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Siebentes Kapitel.


Das Motto zu Kapitel 69 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 7):

If thou hast heard a word, let it die with thee.

Ecclesiasticus 19:10.


Es war um drei Uhr Nachmittags desselben Tages, an dem Bulstrode Lydgate in seinem Directionszimmer in der Bank empfangen hatte, als ein Commis eintrat und ihm meldete, daß sein Pferd bereit stehe und daß auch Herr Garth draußen sei und ihn zu sprechen wünsche.

»Sehr angenehm«, sagte Bulstrode und Caleb trat ein. »Nehmen Sie gefälligst Platz, Herr Garth,« fuhr Bulstrode in seinem freundlichsten Tone fort. »Ich freue mich, daß Sie gerade zu rechter Zeit gekommen sind, um mich noch hier zu treffen. Ich weiß, wie kostbar jede Minute für Sie ist.«

»O,« sagte Caleb sanft, indem er den Kopf langsam auf die Seite neigte, sich setzte und seinen Hut auf den Boden stellte. Gesenkten Blicks lehnte er sich vorüber, ließ seine langen Finger zwischen den Beinen herab hängen und bewegte sie einen nach dem andern, wie wenn jeder an einem Gedanken Antheil hätte, der hinter seiner großen Stirn arbeitete.

Bulstrode war, wie alle Leute, die Caleb kannten, daran gewöhnt, daß er sehr langsam an die Besprechung eines ihm wichtig scheinenden Gegenstandes ging, und dachte sich, er werde auf einen schon früher gemachten Vorschlag zurückkommen und ihm rathen, einige Häuser in Blindman's Court zum Zweck des Niederreißens zu kaufen, für welches Opfer an Eigenthum er durch die reichliche Zuführung von Luft und Licht auf das Grundstück entschädigt werden würde. Durch Propositionen solcher Art wurde Caleb seinen Auftraggebern bisweilen lästig; er hatte aber Bulstrode meistentheils bereit gefunden, auf seine Verbesserungsvorschläge einzugehen, und sie waren bisher immer gut miteinander ausgekommen.

Als er aber jetzt wieder anhub, geschah es mit einer etwas gedämpften Stimme:

»Ich komme eben von Stone Court, Herr Bulstrode.«

»Ich hoffe, Sie haben Alles in Ordnung gefunden, ich war selber noch gestern draußen. Abel ist es mit den Lämmern dieses Jahr gut gegangen.«

»O nein, sagte Caleb ernst aufschauend; es ist da nicht Alles in Ordnung! Es ist da ein Fremder, der mir sehr krank zu sein scheint. Er braucht einen Arzt und ich komme, Ihnen das zu sagen. Er heißt Raffles.«

Caleb sah, wie heftig seine Worte Bulstrode erschütterten. Dieser hatte geglaubt, daß er durch sein fortwährend ängstliches Aufpassen wenigstens vor Ueberraschungen in dieser Angelegenheit geschützt sei; aber er hatte sich geirrt.

»Der arme Mensch!« sagte er in mitleidigem Ton, obgleich seine Lippen dabei etwas zitterten. »Wissen Sie, wie er hinaus gekommen ist?«

»Ich habe ihn selbst hingebracht,«.erwiderte Caleb ruhig; »ich habe ihn in meinem Wagen mitgenommen. Er war vom Postwagen gestiegen und zu Fuß weiter gegangen, eine kleine Strecke diesseits des Chaussee-Hauses holte ich ihn ein. Er erinnerte sich, mich schon einmal mit Ihnen in Stone Court gesehen zu haben, und bat mich, ihn mitzunehmen. Ich sah, daß er krank sei, und es schien mir richtig, ihn unter ein Obdach zu bringen. Und jetzt sollten Sie, glaube ich, keine Zeit verlieren, ihm ärztlichen Beistand zu schaffen.«

Bei den letzten Worten nahm Caleb seinen Hut vom Boden auf und erhob sich langsam von seinem Sitz.

