Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 77 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 15):

And thus thy fall hath left a kind of blot,
To mark the full-fraught man and best indued
With some suspicion.

Shakespeare: Henry V.


Am nächsten Tage mußte Lydgate nach Brassing und sagte Rosamunden, daß er nicht vor Abend zurückkommen werde. Seit einiger Zeit hatte sie ihr Haus und ihren Garten nur verlassen, um zur Kirche und einmal zu ihrem Vater zu gehen, zu welchem sie gesagt hatte:

»Wenn Tertius von hier fortzieht, wirst Du uns zu dem Umzug behülflich sein, nicht wahr, Papa? Ich glaube, wir werden nur sehr wenig Geld haben; aber ich hoffe sicherlich, es wird uns Jemand helfen.«

Worauf Herr Vincy ihr geantwortet hatte:

»Ja, mein Kind, auf ein paar hundert Pfund soll es mir nicht ankommen. Das läßt sich absehen.«

Sonst hatte sie immer melancholisch zu Hause gesessen und nur an Ladislaw's bevorstehende Ankunft, als das einzige, woran sich noch ein hoffnungsvolles Interesse für sie knüpfte, gedacht und hatte damit die Vorstellung von einem neuen für Lydgate gegebenen Antrieb, sofort Anstalten für seine Uebersiedelung nach London zu treffen, in Verbindung gebracht, bis sie sich überzeugt fühlte, daß Ladislaw's Ankunft einen gewichtigen Anlaß zum Fortziehen bieten werde, ohne daß sie sich über diesen Zusammenhang irgend Rechenschaft zugeben wußte.

Diese Art, zu Schlüssen zu gelangen, ist zu gewöhnlich als daß man sie billigerweise als eine besondere Thorheit Rosamunden's betrachten dürfte, und gerade diese Art von Schlußfolgerungen wirkt bei Aufdeckung ihrer Unhaltbarkeit am erschütterndsten. Denn wenn wir uns Rechenschaft davon geben, wie eine Wirkung hervorgebracht wird, sind wir dadurch oft vor Fehlschlüssen und Enttäuschungen gesichert; wenn wir aber nichts sehen, als die wünschenswerthe Ursache und dicht daneben die wünschenswerthe Wirkung, so werden wir dadurch jedes Zweifels ledig und lassen uns ganz von unserer inneren Anschauung leiten.

Das war es, was in der armen Rosamunde vorging, während sie alle Gegenstände um sich her mit derselben Zierlichkeit wie immer, nur langsamer ordnete, oder sich ans Klavier setzte, um zu spielen, dann gleich wieder aufhörte, aber auf dem Klavierstuhl sitzen blieb, ihre weißen Finger von der Tastatur auf den davorliegenden Holzrand gleiten ließ und in träumerischem Ennui vor sich hinblickte.

Ihre melancholische Stimmung war bei ihr nachgerade so scharf ausgeprägt, daß Lydgate eine eigenthümliche Scheu vor derselben, wie vor einem fortwährenden schweigenden Vorwurf empfand. Dieser starke und doch so feinfühlige Mann scheute den Blick dieses zarten Geschöpfes, dessen Lebensglück er doch getrübt hatte, und fuhr bisweilen bei ihrer Annäherung zusammen, indem ihn jetzt, nachdem seine Erbitterung diese Gefühle vorübergehend in den Hintergrund gedrängt hatte, Furcht vor ihr und für sie nur um so nachdrücklicher ergriffen.

Aber diesen Morgen kam Rosamunde aus ihrem Zimmer, in welchem sie oft, wenn Lydgate aus war, den ganzen Tag zubrachte, zum Ausgehen angekleidet hinunter. Sie hatte einen an Will Ladislaw adressirten Brief auf die Post zu bringen, der, mit reizender Zurückhaltung geschrieben, doch durch eine Andeutung ihres Ungemachs seine Ankunft zu beschleunigen bestimmt war. Ihr jetzt einziges Dienstmädchen sah sie in ihrer Straßentoilette die Treppe herunterkommen und dachte bei sich, es habe wohl noch nie eine Frau so hübsch in einem Hut ausgesehen wie ihre arme Dame.

 

Inzwischen war Dorothea ganz erfüllt von ihrem projectirten Besuch bei Rosamunden und von den vielen Gedanken sowohl an die Vergangenheit als an die wahrscheinliche Zukunft, welche sich für sie mit der Idee dieses Besuches verknüpften.

