende – ich muß gehen – ich bin nur herauf gekommen, um Bambridge zu sprechen.«

»Bambridge steht da drüben; aber da geht's hoch her, ich glaube nicht, daß er in der Stimmung ist, von Geschäften zu reden. Komm mit mir hinunter zu Farebrother; ich denke mir, er will mich heruntermachen, und Du mußt mich in Schutz nehmen,« fügte Fred mit einer nicht ungeschickten Wendung hinzu.

Lydgate schämte sich, fand aber den Gedanken, daß seine Weigerung, Farebrother zu sprechen, ein Gefühl der Scham verrathen könnte, unerträglich und ging mit hinunter. Aber unten reichten sie sich nur die Hände und sprachen von der Kälte, und als sie alle drei auf der Straße angelangt waren, schien es dem Pfarrer ganz willkommen, als Lydgate sich von ihm und Fred verabschiedete. Er wollte offenbar Fred allein sprechen.

Er sagte freundlich:

»Ich habe Sie gestört, junger Freund, weil ich Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen möchte. Begleiten Sie mich nach St. Botolph, wollen Sie?«

Es war ein schöner Abend; der Himmels prachtvoll gestirnt und Farebrother proponirte Fred, mit ihm auf einem Umwege über die Londoner Straße nach der alten Kirche zu gehen.

Dann sagte er:

»Ich dachte, Lydgate ginge nie in den ›Grünen Drachen‹?«

»Das dachte ich auch,« erwiderte Fred, »aber er sagte, er habe nur Bambridge sprechen wollen.«

»Hat er denn nicht gespielt?«

Fred hatte davon nichts erwähnen wollen, war aber jetzt genöthigt zu antworten.

»Ja, er hat gespielt. Aber ich glaube, es war ganz zufällig, ich habe ihn bisher noch nie dort gesehen«

»Sind Sie selbst denn neuerdings oft dagewesen?«

»O, vielleicht fünf oder sechs Mal«

»Ich dachte, Sie hätten gute Gründe gehabt, es ganz aufzugeben?«

»Ja, Sie wissen ja die ganze Geschichte,« sagte Fred, dem es nicht gefiel, sich in dieser sokratischen Weise katechisiren zu lassen. »Ich habe Ihnen ja Alles gestanden.«

»Das giebt mir vielleicht ein Recht, jetzt mit Ihnen über die Sache zu reden. Wir haben uns doch dahin geeinigt, nicht wahr, auf dem Fuße offener Freundschaft mit einander zu verkehren. Ich habe Sie angehört und Sie werden mich auch anhören wollen; darf ich heute auch ein mal ein wenig von mir reden?«

»Ich bin Ihnen zum innigsten Danke verpflichtet,« sagte Fred in einem Zustand unbehaglichen Argwohns.

»Ich will mir nicht die Miene geben, als wollte ich läugnen, daß Sie mir einigermaßen verpflichtet sind. Ich will Ihnen aber jetzt bekennen, Fred, daß ich mich versucht gefühlt habe, Alles, was ich für Sie gethan habe, wieder umzustoßen, indem ich mich Ihnen gegenüber jetzt schweigend verhalten hätte. Als mir Jemand sagte, ›der junge Vincy hat wieder angefangen, jeden Abend Billard zu spielen; er wird des Zaumes bald überdrüssig sein‹, da war ich versucht, das Gegentheil von dem zu thun, was ich eben jetzt thue, zu schweigen und ruhig mit anzusehen, wie es mit Ihnen wieder abwärts gehen würde, wie Sie erst wetten und dann –«

»Ich habe noch nicht ein einziges Mal gewettet,« sagte Fred hastig.

»Das freut mich; ich sage auch nur, meine erste Eingebung war, ruhig zuzusehen, wenn Sie einen falschen Weg betreten, Garth's Geduld erschöpfen und die beste Gelegenheit in Ihrem Leben verscherzen sollten, eine Gelegenheit, welche Sie sich, nicht ohne Anstrengung, zu sichern gesucht hatten. Sie errathen leicht, welche Gefühle mir diese Versuchung nahe legten; ich bin überzeugt, daß Sie dieselben kennen. Ich glaube sicher, daß Sie wissen, daß die Erwiderung Ihrer Neigung der meinigen im Wege steht.«

Es entstand eine Pause. Farebrother schien auf eine Anerkennung dieser Thatsache zu warten, und die Erregung, die sich in der Flexion seiner schönen Stimme bemerklich machte, gab seinen Worten etwas feierliches. Aber nichts vermochte Fred's durch Farebrother erweckte Besorgniß zu beschwichtigen.

»Kein Mensch wird von mir erwarten, daß ich sie aufgeben soll,« sagte Fred, nachdem er einen Augenblick gezaudert hatte. »Das ist kein Fall, um den Großmüthigen zu spielen.«

»Gewiß nicht, sobald sie Ihre Liebe erwidert: aber solche Verhältnisse können sich, selbst wenn sie lange bestanden haben, immer ändern. Ich kann es mir sehr wohl als möglich denken, daß Sie durch Ihre Handlungsweise das Band, welches Sie mit ihr verbindet, wieder lockern würden. Sie dürfen nicht vergessen, daß sie Ihnen nur bedingungsweise ihr Wort gegeben hat und daß es in einem solchen Falle einem andern Manne, der sich schmeicheln darf, hoch in ihrer Achtung zu stehen, gelingen könnte, neben der Achtung auch den festen Platz in ihrem Herzen zu gewinnen, um den Sie sich gebracht hätten. Ich kann mir einen solchen Fall sehr wohl als möglich denken,« wiederholte Farebrother nachdrücklich. »Es giebt eine Gemeinschaft sympathischer Anschauungen, welche leicht über die langdauerndsten Verhältnisse den Sieg davon tragen kann.«

Fred schien es, daß die Angriffsweise Farebrother's, wenn, er statt seiner sehr geschickten Zunge Schnabel und Krallen gehabt hätte, nicht grausamer hätte sein können. Er konnte sich der furchtbaren Ueberzeugung nicht erwehren, daß allen diesen hypothetischen Aufstellungen Farebrother's die Kenntniß einer wirklichen Veränderung in Mary's Gefühlen zu Grunde liege.

