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Dreizehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 75 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 13):

Le sentiment de la fausseté des plaisirs presents, et l'ignorance de la vanité des plaisirs absents, causent l'inconstance.

Pascal: Pensées


Für Rosamunde war es wie ein Schimmer wiederkehrender Heiterkeit, als das Haus von der drohenden Gestalt des Dover'schen Agenten befreiet war und als alle unangenehmen Gläubiger bezahlt waren. Aber sie wurde darum doch ihres Lebens nicht froh; ihre Ehe hatte keine ihrer Hoffnungen erfüllt und gewährte ihrer Einbildungskraft durchaus keine angenehme Unterhaltung mehr.

Während dieser kurzen Ruhepause war Lydgate, eingedenk seiner oft stürmischen Aufwallungen in den Stunden qualvoller Aufregung und dessen, was Rosamunde zu erdulden gehabt hatte, beflissen freundlich gegen sie. Aber auch er hatte etwas von seiner früheren Munterkeit eingebüßt und fand es noch immer nothwendig, auf eine ökonomischere Einrichtung ihrer Lebensweise als auf etwas Selbstverständliches zu dringen; er versuchte es, sie allmälig mit dem Gedanken daran auszusöhnen, und unterdrückte seinen Zorn, wenn sie ihm als Erwiderung den Wunsch aussprach, er möchte nach London ziehen.

Wenn sie diese Antwort nicht gab, so hörte sie mit einem Ausdruck der Ermüdung zu und fragte sich, was sie in der Welt habe, für das es zu leben der Mühe werth sei. Die harten und geringschätzigen Worte, die ihrem Manne entfahren waren, hatten ihre Eitelkeit, welche er selbst zuerst zu freudiger Bethätigung aufgefordert hatte, tief verletzt und das, was sie als seine verkehrte Art, die Dinge anzusehen, betrachtete, nährte bei ihr einen geheimen Widerwillen gegen ihn, welcher ihr alle seine Zärtlichkeitsbezeugungen als einen dürftigen Ersatz für das Glück erscheinen ließ, das er ihr nicht zu geben vermocht hatte.

Sie lebten auf unfreundlichem Fuße mit ihren Mitbürgern, und jede Aussicht auf Quallingham war abgeschnitten; es gab überhaupt gar keine Aussicht mehr, außer auf einen gelegentlichen Brief von Will Ladislaw. Sie hatte sich durch Will's Entschluß, Middlemarch zu verlassen, verletzt und enttäuscht gefühlt; denn trotz alles dessen, was sie über seine Bewunderung für Dorothea wußte und errieth, hatte sie sich doch im Geheimen mit der Hoffnung geschmeichelt, daß er eine noch viel größere Bewunderung für sie – wenn nicht schon habe, doch nothwendig bekommen werde; denn Rosamunde war eine von jenen Frauen, welche davon erfüllt sind, daß jeder Mann, dem sie begegnen, sie allen Anderen vorgezogen haben würde, wenn er nicht seine Neigung als hoffnungslos hätte betrachten müssen.

Mit Frau Casaubon mochte die Sache ihre Richtigkeit haben; aber Will's Interesse an ihr datirte aus einer Zeit, wo er Frau Lydgate noch nicht gekannt hatte. Rosamunde faßte seine Art, mit ihr zu reden, welche aus einer Mischung von scherzhaft kritischen Bemerkungen und hyperbolischer Galanterie bestand, als den verhüllten Ausdruck tieferer Gefühle auf und empfand dabei den angenehmen Kitzel der Eitelkeit und jenen Reiz des romantisch Abenteuerlichen, welchen Lydgate's Gegenwart nicht mehr für sie hervorzuzaubern vermochte.

Sie bildete sich ein, – was bilden sich nicht Männer und Frauen bei solchen Gelegenheiten ein –? daß Will seine Bewunderung für Frau Casaubon absichtlich übertreibe, um sie zu reizen. Mit solchen Vorstellungen hatte sich die arme Rosamunde vor Will's Abreise beschäftigt. Er würde, meinte sie, einen viel passenderen Mann für sie abgegeben haben, als sie in Lydgate gefunden hatte.