Bis gestern, wo Lydgate sie hatte merken lassen, daß das Glück seiner Ehe kein ungetrübtes sei, hatte sich für sie das Bild Rosamunden's immer mit dem Gedanken an Will Ladislaw verknüpft. Selbst in ihren unbehaglichsten Momenten, selbst als sie durch Frau Cadwallader's peinlich drastischen Bericht über Klatschereien aufgeregt war, waren ihre Bemühungen, ja ihre stärksten unmittelbaren Eingebungen darauf gerichtet gewesen, Will gegen jeden schimpflichen Verdacht in Schutz zu nehmen. Und als sie bei ihrer darauffolgenden Zusammenkunft mit ihm in seinen Worten zuerst eine wahrscheinliche Anspielung auf seine Gefühle für Rosamunde erkennen zu müssen glaubte, denen sich nicht ferner hinzugeben er fest entschlossen war, hatte sie alsbald eine Entschuldigung für ihn in einer raschen Vergegenwärtigung des Reizes gefunden, den wohl die sich ihm fortwährend darbietende Gelegenheit des Zusammenseins mit jener schönen Frau bieten müsse, die wahrscheinlich seine übrigen Neigungen ebenso theile, wie sie es offenbar mit seiner Freude an der Musik that.

Aber dann waren seine Abschiedsworte gekommen, die wenigen leidenschaftlichen Worte, in welchen er zu verstehen gegeben hatte, daß sie selbst es sei, vor der ihn seine Liebe sich fürchten lasse, daß es nur seine Liebe zu ihr sei, die er entschlossen sei, nicht zu erklären, sondern in die Verbannung mit sich zu nehmen. Von jenem Augenblick an fühlte sich Dorothea in ihrem Glauben an Will's Liebe für sie, in ihrem mit stolzem Entzücken gepaarten Glauben an sein zartes Ehrgefühl und seinen festen Entschluß, Niemandem ein Recht auf eine begründete Beschuldigung gegen ihn zu geben, in Betreff seiner Gefühle für Frau Lydgate völlig beruhigt. Sie war überzeugt, daß diese Gefühle untadelig seien.

Es giebt Naturen, durch deren Liebe wir eine Art von Taufe und Heiligung erhalten; sie zwingen uns durch ihren reinen Glauben an uns zur Rechtschaffenheit und Reinheit, und unsere Sünden werden zu jener schlimmsten Entweihung des Heiligen, welche den unsichtbaren Altar des Vertrauens umreißt. ›Wenn Du nicht gut bist, so ist Niemand gut.‹ – Diese wenigen Worte können der Verantwortlichkeit eine furchtbare Bedeutung, den Gewissensbissen eine fressende Schärfe geben.

Von solcher Art war Dorothea's Natur; ihre eigenen leidenschaftlichen Fehler waren eine Folge ihres feurigen Charakters und lagen offen zu Tage, und während sie voll Mitleid für die sichtbaren Fehler Anderer war, bot ihr ihre Erfahrung noch keine Anhaltspunkte für die fein ausgearbeitete Vorstellung und den Verdacht verborgenen Unrechts.

Aber gerade diese Einfachheit, mit welcher sie sich in ihrer gläubigen Vorstellung ein ideales Bild von Anderen entwarf, bildete einen Theil der großen Gewalt ihrer Weiblichkeit. Und diese Gewalt hatte von Anfang an ihre starke Wirkung auf Will Ladislaw geübt. Er fühlte, als er Abschied von ihr nahm, daß die kurzen Worte, durch welche er es versucht hatte, ihr seine Gefühle in Betreff ihrer und der Schranke, welche ihr Vermögen zwischen ihnen ziehe, deutlich zu machen, durch ihre Kürze nur gewinnen würden, sobald Dorothea sich dieselben zu erklären suchen werde. Er fühlte, daß er bei ihr die größte Achtung gefunden habe.

Und darin hatte er Recht. In den seit ihrer Trennung verflossenen Monaten hatte Dorothea in dem Gedanken an ihr gegenseitiges Verhältniß als ein innerlich gesundes und untadeliges eine entzückende, wenn auch wehmüthige Beruhigung gefunden. Sie hatte eine Kraft des Widerstandes in sich, die sich energisch bethätigte, sobald es sich um die Vertheidigung von Entwürfen oder Personen handelte, an die sie glaubte; und das Unrecht, welches Will nach ihrer Ueberzeugung von ihrem verstorbenen Manne widerfahren war, und die äußeren Verhältnisse, welche für Andere ein Grund waren, ihn geringschätzig zu behandeln, verliehen ihrer Neigung und ihrer Bewunderung für ihn nur eine um so größere Zähigkeit.