»Gewiß,« sagte Bulstrode, in dessen Innerem es stark arbeitete. »Vielleicht haben Sie selbst die, Güte, Herr Garth, im Vorbeigehn bei Herrn Lydgate vorzusprechen; oder warten Sie, er ist in diesem Augenblick wahrscheinlich im Hospital. Ich will meinen Diener gleich mit einem Billet hinschicken und will dann selbst nach Stone Court hinausreiten.«

Bulstrode schrieb rasch einige Zeilen und ging selbst hinaus, seinem Diener den Auftrag zu geben. Als er wieder eintrat, stand Caleb noch wie zuvor, in der einen Hand den Hut, die andere Hand auf die Lehne des Stuhles gestützt.

Bulstrode dachte: »Vielleicht hat Raffles mit Garth nur von seiner Krankheit gesprochen. Garth wird sich wundern, wie er es schon damals gethan haben muß, daß dieser unrespectable Patron auf seine Intimität mit mir pocht; aber er wird nichts wissen. Und er ist mir wohlgesinnt, ich kann ihm nützlich sein.«

Er wünschte sehnlichst eine Bestätigung dieser Annahme zu hören. Durch Fragen in Betreff dessen, was Raffles gesagt oder gethan habe, würde er aber seine Angst verrathen haben.

»Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, Herr Garth,« sagte er mit seiner gewohnten Höflichkeit. »Mein Diener wird in wenigen Minuten zurück sein, und dann werde ich mich selbst hinaus begeben, zu sehen, was für den unglücklichen Menschen geschehen kann. Vielleicht hatten Sie mir noch sonst etwas mitzutheilen? wenn dem so ist, nehmen Sie doch bitte Platz.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Caleb, mit einer kleinen abwehrenden Bewegung der rechten Hand. »Was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Bulstrode, ist, daß ich Sie bitten muß, Ihre Geschäfte in andere Hände als die meinigen zu legen. Ich bin Ihnen dankbar für Ihr freundliches Entgegenkommen in Betreff der Verpachtung von Stone Court und aller anderen Geschäfte. Aber ich muß sie aufgeben.«

Die furchtbare Gewißheit drang Bulstrode wie ein Dolchstich in's Herz.

»Das kommt sehr plötzlich, Herr Garth,« war alles, was er im ersten Augenblick sagen konnte.

»Allerdings,« sagte Caleb, »aber es ist unwiderruflich, ich muß es aufgeben.«

Er sprach mit Festigkeit, aber sehr milde und doch sah er, wie Bulstrode sich unter dieser Milde wand; sein Gesicht war wie ausgetrocknet, und seine Augen mieden den Blick, der auf ihnen haftete. Caleb empfand tiefes Mitleid mit ihm; aber er würde sich keiner Vorwände zur Erklärung seines Entschlusses bedient haben, selbst wenn sie etwas hätten nützen können.

»Ich fürchte, Sie sind zu diesem Entschlusse durch verleumderische Reden jenes unglücklichen Menschen in Betreff meiner gebracht worden,« sagte Bulstrode, der jetzt begierig war, Alles zu erfahren.

»Das ist wahr; ich kann nicht leugnen, daß ich auf das hin, was ich von ihm gehört habe, handle.«

»Sie sind ein gewissenhafter Mann, Herr Garth, ein Mann, zu dem ich Vertrauen habe, der sich seiner Verantwortlichkeit vor Gott bewußt ist. Sie möchten mir gewiß nicht dadurch zu nahe treten, daß Sie einem verleumderischen Gerüchte ein zu williges Ohr leihen,« sagte Bulstrode, der nach Vertheidigungsgründen rang, die annehmbar erscheinen möchten. »Das wäre doch ein sehr unzulänglicher Grund, um eine Verbindung aufzugeben, die, wie ich sagen zu dürfen glaube, für uns beide segensreich sein würde!«