Es konnte keine verkehrtere Idee geben; denn Rosamunden's Unzufriedenheit mit ihrer Ehe hatte ihren Grund in dem Wesen der Ehe, in der in jeder Ehe geforderten Entsagung und Duldsamkeit und nicht in dem Charakter ihres Mannes; aber die bequeme Vorstellung eines in der Wirklichkeit nicht vorhandenen Besseren übte einen empfindsamen Zauber, der ihr die Langeweile vertrieb.

Sie ersann sich einen kleinen Roman, welcher in die Flachheit ihres Lebens etwas Abwechslung bringen sollte. Will Ladislaw sollte immer Junggeselle bleiben und in ihrer Nähe leben, sollte immer auf einen Wink von ihr bereit sein und eine von ihr verstandene, wiewohl von ihm nie ganz ausgesprochene Leidenschaft für sie nähren, welche von Zeit zu Zeit in interessanten Scenen auflodern müßte.

Seine Abreise war demgemäß keine geringe Enttäuschung für sie gewesen und hatte ihren Ueberdruß an dem Leben in Middlemarch nur noch trauriger gesteigert; aber anfänglich hatte sie zum Trost noch den Traum der Freuden, die ihrer in dem Verkehr mit ihrer Familie in Quallingham harrten. Seitdem aber hatten die Widerwärtigkeiten ihrer Ehe und die Abwesenheit eines anderen Trostes sie dahin gebracht, ihrem Bedauern über den Verlust jenes dürftigen Romans, an welchem sie sich einst erquickt hatte, grübelnd nachzuhängen.

Männer wie Frauen sind oft in einer traurigen Täuschung über ihre eigenen Gefühle befangen, indem sie ein unbestimmtes unbehagliches Sehnen bisweilen für Genie, bisweilen für religiöses Bedürfniß und noch öfter für echte Liebe halten. Will Ladislaw hatte geschwätzige, halb an sie und halb an Lydgate gerichtete Briefe geschrieben, und sie hatte ihm geantwortet. Sie fühlte, daß ihre Trennung schwerlich eine dauernde sein werde, und die Veränderung, nach der sie sich jetzt am meisten sehnte, war, daß Lydgate sich entschließen möchte, in London zu leben; in London dachte sie sich Alles angenehm, und sie hatte mit ruhiger Entschlossenheit angefangen, auf dieses Ziel hinzuarbeiten, als sich plötzlich eine entzückende Aussicht eröffnete, welche sie neu belebte.

Diese Aussicht eröffnete sich kurz vor der denkwürdigen Versammlung im Rathhause und zwar durch einen Brief von Will Ladislaw an Lydgate, welcher sich zwar hauptsächlich um sein neues Interesse an Colonisationsplänen drehte, aber beiläufig erwähnte, daß es vielleicht nothwendig für ihn sein werde, in den nächsten Wochen nach Middlemarch zu kommen. »Eine sehr angenehme Nothwendigkeit,« sagte er, »fast so angenehm wie Ferien für einen Schuljungen.« Er hoffe, seinen alten Platz auf dem Kaminteppich und recht viel Musik vorzufinden. Die genaue Zeit seines Besuches könne er aber durchaus nicht bestimmen.

Als Lydgate Rosamunden diesen Brief vorlas, wurde ihr Gesicht aussehend wie eine zu frischem Leben erwachende Blume – es wurde hübscher und blühender. Alles schien sich jetzt erträglich gestalten zu wollen; die Schulden waren bezahlt, Ladislaw's Besuch stand in Aussicht, und Lydgate würde sich überreden lassen, Middlemarch zu verlassen und in London zu leben, das ›so ganz anders sei als eine Provinzialstadt‹.

Das war eine heitere Morgenstunde. Aber bald sollte sich der Himmel über der armen Rosamunde wieder dunkel beziehen. Das Vorhandensein einer neuen Verstimmung bei ihrem Manne, über deren Grund er ein vollständiges Schweigen gegen sie beobachtete, weil er sich scheute, sein zerrissenes Innere angesichts ihrer Indifferenz und falschen Auffassung bloszulegen, sollte bald eine peinlich befremdliche und für ihre bisherigen Vorstellungen von dem, was ihr Glück beeinträchtigen könne, überraschende Erklärung erhalten.