Und jetzt war mit den Enthüllungen über Bulstrode eine neue, Will's gesellschaftliche Stellung berührende Thatsache ans Tageslicht gekommen, welche Dorothea's Widerstand gegen Alles, was in jenem von Parkzäunen eingehegten Theile ihrer Welt über ihn gesagt wurde, auf's Neue reizte.

›Der junge Ladislaw der Enkel eines diebischen jüdischen Pfandleihers!‹ dieses bei den Unterhaltungen über die Bulstrode-Affaire in Lowick, Tipton und Freshitt mit Vorliebe gebrauchte Wort, war ein schlimmeres, dem armen Will rücklings angeheftetes Pasquill als ›der Italiener mit den weißen Mäusen.‹ Der ehrliche Sir James Chettam war überzeugt, daß die Genugthuung, die er in dem Gedanken empfinde, daß hier eine neue Erweiterung jener ungeheuren Kluft zwischen Ladislaw und Dorotheen gegeben sei, welche ihm jede Besorgniß als gar zu albern weit von sich zu weisen gestatte, eine durchaus gerechtfertigte sei. Und vielleicht hatte er nicht ohne eine gewisse Schadenfreude Herrn Brooke's Aufmerksamkeit auf diesen häßlichen Fleck in Ladislaw's Abstammung, als auf ein neues Licht zur Beleuchtung seiner eigenen Thorheit hingewiesen.

Dorotheen entging das Behagen, mit welchem mehr als einmal bei jenen Unterhaltungen Will's Antheils an der peinlichen Affaire gedacht wurde, keineswegs; aber sie sagte kein Wort, weil sie sich jetzt, anders als früher, durch das Bewußtsein eines tieferen Verhältnisses zu Will, welches immer in ein geweihetes Geheimniß gehüllt bleiben müsse, zurückgehalten fühlte. Aber ihr Schweigen umhüllte ihre leidenschaftliche Widerstandslust nur mit einer desto trüberen Stimmung, und Will's unglückliches Schicksal, welches Andere ihm hinterrücks wie einen Schimpf anheften zu wollen schienen, gab ihrer Anhänglichkeit an ihn nur eine noch enthusiastischere Innigkeit.

Sie trug sich nicht mit Vorstellungen, wie sie je in ein näheres Verhältniß zu einander treten würden, und doch war sie nicht zur Entsagung entschlossen. Sie hatte ihr ganzes Verhältniß zu Will einfach als einen Theil ihrer ehelichen Sorgen auf sich genommen und würde es für sündig gehalten haben, fortwährend innerlich zu wehklagen, daß sie nicht vollständig glücklich sei; sie war vielmehr geneigt, dem ihr zu Theil gewordenen Loose die beste Seite abzugewinnen. Sie konnte es ertragen, das Glück nur in der Erinnerung zu genießen, und die Idee einer Heirath kam ihr nur in der Gestalt eines ihr widerwärtigen Antrages von einem ihr unbekannten Bewerber, dessen Verdienste, so wie sie von ihren Verwandten gepriesen wurden, eine Quelle der Pein für sie sein würden: ›Jemand, der Dein Vermögen für Dich verwalten wird, liebes Kind‹, war eine nach Herrn Brooke's Ansicht lockende Andeutung wünschenswerther Charaktereigenschaften.

»Ich würde vorziehen, es selbst zu verwalten, wenn ich wüßte, was ich damit anfangen sollte,« sagte Dorothea. Sie beharrte bei ihrer Erklärung, daß sie sich nie wieder verheirathen wolle. Auf der vor ihr liegenden langen Lebensbahn, die so flach und so entblößt von Wegweisern erschien, werde ihr die Führung während ihrer Wanderung bei welcher sie andere Wanderer an sich vorüberziehen sähe, schon kommen.

Diese Gefühle für Will Ladislaw hatten sie, seit sie beschlossen hatte, Rosamunde zu besuchen, während aller ihrer wachen Stunden beherrscht und bildeten eine Art von Hintergrund, von welchem sich Rosamunden's Gestalt abhob, ohne daß Dorothea's Interesse und Mitleid für sie dadurch getrübt wurden. Offenbar bestand eine geistige Trennung, eine das vollständige Vertrauen hindernde Schranke zwischen dieser Frau und ihrem Manne, der sich doch die Begründung ihres Glückes zum Gesetz seines Lebens gemacht hatte. Das war ein trauriger Zustand, an den keine dritte Person direkt rühren durfte. Aber Dorothea dachte mit tiefem Mitleid an die Vereinsamung, welche die gegen ihren Mann erhobenen Verdächtigungen über Rosamunde gebracht haben mußten, und sicherlich würde eine Kundgebung der Achtung für Lydgate und der Sympathie für sie hier nur hülfreich wirken können.