»Ich möchte Niemanden verletzen, wenn ich umhin könnte,« sagte Caleb; »selbst wenn ich dächte, Gott würde es mir verzeihen. Ich glaube, das Mitgefühl für meinen Nebenmenschen würde bei mir immer überwiegen. Aber, Herr Bulstrode, ich muß glauben, daß dieser Raffles mir die Wahrheit gesagt hat, und ich kann mich nicht glücklich fühlen, wenn ich für Sie arbeite oder durch Ihre Hülfe gewinne. Das verletzt mein Gefühl. Ich muß Sie bitten, sich einen andern Agenten zu suchen.«

»Sehr wohl, Herr Garth. Aber ich darf doch wohl verlangen, daß Sie mir sagen, was er Ihnen Schlimmes von mir mitgetheilt hat. Ich muß wissen, welchem verleumderischen Gerede ich zum Opfer falle,« sagte Bulstrode, in dessen Gefühl der Demüthigung vor diesem ruhigen Manne, der seine Wohlthaten ablehnte, sich etwas Zorn zu mischen anfing.

»Das ist überflüssig,« sagte Caleb mit einer abwehrenden Handbewegung und einem leichten Neigen des Kopfes, ohne seinen Ton zu verändern, welcher die milde Absicht, den bejammernswerthen Mann zu schonen, deutlich durchklingen ließ. »Was er mir gesagt hat, soll nie über meine Lippen kommen, wenn nicht etwas mir bis jetzt Unbekanntes mich dazu zwingt. Wenn Sie um des Gewinnes willen ein schlimmes Leben führten und Anderen durch Täuschung ihre Rechte vorenthielten, um desto mehr für sich zu erlangen, so bereuen Sie das gewiß, möchten umkehren und können nicht! Das muß bitter sein!« Caleb hielt einen Augenblick inne und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht meine Sache, Ihnen Ihr Leben noch schwerer zu machen.«

»Aber das thun Sie gerade, Sie machen es mir schwerer,« sagte Bulstrode, dessen Brust sich bei Caleb's Worten dieser flehende Aufschrei entrang. »Sie machen-es mir schwerer, indem Sie sich von mir abwenden.«

»Dazu bin ich gezwungen,« erwiderte Caleb, indem er noch sanfter die Hand erhob. »Es thut mir leid. Ich werfe mich nicht zum Richter über Sie auf und sage: ›Er ist ein Sünder, und ich bin ein Gerechter‹, da sei Gott vor; ich bin nicht allwissend. Ein Mensch kann Unrecht thun und kann doch seine Seele retten, wenn er auch sein Leben nicht wieder reinigen kann. Das ist eine schlimme Strafe. Und so ist es mit Ihnen, nun das thut mir sehr leid für Sie. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß ich nicht ferner mit Ihnen arbeiten darf. Das ist Alles, Herr Bulstrode, alles Andere ist, so weit es von mir abhängt, begraben. Leben Sie wohl.«

»Einen Augenblick, Herr Garth,« sagte Bulstrode hastig. »Ich darf mich also auf Ihre feierliche Versicherung verlassen, daß Sie gegen Niemanden, es sei Mann oder Weib, wiederholen wollen, was, selbst wenn etwas Wahres daran ist, doch eine böswillige Darstellung der Sache ist.«

Das erregte Caleb's Grimm, und er sagte entrüstet:

»Warum sollte ich es gesagt haben, wenn ich es nicht meinte? Ich fürchte mich nicht vor Ihnen. Solche Geschichten werden meine Zunge nie in Versuchung bringen.«

»Entschuldigen Sie mich, ich bin aufgeregt – ich bin das Opfer dieses verworfenen Menschen.«

»Halt! Sie müssen sich fragen, ob Sie nicht dazu beigetragen haben, ihn noch schlechter zu machen, indem Sie von seinen Lastern profitirten.«

»Sie thun mir Unrecht, wenn Sie ihm ohne Weiteres glauben,« sagte Bulstrode, wie von einem Alp bedrückt, außer Stande, das, was Raffles gesagt haben mochte, unbedingt zu leugnen und doch mit dem Gefühl, daß ihm dadurch, daß Caleb ihn durch seine Mittheilung nicht zu einem solchen unbedingten Leugnen aufgefordert habe, eine Ausflucht geboten sei.