In ihrer neubelebten Heiterkeit hatte sie es, in der Meinung, daß Lydgate nur an einem Anfall von ungewöhnlich schlechter Laune leide, welche Schuld sei, daß er ihre Bemerkungen unbeantwortet lasse und ihr ersichtlich so viel wie möglich aus dem Wege gehe, für gut befunden, wenige Tage nach der Versammlung, ohne ihm etwas davon zu sagen, schriftliche Einladungen zu einer kleinen Abendgesellschaft ergehen zu lassen, und war überzeugt gewesen, daß das sehr klug von ihr gehandelt sei, da die Leute sich seit einiger Zeit von ihnen fern zu halten schienen und augenscheinlich zu dem altgewohnten Verkehr zurückgebracht werden müßten. Sobald die Einladungen angenommen sein würden, wollte sie es Lydgate sagen und ihm dabei eine weise Vermahnung in Betreff der Art ertheilen, wie sich ein Arzt gegen seine Mitbürger zu benehmen habe; denn Rosamunde wußte sich gewaltig ernste kleine Airs Übersetzung?? – »Rosamunde verstand es, eine gewaltig ernste Miene aufzusetzen, …« – Anm.d.Hrsg. zu geben, wenn es sich um die Pflichten anderer Leute handelte. Aber alle Einladungen wurden abgelehnt, und die letzte Antwort gerieth in Lydgate's Hände.

»Das ist Chichely's Gekritzel. Was hat denn der Dir zu schreiben?« fragte Lydgate verwundert, als er ihr das Billet reichte.

Sie mußte ihm dasselbe zeigen, worauf er mit einem strengen Blick auf sie sagte:

»Warum in aller Welt hast Du Einladungen ausgeschickt, Rosamunde, ohne mir etwas davon zu sagen. Ich bitte Dich dringend, ich bestehe darauf, daß du Niemanden zu uns einladest. Vermuthlich hast Du noch Andere eingeladen, die auch abgelehnt haben.«

Sie erwiderte nichts.

»Hörst Du mich nicht?« donnerte Lydgate.

»Ja, wohl. Gewiß höre ich Dich,« antwortete Rosamunde, indem sie den Hals wie ein graziöser Schwan auf die Seite neigte.

Lydgate warf den Kopf ohne alle Grazie heftig in den Nacken und ging, da er sich seiner selbst nicht sicher fühlte, zum Zimmer hinaus. Rosamunde dachte bei sich, er werde immer unerträglicher. Daß sie ihm eine neue Veranlassung zu seinem peremptorischen Auftreten gegeben habe, fiel ihr nicht ein.

Seine Abgeneigtheit, ihr irgend etwas mitzutheilen, wovon er im Voraus gewiß war, daß sie sich nicht dafür interessiren würde, wurde nachgerade zu einer gedankenlosen Gewohnheit. So wußte sie auch von Allem, was mit den tausend Pfund zusammenhing, nichts, als daß ihr Onkel Bulstrode das Darlehen gegeben habe.

Lydgate's widerwärtige Uebellaunigkeit und die Art, wie sie augenscheinlich von ihren Bekannten gemieden wurden, trafen auf für sie unerklärliche Weise mit ihrer Befreiung von Geldverlegenheiten zusammen. Wenn die Einladungen angenommen worden wären, würde sie ihre Mama und auch die Uebrigen, von denen sie seit mehreren Tagen nichts gesehen hatte, persönlich eingeladen haben, und jetzt setzte sie ihren Hut auf, um zu sehen, was aus ihnen Allen geworden sei; denn es kam ihr plötzlich vor, als ob sie sich Alle verschworen hätten, sie mit ihrem Manne, der allen Leuten vor den Kopf stoße, allein zu lassen.

Es war die Zeit nach Tische, und sie fand ihre Eltern im Wohnzimmer allein sitzend. Sie begrüßten sie mit traurigen Blicken und sagten nichts als: »Nun, liebes Kind.« Sie hatte ihren Vater noch nie so niedergeschlagen gesehen; sie setzte sich zu ihm und sagte:

»Ist etwas vorgefallen, Papa?«

Er antwortete nicht, aber Frau Vincy sagte:

»Liebes Kind, hast Du nichts gehört? Binnen Kurzem hättest Du es doch erfahren müssen.«

»Betrifft es Tertius?« fragte Rosamunde erbleichend.

