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Achtes Buch.
Sonnenuntergang und Sonnenaufgang.


Zehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 72 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 10):

Full souls are double mirrors, making still
An endless vista of fair things before,
Repeating things behind.


Dorothea, die Lydgate gern ohne weiteres von dem Verdachte, daß er sich habe bestechen lassen, hätte freisprechen mögen, sah sich zu ihrer Betrübniß in ihrer ungestümen Großherzigkeit gehemmt, als sie durch Farebrother's Auffassung genöthigt wurde, alle in Betracht kommenden Umstände im Lichte seiner Erfahrung anzusehen.

»Es ist eine delikate Sache,« hatte er gesagt. »Wie sollen wir es anfangen, zu untersuchen? Das müßte entweder öffentlich durch Verweisung der Sache an Richter und Todtenbeschauer oder privatim durch eine Befragung Lydgate's geschehen. Für das erstere Verfahren fehlt es an einer soliden Basis, sonst würde Hawley dazu geschritten sein; mit Lydgate aber von der Sache anzufangen, würde ich mich, offen gestanden, scheuen; er würde das wahrscheinlich als eine tödtliche Beleidigung betrachten Ich weiß aus mehrfachen Erfahrungen, wie schwer es ist, mit ihm über persönliche Angelegenheiten zu reden. Und um mit Sicherheit auf ein gutes Ergebniß einer solchen Erörterung zu rechnen, müßte man doch vorher genau wissen, was es mit seinem Benehmen in dieser Angelegenheit auf sich hat.«

»Ich bin überzeugt, daß er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. Ich glaube, daß die Menschen fast immer besser sind, als sie von ihren Nebenmenschen gehalten werden,« sagte Dorothea.

Von den Erfahrungen die sie während der letzten zwei Jahre gemacht, hatten gerade diejenigen, die in ihr inneres Leben am tiefsten eingegriffen, sie jedem ungünstigen Vorurtheile gegen Andere entschieden abgeneigt gemacht, und zum ersten Mal war sie mit Farebrother's Verhalten nicht ganz zufrieden. Ihr mißfiel dieses vorsichtige Abwägen der Folgen, anstatt eines feurigen Glaubens an den Erfolg von Bemühungen der Gerechtigkeit und des Mitleids, welche durch ihre erregende Kraft alle Schwierigkeiten beseitigen würden.

Zwei Tage später aß Farebrother mit ihrem Onkel und den Chettams bei Dorotheen, und als der Nachtisch aufgetragen war und unberührt dastand, die Diener das Zimmer verlassen hatten und Herr Brooke eingenickt war, kam sie mit erneueter Lebhaftigkeit auf den Gegenstand zurück.

»Lydgate rechnet sicherlich darauf, daß seine Freunde, wenn sie ein verläumderisches Gerücht über ihn hören, dringend wünschen werden, ihn zu rechtfertigen. Wozu leben wir denn, wenn es nicht ist, um uns das Leben gegenseitig weniger schwer zu machen. Ich kann nicht gleichgültig gegen die traurige Lage eines Mannes sein, der mir rathend zur Seite gestanden hat, als ich in einer traurigen Lage war, und der mir seine ärztliche Pflege angedeihen ließ, als ich krank war.«

Dorothea's Ton und Wesen waren schon ebenso energisch gewesen, als sie vor beinahe drei Jahren noch am Tische ihres Onkels saß, und ihre seitdem gemachten Erfahrungen gaben ihr jetzt ein noch größeres Recht, ihre Ansichten entschieden auszusprechen.