»Nein,« sagte Caleb, indem er die Hand, wie um eine Beschuldigung von sich abzuwenden, erhob. »Ich bin bereit, das Bessere zu glauben, wenn mir das Bessere bewiesen wird. Ich will Ihnen keine gute Gelegenheit dazu benehmen. Was das Reden betrifft, so halte ich es für ein Verbrechen, die Sünden eines Menschen bloszustellen, so lange ich nicht überzeugt bin, daß es geschehen muß, um einen Unschuldigen zu retten. So denke ich, Herr Bulstrode, und ich brauche das, was ich sage, nicht zu beschwören. Ich empfehle mich Ihnen.«

 

Als Caleb einige Stunden später nach Hause gekommen war, sagte er beiläufig zu seiner Frau, er habe einige kleine Differenzen mit Bulstrode gehabt, habe in Folge dessen die Idee, Stone Court zu pachten, ganz aufgegeben und wolle nun überhaupt gar nicht mehr für ihn arbeiten.

»Er wollte sich wohl zu viel einmischen, nicht wahr?« fragte Frau Garth, indem sie sich dachte, ihr Mann habe sich an seiner empfindlichen Stelle getroffen gefühlt, habe sich behindert gesehen, das zu thun, was er in Betreff des Materials und der Arbeitsmethode für das Beste hielt.

»O,« sagte Caleb kopfschüttelnd und mit einer ernst ab wehrenden Handbewegung, und Frau Garth kannte das als ein Zeichen, daß er über eine Sache nicht weiter reden wolle.

 

Bulstrode war alsbald auf's Pferd gestiegen und nach Stone Court geritten, wo er noch vor Lydgate's Ankunft einzutreffen wünschte. Sein Inneres war bestürmt von Bildern und Vermuthungen, welche sich zum Ausdruck seiner Hoffnungen und Befürchtungen gestalteten, gerade wie wir bei Erschütterungen unseres ganzen Nervensystems Töne zu vernehmen glauben.

Das Gefühl der Demüthigung, welche ihm Caleb's Kenntniß von seiner Vergangenheit und Caleb's Ablehnen seiner Gönnerschaft bereitet hatte, wechselte mit – ja, wurde fast überwogen von dem Gefühl der Sicherheit, welche für ihn in der Thatsache lag, daß es Garth und kein Anderer gewesen sei, welchem Raffles seine Mittheilung gemacht habe. Es schien ihm darin eine Gewähr dafür zu liegen, daß die Vorsehung ihn vor schlimmeren Folgen bewahren wolle, indem er so noch hoffen durfte, daß die Sache geheim bleiben werde.

Daß Raffles krank war, daß er gerade nach Stone Court gelangt war! – Bulstrode's Herz zitterte bei der Vorstellung der Wahrscheinlichkeiten, die sich aus diesen Thatsachen ergaben. Wenn es sich herausstellen sollte, daß er vor jeder Gefahr geschützt sei, wenn er wieder in voller Freiheit würde athmen können, dann sollte sein Leben geheiligter sein, als es noch je zuvor gewesen war. Er that dieses Gelübde, wie wenn es das ersehnte Resultat beschleunigen könne; er versuchte es, an die Gewalt dieses in inbrünstigem Gebete gefaßten Entschlusses zu glauben, an seine Gewalt, den Tod herbei zu führen. Er wußte, daß er sagen müsse: ›Dein Wille geschehe‹, und er sagte es oft. Aber darunter verbarg sich der innige Wunsch, daß der Wille Gottes der Tod jenes verhaßten Menschen sein möge.