Sofort verknüpfte sich für sie der Gedanke an Widerwärtigkeiten mit dem, was ihr bis jetzt an ihm unerklärlich gewesen war.

»Ja wohl, liebes Kind. Wenn ich denke, daß Deine Ehe Dich in eine solche Lage gebracht hat. Die Schulden waren schon schlimm genug; aber dies ist noch viel schlimmer.«

»Halt, halt, Lucy,« sagte Herr Vincy. »Hast Du nichts über Deinen Onkel Bulstrode gehört, Rosamunde?«

»Nein, Papa,« erwiderte das arme Kind, dem dabei zu Muthe wurde, als ob Sorge etwas sei, was sie bisher noch nicht kennen gelernt habe, eine unsichtbare Macht mit eisernen Klauen, welche ihre Seele zu erdrücken drohe.

Ihr Vater erzählte ihr Alles und sagte schließlich:

»Es ist besser für Dich, es zu wissen, liebes Kind. Ich glaube, Lydgate, wird von hier fortmüssen. Die Dinge haben sich unglücklich für ihn gestaltet. Er ist gewiß unschuldig; ich glaube nicht, daß ihn irgend ein Vorwurf trifft.«

Bisher hatte Herr Vincy immer möglichst viel an Lydgate auszusetzen gehabt!

Es war ein furchtbarer Schlag für Rosamunde. Es schien ihr, daß es kein schrecklicheres Loos geben könne als das ihrige. An einen Mann gefesselt zu sein, der der Gegenstand eines allgemeinen schmählichen Verdachts geworden war. In vielen Fällen erscheint unausbleiblich die Schande als der schlimmste Theil des Verbrechens – und es würde in dem Wirrwarr von Eindrücken, die auf Rosamunde in diesem Augenblicke einstürmten, einer sehr klaren Reflection, wie sie sie noch nie in ihrem Leben zu machen Veranlassung gehabt hatte, bedurft haben, um sich zu der Empfindung aufzuschwingen, daß ihre Lage doch viel weniger zu beklagen sei, als wenn es von ihrem Manne positiv bekannt gewesen wäre, daß er sich eines Verbrechens schuldig gemacht habe. Alle Schande schien ihr auf sie gehäuft zu sein. Und sie hatte ahnungslos diesen Mann in dem Glauben geheirathet, daß die Verbindung mit ihm und seiner Familie ihr zur besonderen Ehre gereichen würde.

Sie beobachtete ihren Eltern gegenüber ihre gewöhnliche Schweigsamkeit und sagte nur, daß, wenn Lydgate gethan hätte, was sie gewünscht habe, er längst Middlemarch verlassen haben würde.

»Sie trägt es bewundernswürdig!« sagte ihre Mutter, als sie fortgegangen war.

»Gott sei Dank, ja!« sagte Herr Vincy, der sehr herunter war.

Aber Rosamunde ging mit dem Gefühl eines gerechtfertigten Widerwillens gegen ihren Mann nach Hause. Was hatte er wirklich gethan, wie hatte er in Wahrheit gehandelt? Das wußte sie nicht. Warum hatte er ihr nicht alles gesagt? Er sprach nicht mit ihr über die Sache, und natürlich konnte sie auch mit ihm nicht darüber reden. Sie dachte einmal daran, ihren Vater zu bitten, sie wieder bei sich aufzunehmen; aber ein näheres Eingehen auf diese Aussicht ließ ihr dieselbe doch als unsäglich traurig erscheinen. Eine verheirathete Frau, die wieder bei ihren Eltern lebte! Das schien ihr ein unerträgliches Leben, in das sie sich gar nicht hineindenken konnte.

Während der nächsten zwei Tage beobachtete Lydgate eine Veränderung an ihr und glaubte, sie müsse die schlimme Nachricht erfahren haben. Würde sie nun, fragte er sich, mit ihm darüber reden, oder würde sie ein beharrliches Schweigen beobachten und dadurch zu verstehen geben, daß sie an seine Schuld glaube?