Aber Sir James Chettam war nicht mehr der schüchterne und immer zustimmende Bewerber, sondern der ängstliche Schwager, der zwar für seine Schwägerin noch immer eine ergebene Bewunderung hegte, aber fortwährend fürchtete, sie möge sich einer neuen Illusion hingeben, die vielleicht fast ebenso schlimm wäre wie die Heirath mit Casaubon. Er lächelte jetzt viel weniger, wenn er sagte: »Ganz richtig.« Diese Worte waren jetzt viel öfter die Einleitung zur Kundgebung einer abweichenden Meinung, als in jenen ergebenen Junggesellentagen, und Dorothea fand zu ihrer Ueberraschung, daß es neuerdings einer gewissen Ueberwindung für sie bedürfe, sich nicht vor ihm zu fürchten, wozu sie auch um so weniger Grund hatte, als er wirklich ihr bester Freund war. Auch in diesem Augenblick war er anderer Meinung als sie.

»Aber, Dorothea,« sagte er im Tone des Vorwurfs, »Sie können doch nicht für das Leben eines Mannes in dieser Weise einstehen wollen. Lydgate muß wissen – wird wenigstens bald wissen, wie er steht. Wenn er sich reinigen kann, so wird er es thun. Er muß aber für sich selbst handeln.«

»Ich glaube, seine Freunde müssen warten, bis sich ihnen eine Gelegenheit darbietet,« fügte Farebrother hinzu. »Es ist möglich, – ich habe an mir selbst oft so schwache Momente erlebt, daß ich mir vorstellen kann, wie ein Mann von sonst ehrenwerther Gesinnung, für den ich Lydgate immer gehalten habe, dazu kommt, der Versuchung zu unterliegen, Geld anzunehmen, mit welchem er mehr oder weniger indirect zu dem Zwecke hat bestochen werden sollen, um über skandalöse, einer längst vergangenen Zeit angehörende Thatsachen zu schweigen. Ich sage, ich kann mir das vorstellen, wenn ich annehme, daß der Mann unter dem Druck schwer auf ihm lastender Verhältnisse handelte, daß er gepeinigt war, wie es sicherlich bei Lydgate der Fall war. Schlimmeres würde ich von ihm nicht glauben, wenn es mir nicht unwiderleglich bewiesen würde. Aber an gewissen Irrthümern haftet es wie eine schreckliche Nemesis, daß Alle, die dazu geneigt sind, sie als Verbrechen auslegen können, daß es zu Gunsten desjenigen, der sich solcher Irrthümer schuldig gemacht hat, außer in seinem Gewissen und in seinen eigenen Aussagen keinen Beweis giebt.«

»O wie grausam!« sagte Dorothea, indem sie die Hände faltete. »Und würden Sie nicht gern der einzige Mensch sein, der an die Unschuld eines solchen Mannes glaubte, wenn auch die ganze übrige Welt ihn verläumdete? Ueberdies spricht doch der Charakter eines Mannes, wenn wir ihn als gut kennen, zum Voraus für ihn.«

»Aber, meine verehrte Frau Casaubon,« sagte Farebrother, über ihren leidenschaftlichen Eifer lächelnd, »Charaktere sind nicht in Marmor gehauen; sie sind nichts unveränderlich Festes; sie sind lebendige und wandelbare Wesen und können erkranken wie unsere Körper.«

»Dann können sie doch aber auch von ihren Leiden geheilt und befreit werden,« erwiderte Dorothea. »Ich würde mich nicht scheuen, Lydgate aufzufordern, mir die Wahrheit zu sagen, damit ich ihm helfen könne. Warum sollte ich mich davor scheuen? Jetzt, wo ich das Land nicht kaufen kann, James, könnte ich auf Herrn Bulstrode's Vorschlag eingehen und an seiner Stelle die Fürsorge für das Hospital übernehmen, und da müßte ich Lydgate consultiren, um genau zu erfahren, was ich durch Aufrechterhaltung des jetzigen Verwaltungssystems Gutes würde thun können. Das wäre die beste Gelegenheit in der Welt für mich, ihn zu bitten, mir sein Vertrauen zu schenken, und er würde vielleicht im Stande sein, mir Dinge mitzutheilen, durch welche alle Umstände aufgeklärt würden. Dann würden wir ihm Alle zur Seite stehen und ihn aus seiner traurigen Lage befreien. Die Menschen rühmen alle Arten von Tapferkeit, nur nicht die Tapferkeit, die sie in Betreff ihrer Nächsten beweisen könnten.«

Dorothea's Augen leuchteten von feuchtem Glanz, und der Ton ihrer Stimme war so verändert, daß ihr Onkel davon erwachte und aufzuhorchen anfing.