Gleichwohl konnte er, als er in Stone Court angekommen war, die mit Raffles vorgegangene Veränderung nicht ohne Entsetzen ansehen. Wäre er nicht so blaß und schwach gewesen, Bulstrode würde die Veränderung für eine rein geistige gehalten haben. An die Stelle seines lauten, leuteverdrießenden Wesens war eine unbestimmte entsetzliche Bangigkeit getreten; er schien Bulstrode's Zorn darüber, daß all sein Geld schon wieder fort sei, abwehren zu wollen; er sei beraubt, man habe ihm die Hälfte weggenommen; er sei nur hergekommen, weil er krank sei, und er werde von Jemandem verfolgt – Jemand sei hinter ihm her. Er habe Niemandem etwas gesagt, er habe ganz reinen Mund gehalten!

Bulstrode, der die Bedeutung dieser Symptome nicht kannte, glaubte in dieser neuen nervösen Reizbarkeit ein Mittel erblicken zu dürfen, Raffles durch Furcht zu Geständnissen zu bringen, und zieh ihn der Lüge, weil er behauptete, Niemandem etwas gesagt zu haben, da er doch eben erst gegen den Mann, der ihn in seinem Wagen mitgenommen, und nach Stone Court gebracht hatte, geplaudert habe. Raffles leugnete das unter feierlichen Betheurungen; sein Gedächtniß hatte nämlich stark gelitten, und seine ausführliche angstvolle Erzählung an Garth war ihm von schreckhaften Vorstellungen eingegeben worden, die ihm jetzt wieder völlig entfallen waren.

Bulstrode wurde wieder muthlos bei der Erkenntniß, daß ihm über das Gemüth dieses Unglücklichen keine Gewalt zustehe und daß er sich auf kein Wort von Raffles in Betreff dessen verlassen könne, was ihm am meisten am Herzen lag, ob er nämlich wirklich gegen Jedermann in der Gegend mit einziger Ausnahme von Garth geschwiegen habe.

Die Haushälterin hatte ihm ganz harmlos erzählt, daß Raffles, nachdem Garth fortgegangen sei, Bier von ihr verlangt habe, seitdem aber sehr elend zu sein scheine und kein Wort mehr gesprochen habe. Nach dieser Seite hin war also, wie er schließen durfte, noch nichts verrathen. Frau Abel dachte wie die Dienstboten im ›Gebüsch‹, der sonderbare Mann gehöre zu den unangenehmen Verwandten, von welchen alle reichen Leute geplagt würden; anfänglich hatte sie ihn für einen Verwandten von Herrn Rigg gehalten und sich gesagt, wo Vermögen sei, da fehle es natürlich auch nicht an diesen summenden Schmeißfliegen. Wie er nun auch mit Bulstrode verwandt sein könne, war ihr nicht ganz so klar; aber Frau Abel kam mit ihrem Manne überein, daß man das nicht wissen könne, eine Auskunft, die ihr eine große Befriedigung gewährte und bei der sie sich kopfschüttelnd, ohne der Sache weiter nachzudenken, beruhigte.

Noch keine Stunde war vergangen, als Lydgate eintrat. Bulstrode kam ihm aus dem getäfelten Wohnzimmer, in welchem sich Raffles befand, entgegen und sagte:

»Ich habe Sie zu einem unglücklichen Menschen rufen lassen, den ich vor langen Jahren einmal beschäftigt habe, Herr Lydgate. Später ging er nach Amerika und kam von dort wieder zurück, um, wie ich fürchte, hier ein träges ausschweifendes Leben zu führen. Seine Hülfelosigkeit giebt ihm einen Anspruch auf meine Theilnahme. Es ist ein entfernter Verwandter von Herrn Rigg, dem früheren Besitzer von Stone Court, und ist in Folge dessen hierher gekommen. Er scheint mir ernstlich krank zu sein; offenbar ist auch sein Geist gestört. Ich fühle mich verpflichtet, alles, was in meinen Kräften steht, für ihn zu thun.«