Wir müssen uns erinnern, daß er sich in einem krankhaften Gemüthszustande befand, welcher jede Berührung schmerzhaft machte. Gewiß hatte Rosamunde in diesem Falle eben so guten Grund, sich über Zurückhaltung und Mangel an Vertrauen von seiner Seite zu beklagen; aber in der Verbitterung seines Gemüths glaubte er sich vor sich selbst rechtfertigen zu können.

War er nicht entschuldigt, wenn er jetzt, wo sie, obgleich sie die Wahrheit wußte, sich nicht gedrängt fühlte, mit ihm zu reden, vor einer Mittheilung an sie zurückschreckte? Aber das nicht zurückzudrängende Bewußtsein, daß er doch Unrecht habe, machte ihn ruhelos, und das Schweigen, das sie beide gegen einander beobachteten, wurde ihm unerträglich; es war, als ob sie Beide nach einem Schiffbruch auf demselben Balken umhertrieben und gegenseitig ihre Blicke zu meiden suchten.

Endlich sagte er sich: ›Ich bin ein Narr. Habe ich es nicht längst aufgegeben, auf irgend etwas zu hoffen? Ich habe mich der Sorge und nicht der Hülfe antrauen lassen.‹

Und noch an demselben Abend sagte er zu seiner Frau:

»Rosamunde, hast Du irgend etwas gehört, das Dich unglücklich macht?«

»Ja,« antwortete sie, indem sie ihre Handarbeit, an welcher sie bisher, ihrem sonstigen Wesen ganz unähnlich, mit einem gebrochenen Bewußtsein lässig fortgearbeitet hatte, bei Seite legte.

»Was hast Du gehört?«

»Vermuthlich Alles. Papa hat es mir gesagt.«

»Daß die Leute mich für beschimpft halten?«

»Ja,« erwiderte Rosamunde, indem sie ihre Näharbeit ebenso lässig wieder aufnahm und mechanisch daran weiter arbeitete.

Es entstand eine Pause. Lydgate dachte bei sich: ›Wenn sie irgend Vertrauen, irgend eine Idee davon hätte, wer ich bin, so müßte sie jetzt reden und sagen, sie glaube nicht, daß ich den Schimpf verdiene.‹

Aber Rosamunde fuhr fort, ihre Finger lässig arbeiten zu lassen. Sie hielt sich für berechtigt, Alles, was über diesen Gegenstand zu sagen sei, von Tertius zu erwarten. Was wußte sie? Und wenn er unschuldig war, warum that er nicht etwas, sich vor ihr von jedem Verdachte zu reinigen?

Ihr Schweigen steigerte nur noch die verbitterte Stimmung, in welcher Lydgate sich schon gesagt hatte, daß Niemand an ihn glaube, selbst Farebrother war ihm nicht entgegen gekommen. Er war, als er sie zu fragen anfing, von der Hoffnung beseelt gewesen, daß ihre Unterhaltung den kalten Nebel, der sich zwischen ihnen gelagert hatte, zerstreuen würde; aber ein Gefühl der Kränkung, über das er nicht hinweg konnte, ließ ihn verzagen und seinen Entschluß aufgeben.

Auch diesen Kummer wie alle andere Sorgen schien sie zu betrachten, als ginge er nur sie allein an. Für sie war Lydgate immer ein besonderes Wesen, das nur Dinge that, mit denen sie nicht einverstanden war.

Zornig sprang er von seinem Stuhle auf und ging, die Hände in den Taschen, im Zimmer auf und ab. Dabei fühlte er doch, daß er dieses Zornes Herr werden, ihr Alles sagen und sie von seiner Unschuld überzeugen müsse. Denn er hatte nachgerade angefangen, seine Lection zu begreifen, daß er sich ihrer Natur fügen und, weil sie es ihrerseits an Sympathie fehlen lasse, ihr nur um so mehr davon zuwenden müsse.

So kehrte er bald zu seiner ursprünglichen Absicht, sich offen gegen sie auszusprechen, zurück. Er durfte die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Wenn er sie dahin bringen konnte, sich wirklich mit dem Gefühle zu durchdringen, daß es sich hier um eine Verläumdung handele, der man entgegentreten und vor der man nicht feige flüchten müsse, und daß das ganze Unglück aus seinem verzweifelten Geldmangel entstanden sei, so würde damit der Moment gekommen sein, es ihr nachdrücklichst an's Herz zu legen, wie nothwendig es sei, daß sie sich in dem Entschlusse einigten, mit so wenig Geld wie möglich auszukommen, um die schlechten Zeiten zu überstehen und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Er wollte ihr die definitiven Maßregeln nennen, die er zu ergreifen wünschte, und sie willig stimmen, darauf einzugehen. Er fühlte sich verpflichtet, dies zu thun, und was sollte er anders thun?