»Ich werde mit ihr über ihren Mann reden,« dachte Dorothea, als sie in die Stadt fuhr.

Der klare Frühlingsmorgen, der Duft der feuchten Erde, die jungen Blätter mit ihrem ersten frischen Grün, das sich leise aus den Blattscheiden, worin es aufgerollt lag, hervorzudrängen begann, das Alles schien die heitere Stimmung nur noch zu erhöhen, in welche sich Dorothea durch eine lange Unterhaltung mit Farebrother, welcher die rechtfertigenden Erklärungen über Lydgate's Benehmen freudig acceptirt hatte, versetzt fühlte.

»Ich werde Frau Lydgate gute Nachrichten bringen, und vielleicht wird sie sich gern mit mir unterhalten und mich zu ihrer Freundin machen.«

Dorothea hatte noch etwas anderes in Lowick Gate zu besorgen; es betraf eine neue, wohltönende Glocke für das Schulhaus, und da sie ganz in der Nähe von Lydgate's Hause den Wagen verlassen mußte, ging sie über die Straße zu Fuß dahin, während sie den Kutscher auf einige Packete warten hieß. Die Hausthür stand offen und das Dienstmädchen betrachtete sich eben den in der Nähe des Hauses haltenden Wagen, als sie bemerkte, daß die Dame, die zu dem Wagen gehöre, auf sie zukomme.

»Ist Frau Lydgate zu Hause?« fragte Dorothea.

»Ich weiß es nicht gewiß, Mylady, ich will zusehen, wenn Sie gefälligst näher treten wollen,« erwiderte Martha, die, wegen ihrer Küchenschürze etwas verlegen, doch Besinnung genug hatte, um zu begreifen, daß Madame nicht die rechte Anrede für diese königliche junge Dame in der Wittwenhaube sei, die eben aus ihrer Equipage gestiegen war. »Treten Sie gefälligst näher, ich will zusehen.«

»Melden Sie Frau Casaubon,« sagte Dorothea, als Martha mit der Absicht voranging, sie in den Salon zu führen und dann hinaufzugehen, um zu sehen, ob Rosamunde von ihrem Ausgang zurückgekehrt sei.

Sie gingen über den breiteren Theil des Vorplatzes und traten dann in den schmaleren Durchgang nach dem Garten. Die Thür des Salons stand angelehnt und Martha stieß sie zurück, ohne ins Zimmer zu blicken, wartete nur bis Frau Casaubon eingetreten war und ging dann wieder fort, nachdem die Thür sich geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen hatte.

Dorothea, die ganz erfüllt von Bildern der Vergangenheit und der Zukunft war, sah an diesem Morgen weniger scharf als gewöhnlich. Sie stand noch an der äußern Thürschwelle, ohne irgend etwas Bemerkenswerthes zu sehen; alsbald aber hörte sie eine leise redende Stimme, welche sie wie ein wacher Traum mit Entsetzen erfüllte, und als sie nun, ohne es selbst zu wissen, ein paar Schritte über die Seitenwand eines neben der Thür stehenden Bücherschranks hinaustrat, sah sie in dem schrecklichen Licht einer Gewißheit, welche allen Umrissen volle Körperlichkeit verlieh, etwas, das sie regungslos dastehen machte und ihr die Sprache raubte.

Auf einem Sopha, welches an der Zimmerwand neben der Thür, durch welche Dorothea eingetreten war, stand, saß, ihr den Rücken zukehrend, Will Ladislaw; neben ihm saß, mit geröthetem, in Thränen gebadetem Gesicht, welches dadurch nur um so schöner erschien, Rosamunde, den Hut in den Nacken geschoben, während Will vorübergebeugt ihre beiden erhobenen Hände in den seinigen hielt und in leisem, aber feurigem Ton zu ihr sprach.

In ihrer aufgeregten Präoccupation hatte Rosamunde die schweigend vortretende Gestalt anfänglich gar nicht bemerkt; als aber Dorothea nach dem ersten unermeßlich langen Momente dieses Anblicks, in ihrer Verwirrung wieder zurücktrat und sich durch ein Möbel aufgehalten fand, ward Rosamunde plötzlich ihre Anwesenheit inne, riß mit einer krampfhaften Bewegung ihre Hände los, stand auf und sah Dorothea, die sich im Fortgehen behindert fand, an.

Auch Will Ladislaw sprang auf und sah sich um und schien, als er Dorothea's Augen begegnete, die funkelten, wie er sie nie gesehen hatte, zu Marmor zu erstarren.