Lydgate, der noch unter dem Eindruck seiner letzten Unterhaltung mit Bulstrode stand, fühlte sich nicht aufgelegt, ein überflüssiges Wort mit ihm zu reden, und erwiderte diesen Bericht nur mit einer leichten Verbeugung; aber im Begriff, das Zimmer zu betreten, wandte er sich mechanisch um und fragte:

»Wie heißt er? Namen sind ja für den Arzt ebenso nothwendig wie für den praktischen Politiker.«

»Raffles, John Raffles,« erwiderte Bulstrode in der, Hoffnung, daß Lydgate, was auch aus Raffles werden möge, nie etwas Weiteres über ihn erfahren werde.

Nachdem er den Patienten gründlich untersucht und beobachtet hatte, beorderte Lydgate, daß er zu Bett gebracht und so ruhig wie möglich gehalten werde, und ging dann mit Bulstrode in ein anderes Zimmer.

»Ich fürchte, die Sache ist ernst,« sagte Bulstrode, noch ehe Lydgate zu reden angefangen hatte.

»Nein und Ja,« erwiderte Lydgate in einem halb unschlüssigen Tone. »Es läßt sich schwer ein entscheidendes Urtheil über die Wirkungen lange vorhandener Complicationen abgeben; aber der Mann hat von Haus aus eine robuste Constitution. Ich halte diesen Anfall nicht für absolut gefährlich, wenn sich auch das Nervensystem natürlich in einem kritischen Zustande befindet; unter allen Umständen muß er gut überwacht und gepflegt werden.«

»Ich werde selbst hier bleiben,« sagte Bulstrode. »Frau Abel und ihr Mann haben keine Erfahrung in der Krankenpflege; ich kann sehr gut hier übernachten, wenn Sie die Güte haben wollen, ein Billet an meine Frau für mich mitzunehmen. «

»Das halte ich kaum für nöthig,« bemerkte Lydgate. »Er scheint ja sehr zahm und furchtsam zu sein. Er könnte freilich wieder unlenksamer werden. – Aber dann ist ja doch ein Mann hier, nicht wahr?«

»Ich bin schon öfter, wenn ich allein sein wollte, mehrere Nächte hier geblieben,« entgegnete Bulstrode, »und es ist mir durchaus nicht unangenehm, es auch jetzt wieder zu thun. Frau Abel und ihr Mann können mich ablösen oder, wenn es erforderlich sein sollte, mir helfen.«

»Gut, dann brauche ich meine Verordnungen nur Ihnen zu geben,« sagte Lydgate, dem irgend etwas Apartes an Bulstrode nicht weiter auffiel.

»Sie haben also noch Hoffnung für den Patienten?« fragte Bulstrode, als Lydgate seine Verordnungen ertheilt hatte.

»Wenn sich nicht noch fernere Complicationen herausstellen, die ich bis jetzt nicht entdeckt habe, ja,« erwiderte Lydgate. »Sein Zustand kann sich verschlimmern; aber es sollte mich nicht wundern, wenn er, bei genauer Beobachtung meiner Vorschriften, in wenigen Tagen auf dem Wege der Besserung wäre. Aber es bedarf ihm gegenüber der Festigkeit. Vergessen Sie nicht, wenn er nach irgend welchen geistigen Getränken verlangen sollte, daß ihm nichts der Art verabreicht werden darf. Nach meiner Ansicht sterben Menschen in dem Zustande dieses Patienten öfter an der ärztlichen Behandlung als an ihrem Leiden. Indessen, es können sich neue Symptome zeigen; ich werde morgen früh wiederkommen.«