»Natürlich weiß ich, daß es leicht wieder ganz mit mir aus sein könnte,« sagte er mit unsicherer aufgeregter Stimme. »Wenn sie anfängt zu vergleichen –« Er brach ab, weil er nicht gern Alles äußern wollte, was er empfand, fuhr dann aber etwas bitter fort: »Aber ich hätte geglaubt, Sie wären mir freundlich gesinnt?«

»Das bin ich auch, und darum sind wir hier. Aber ich bin sehr geneigt gewesen, mich anders gegen Sie zu erweisen. Ich habe mir gesagt: ›Wenn der junge Mensch auf dem Wege sein sollte, sich selbst zu schädigen, warum sollst Du Dich da hinein mischen? Bist Du nicht so gut wie er, und geben Dir nicht Deine mehr als sechszehn Jahre, die Du älter bist und während deren Du gehungert hast, ein größeres Recht, Deinen Hunger zu stillen, als er es hat? Wenn er Lust hat, sich ins Verderben zu stürzen, laß ihn. Du könntest es doch vielleicht auf keine Weise hindern. Laß Du Dir daher den Vortheil zu Statten kommen.‹«

Wieder entstand eine Pause, während deren es Fred unbehaglich kalt überlief. Was würde er noch weiter zu hören bekommen? Er fürchtete, Farebrother werde ihm mittheilen, daß Mary etwas hinterbracht sei; ihm war zu Muthe, als wäre das, was er anhören mußte, mehr eine Drohung als eine Warnung.

Als der Pfarrer wieder anhub, lag in seinem Tone etwas, das an den ermunternden Uebergang zu einer Dur-Tonart erinnerte.

»Es gab aber eine Zeit, wo ich besser gegen Sie gesonnen war, und ich bin zu meiner alten Gesinnung zurückgekehrt und habe geglaubt, mich nicht besser in derselben befestigen zu können, als indem ich Ihnen, lieber Fred, gestände, was in mir vorgegangen ist. Verstehen Sie mich jetzt? Ich möchte gern, daß Sie sie und sich selbst glücklich machten, und wenn es möglich ist, daß ein warnendes Wort von mir jede Gefahr des Gegentheils abwenden kann – nun, so habe ich dieses Wort gesprochen.«

Bei diesen letzten Worten ließ der Pfarrer die Stimme sinken. Er hielt inne. Sie standen auf einem kleinen Rasenplatz, bei welchem die Straße eine Biegung in der Richtung nach St. Botolph zu machte, und er reichte Fred die Hand, wie um zu verstehen zu geben, daß die Unterhaltung zu Ende sei.

Fred fühlte sich in einer ihm bis dahin unbekannten Weise erregt. Ein für schöne Handlungen besonders empfänglicher Denker hat gesagt, daß dieselben uns mit einer Art von Schauer der Wiedergeburt erfüllen und die Empfindung in uns hervorrufen, als müßten wir jetzt ein neues Leben beginnen. Ein gut Theil von dieser Wirkung war es, was Fred jetzt empfand.

»Ich will versuchen, mich würdig zu zeigen,« sagte er und brach ab, noch ehe er hinzufügen konnte, »sowohl Ihrer als Mary's.«

Inzwischen aber hatte Farebrother Kraft gefunden, noch etwas mehr zu sagen.

»Sie müssen nicht meinen, daß ich glaube, ihre Vorliebe für Sie habe bis jetzt im Mindesten abgenommen, Fred. Beruhigen Sie sich darüber, daß, wenn Sie sich auf dem rechten Wege halten, alles Uebrige auf dem rechten Wege bleiben wird.«

»Ich werde nie vergessen, was Sie für mich gethan haben,« erwiderte Fred. »Ich weiß nichts zu sagen, was mir des Aussprechens werth schiene; aber ich will versuchen, mich so zu benehmen, daß Ihre Güte nicht weggeworfen sein soll.«

»Das ist genug. Gott segne Sie und – leben Sie wohl.«

So schieden sie von einander. Aber beide gingen noch eine lange Zeit umher, bevor sie sich von dem gestirnten Himmel trennten. Der überwiegende Theil von Fred's Selbstbetrachtungen möchte sich in die Worte zusammen fassen lassen: ›Es wäre gewiß schön für sie gewesen, wenn sie Farebrother hätte heirathen können – aber wenn sie mich mehr liebt und ich ein guter Mann werde – –‹

Farebrother's Gedanken hätten ihren Ausdruck vielleicht in einem einzigen Achselzucken und in den wenigen Worten finden können: ›Wenn man denkt, welche Rolle ein Mädchen in dem Leben eines Mannes spielen kann, so daß ihr entsagen, etwas einer heroischen That sehr Aehnliches sein und, sie gewinnen, ein Erziehungsmittel für uns werden kann!«



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