Aber sie wand ihre Augen sofort von ihm ab zu Rosamunden und sagte mit fester Stimme:

»Entschuldigen Sie, Frau Lydgate, das Mädchen wußte nicht, daß Sie hier seien. Ich war gekommen, einen wichtigen Brief für Herrn Lydgate abzugeben, den ich Ihnen selbst einzuhändigen wünschte.«

Sie legte den Brief auf den kleinen Tisch, welcher ihr Fortgehen behindert hatte, und ging dann, nachdem sie sich gegen Rosamunde und Will mit einem auf beide zugleich gerichteten fremden Blick verneigt hatte, schnell zum Zimmer hinaus; auf dem Vorplatz begegnete sie der überraschten Martha, die ihr sagte, sie bedauere, daß ihre Herrin nicht zu Hause sei, und die dann der sonderbaren Dame die Hausthür öffnete, während sie bei sich dachte, vornehme Leute seien wahrscheinlich ungeduldiger als andere Menschen.

Dorothea ging mit elastischem Schritt über die Straße und bestieg sofort wieder ihren Wagen.

»Fahren Sie nach Freshitt-Hall,« sagte sie zu dem Kutscher, und wer sie in diesem Augenblick gesehen hätte, würde geglaubt haben, daß sie, wiewohl bleicher als sonst, doch von einer ungewöhnlich energischen Selbstbeherrschung beseelt sei.

Und das war wirklich der Fall. Es war, als ob sie einen Becher voll Hohns hinuntergestürzt und sich dadurch gegen andere Empfindungen stumpf gemacht habe. Sie hatte etwas ihrem Glauben völlig Hohnsprechendes gesehen, und ein Sturm unbestimmter Gefühle bedrängte sie. Sie bedurfte einer Thätigkeit, um ihrer Aufregung eine Ableitung zu geben.

Sie fühlte sich stark genug, einen ganzen Tag ohne Speise zu wandern und zu arbeiten. Und sie wollte den Plan, mit welchem sie Morgens ausgegangen war, zur Ausführung bringen, nach Freshitt und Tipton fahren, um Sir James und ihrem Onkel Alles, was sie zu Gunsten Lydgate's zu sagen wußte, mitzutheilen – Lydgate's, dessen schweres Loos ihr jetzt in dem Lichte seiner Vereinsamung in der Ehe noch viel schwerer erschien, und ihren Eifer, sein Ritter Kein Druckfehler anstatt »Retter«; so übersetzt Lehmann vielmehr hier – durch den weiblichen Bezug irritierend – » champion«, womit Eliot die ›heldenhafte Verteidigung‹ Lydgates durch Dorothea ausdrückt. – Anm.d.Hrsg. zu sein, nur noch feuriger machte. In allen Kämpfen ihres ehelichen Lebens, bei denen sich immer alsbald eine rasch dämpfende Stauung eingestellt hatte, hatte sie nie etwas dieser triumphirenden Gewalt der Entrüstung ähnliches empfunden; und sie betrachtete dieselbe als ein Zeichen neuer Kraft.

»Dodo, wie merkwürdig klar sind Deine Augen!« sagte Celia, als Sir James das Zimmer verlassen hatte. »Und dabei scheinst Du doch die Dinge, die Du ansiehst, gar nicht zu sehen, weder Arthur noch sonst etwas. Du wirst gewiß wieder etwas thun, was Dich in Ungelegenheiten bringt. Betrifft es nur Herrn Lydgate, oder ist sonst etwas vorgefallen?«

Celia hatte sich gewöhnt, ihre Schwester aufmerksam zu beobachten.

»Ja, liebes Kind, es ist sehr viel vorgefallen,« erwiderte Dorothea mit ihrer vollen klaren Stimme.

»Und was?« fragte Celia, indem sie die Arme behaglich verschränkte und sich auf dieselben stützte.

»O, alle Beschwerden aller Menschen auf der ganzen Welt,« sagte Dorothea, indem sie die Hände an ihren Hinterkopf legte.

»Um Gotteswillen! Dodo, willst Du für die Alle einen Rettungsplan machen?« sagte Celia, durch diesen hamletartigen Ausbruch etwas unbehaglich gestimmt.

Aber Sir James trat wieder ein, bereit, Dorothea nach Tiptonhof zu begleiten, und sie führte ihre Expedition tapfer zu Ende, ohne in ihrer Entschlossenheit zu wanken, bis sie wieder in ihrem eigenen Hause angelangt war.



 << zurück weiter >>