Nachdem er noch auf das Billet für Frau Bulstrode gewartet hatte, ritt Lydgate fort, ohne sich zunächst in Vermuthungen über Raffles' Geschichte zu ergehen. Was ihn beschäftigte, war vielmehr die ganze Frage der richtigen Behandlung von Fällen der Alkoholvergiftung, wie sie kürzlich durch die Veröffentlichung der reichen, von Dr. Ware in Amerika gemachten Erfahrungen neu angeregt war. Lydgate hatte sich schon während seines Aufenthalts im Auslande für diese Frage interessirt; er war entschieden gegen die herrschende Praxis, in solchen Fällen den Genuß von Alkohol zu gestatten und fortwährend große Dosen Opium zu geben, und war zu wiederholten Malen mit günstigen Erfolgen dieser Ueberzeugung gemäß verfahren.

»Der Mann ist krank,« dachte er; »aber er hat immer noch ziemlich viel zuzusetzen. Bulstrode hat sich vermuthlich aus Mildthätigkeit seiner angenommen. Es ist sonderbar, wie sich Härte und Milde bei Menschen gepaart finden. Bulstrode scheint mir in vielen Beziehungen der gefühlloseste Mensch, und doch scheuet er für milde Zwecke weder Mühe noch Kosten. Er muß wohl an besonderen Kennzeichen ersehen, wem der Himmel gewogen ist – darüber daß der Himmel mir nicht gewogen ist, scheint er mit sich völlig im Reinen zu sein.«

Diese bittere Bemerkung entfloß einem übervollen Quell bitterer Empfindungen, die sich zu einem Strom erweiterte, als Lydgate sich Lowick Gate näherte. Er war, seit seiner Zusammenkunft mit Bulstrode am Morgen, nicht wieder zu Hause gewesen; denn der Bote, der ihn nach Stone Court holte, hatte ihn im Hospital getroffen, und zum ersten Mal kehrte er nach Hause zurück, ohne sich mit der Hoffnung auf irgend ein im Hintergrunde winkendes Auskunftsmittel zu tragen, welches ihn in den Stand setzen würde, sich Geld genug zu verschaffen, um vor der drohenden Entblößung von alle dem geschützt zu sein, was seine Ehe erträglich machte – von alle dem, was ihn und Rosamunde vor der Vereinsamung rettete, welche ihnen die Erkenntniß aufdrängen würde, wie wenig Trost sie einander zu gewähren vermöchten. Es schien ihm erträglicher, sich für sein Theil ohne Zärtlichkeit zu behelfen, als sehen zu müssen, daß seine Zärtlichkeit Rosamunden keinen Ersatz für andere Dinge zu bieten im Stande sei. Sein Stolz litt schwer unter den Demüthigungen, die er bereits erfahren und noch zu gewärtigen hatte.

Und doch traten diese Leiden völlig zurück gegen den heftigeren Schmerz, der ihn ganz beherrschte, den Schmerz der Voraussicht, daß Rosamunde dahin kommen werde, ihn als die Hauptursache ihrer Enttäuschungen und ihres Unglücks zu betrachten. Er war nie ein Freund von den Nothbehelfen der Armuth gewesen und hatte ihnen nie einen Platz in seinen Vorstellungen von seiner eigenen Zukunft eingeräumt; aber jetzt fing er an, es sich auszumalen, wie zwei Wesen, die sich lieben und einen Vorrath von gemeinsamen Ideen haben, über ihr elendes Mobiliar und ihre Berechnungen, wie viel Butter und Eier ihnen ihre Mittel erlauben, lustig lachen könnten.

Aber der Schimmer dieser Poesie schien ihm so fern zu liegen wie die Sorglosigkeit des goldenen Zeitalters; der Geist der armen Rosamunde war nicht groß genug, um den Raum, den der Luxus des Lebens darin einnahm, klein erscheinen zu lassen.