Er wußte nicht, wie lange er so unbehaglich auf- und abgegangen war, aber Rosamunde fand es lange und wünschte, er möge sich wieder hinsetzen. Auch sie hatte angefangen, diesen Moment für eine Gelegenheit zu halten, Tertius nachdrücklichst vorzuhalten, was er thun solle. Was auch immer bei all diesem Elend die Wahrheit sein mochte, eine Furcht war jedenfalls begründet.

Lydgate setzte sich endlich nieder, nicht auf seinen gewöhnlichen Stuhl, sondern auf einen näher bei Rosamunden stehenden, beugte sich auf demselben seitwärts zu ihr hinüber und sah sie ernst an, bevor er das Gespräch über den traurigen Gegenstand wieder aufnahm. Er war seiner einigermaßen Herr geworden und war eben im Begriff, in dem Bewußtsein, daß es sich hier um eine Gelegenheit handele, die nicht wiederkehren, werde, mit einer gewissen Feierlichkeit zu reden, und hatte schon die Lippen geöffnet, als Rosamunde die Hände in den Schoß sinken ließ, ihn ansah und sagte:

»Tertius, Du hast doch jetzt wohl –«

»Nun?«

»Du hast doch jetzt wohl endlich die Idee aufgegeben, in Middlemarch zu bleiben. Ich kann hier nicht länger leben. Laß uns nach London gehen. Papa und alle Menschen sagen, Du thätest besser, fortzugehen. Was für Ungemach ich auch zu tragen haben werde, es wird mir leichter werden, wenn es nur nicht hier ist.«

Lydgate durchzuckte es wie bei einem schrillen Mißton. Statt des entscheidenden Aussprechens, zu welchem er sich mit Anstrengung aufgerafft hatte, sollte er sich wieder in dem alten Kreise herumdrehen. Er konnte es nicht ertragen.

Plötzlich verlor er die Fassung, stand auf und ging zum Zimmer hinaus. Vielleicht daß, wenn er stark genug gewesen wäre, in seinem Entschlusse auszuharren und um so mittheilender gegen sie zu sein, je weniger sie ihm entgegenkam, dieser Abend ein besseres Ende genommen hätte. Wenn seine Energie hingereicht hätte, diese neue Verstimmung niederzukämpfen, so wäre es ihm doch vielleicht noch gelungen, auf Rosamunden's Vorstellungen und Entschlüsse zu wirken.

Es läßt sich nie mit Bestimmtheit behaupten, daß irgend welche, auch noch so unbeugsame und eigenthümliche Naturen, sich dem Einflusse einer mächtigeren Natur in einem gegebenen Momente zu entziehen wissen werden. Sie können vielleicht mit Sturm genommen und für den Augenblick bekehrt und gleichsam ein Theil der Seele werden, welche sie mit der Gluth ihrer Bewegung umfängt. Aber den armen Lydgate übermannte sein Schmerz, und seine Energie war seiner Aufgabe nicht gewachsen.

Der Beginn eines gegenseitigen Verständnisses und gemeinsamer Entschlüsse schien so fern wie je; ja, er schien durch das Bewußtsein einer vergeblichen Anstrengung völlig ausgeschlossen. Sie lebten von Tag zu Tag weiter, ein Jedes mit seinen besonderen Gedanken; Lydgate ging in verzweifelter Stimmung seinem Tagewerk nach, und Rosamunde fand, nicht ganz mit Unrecht, sein Benehmen gegen sie grausam. Es konnte zu nichts führen, mit Tertius über irgend etwas zu reden; aber Will Ladislaw war sie entschlossen, sobald er komme, Alles zu sagen. Bei aller ihrer Schweigsamkeit bedurfte sie doch Jemandes, der es anerkenne, wie viel Unrecht ihr geschehen sei.



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