In sehr trüber Stimmung stieg er vom Pferde, er ging ins Haus, ohne auf eine andere Erheiterung als auf die seines Mittagessens zu rechnen, und erwog, daß er gut thun werde, Rosamunden im Laufe des Abends mitzutheilen, daß er sich erfolglos an Bulstrode gewandt habe. Es schien ihm richtig, keine Zeit zu verlieren, sie auf das Schlimmste vorzubereiten.

Aber sein Mittagessen war lange bereit, bevor er im Stande war, es zu genießen. Denn beim Eintritt ins Haus fand er, daß Dover's Agent ihm bereits einen Mann als Wache ins Haus gelegt habe, und als er nach seiner Frau fragte, erfuhr er, daß sie im Schlafzimmer sei. Er ging hinauf und fand sie ausgestreckt auf dem Bette liegen, bleich und stumm. Durch kein Wort und keinen Blick vermochte er ihr irgend eine Erwiderung zu entlocken. Er setzte sich zu ihr ans Bett, beugte sich über sie und rief in einem fast betenden Tone:

»Verzeih' mir diesen Jammer, meine arme Rosamunde! Laß uns nur an unsrer Liebe festhalten!«

Sie sah ihn noch immer schweigend, mit dem Ausdruck öder Verzweiflung an; aber gleich darauf fingen ihre blauen Augen sich mit Thränen zu füllen und ihre Lippen zu zittern an. Der starke Mann hatte an diesem Tage zu viel ertragen müssen. Er ließ seinen Kopf neben den ihrigen hinsinken und schluchzte.

Er verhinderte sie nicht, früh am nächsten Morgen zu ihrem Vater zu gehen; es schien ihm jetzt, daß er sie thun lassen müsse, was ihr gut scheine. Nach einer halben Stunde kam sie zurück und sagte, Papa und Mama wünschten, sie möge bei ihnen bleiben, so lange die Dinge hier im Hause so traurig ständen. Papa habe gesagt, er könne in Betreff der Schuld nichts thun; wenn er diese auch bezahlen wolle, so würde noch ein halbes Dutzend anderer kommen. Es sei daher besser, daß sie wieder zu ihren Eltern gehe, bis Lydgate ihr eine behagliche Häuslichkeit bieten könne.

»Hast Du etwas dagegen, Tertius?«,

»Thue, was Du willst,« sagte Lydgate: »Aber es kommt ja nicht gleich zu einem Eclat; Du hast keine Eile.«

»Ich würde nicht vor morgen gehen,« erwiderte Rosamunde; »ich muß doch erst meine Kleider einpacken.«

»O, ich würde noch ein bischen länger warten; man weiß ja nicht, was passiren kann,« sagte Lydgate mit bitterer Ironie. »Ich kann den Hals brechen, und das würde die Sache leichter für dich machen.«

Zu Lydgate's und auch zu Rosamunden's Unglück wurde seine, sowohl auf augenblicklichen Impulsen als auf wohlüberlegter Entschließung beruhende Zärtlichkeit für sie von Zeit zu Zeit durch diese unvermeidlichen Ausbrüche einer bald ironischen, bald vorwurfsvollen Entrüstung unterbrochen. Ihr schienen diese Ausbrüche vollkommen ungerechtfertigt, und der Widerwille, welchen diese gelegentliche Schärfe bei ihr erweckte, trug die Gefahr in sich, ihr auch seine dauerndere Zärtlichkeit unannehmbar zu machen.

»Ich sehe, Du wünschest nicht, daß ich gehe,« sagte sie in einem frostig sanften Ton; »warum kannst Du mir das nicht sagen, ohne dabei so heftig zu werden? Ich werde bleiben, bis Du mich bittest fortzugehen.«

Lydgate sagte nichts weiter, sondern ging aus, um seine Praxis zu besorgen. Er fühlte sich wund und zerschlagen und hatte unter den Augen schwarze Ränder, welche Rosamunde bisher noch nie bei ihm bemerkt hatte. Sie konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen. Tertius hatte eine Art, die Dinge zu nehmen, die sie ihr noch viel unerträglicher machten.



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