»Es ist wahr, daß Frauen es wagen können, auf Grund ihrer Sympathien Schritte zu thun, die einem Manne schwerlich gelingen würden,« sagte Farebrother, den Dorothea's Feuereifer fast bekehrt hatte.

»Frauen sollten aber vor Allem vorsichtig sein und auf die hören, welche die Welt besser kennen als sie,« bemerkte Sir James stirnrunzelnd. »Was Sie auch schließlich thun mögen, Dorothea, so sollten Sie sich doch für jetzt von der Sache fern halten und sich nicht unaufgefordert in diese Bulstrode-Affaire mischen. Wir wissen noch nicht, was sich ereignen kann. Sie müssen mir darin beistimmen!« schloß er, Farebrother ansehend.

»Ich glaube auch, das es besser wäre, noch zu warten,« sagte der Letztere.

»Ja ja, liebes Kind,« sagte Herr Brooke, der zwar nicht genau wußte, an welchem Punkte die Diskussion angelangt sei, sich aber mit einer Bemerkung in dieselbe mischte, die allgemein anwendbar war. »Man kann leicht zu weit gehen, weißt Du. Du mußt Dich nicht von Deinen Ideen fortreißen lassen. Und vorschnell Geld zur Ausführung unfertiger Pläne hergeben, ist nichts werth, weißt Du. Garth hat mich mit Reparaturen, Drainage und dergleichen mehr gewaltig hineingewirthschaftet, und ich habe schließlich für dieses und jenes und noch etwas ungeheuer viel Geld ausgegeben. Ich muß der Sache Einhalt thun. Sie, Chettam, geben ein Vermögen für die Eichenholzumzäunung um Ihr Gut aus.«

Dorothea, die sich durch diese entmuthigenden Bemerkungen unbehaglich gestimmt fühlte, ging mit Celia in die Bibliothek, welche ihr gewöhnlich zum Wohnzimmer diente.

»Dodo, Du mußt James folgen,« sagte Celia, »sonst richtest Du Dir etwas Schönes an. Das hast Du immer gethan und das wirst Du immer thun, wenn Du darauf bestehst, nach Deinem eigenen Kopfe zu handeln, und ich glaube, es ist doch schließlich ein wahrer Segen für Dich, daß Du James hast, der Alles für Dich überlegt. Er läßt Dich in Deinen Ideen gewähren und sorgt nur dafür, daß Du nicht schlecht ankommst. Und das ist das Gute daran, einen Schwager anstatt eines Mannes zu haben. Ein Mann würde Dich auch in Deinen Ideen nicht gewähren lassen.«

»Als ob ich einen Mann haben wollte,« sagte Dorothea; »ich will nur nicht bei jeder Gelegenheit in meinen Gefühlen verletzt werden.«

Dorothea war noch immer so wenig geschult, daß sie auch jetzt wieder in zornige Thränen ausbrach.

»Aber man weiß wirklich nicht, Dodo, was man aus Dir machen soll,« sagte Celia mit einem noch tieferen Kehlton als gewöhnlich, »früher gingst Du zu weit auf der einen und jetzt übertreibst Du es auf der anderen Seite. Du pflegtest Dich Casaubon ganz ungebührlich zu fügen. Ich glaube, Du hättest es ganz aufgegeben, zu mir zu kommen, wenn er das von Dir verlangt hätte.«

»Natürlich fügte ich mich ihm, weil es meine Pflicht war, weil mein Gefühl mich dazu drängte,« sagte Dorothea, indem sie Celia durch ihren Thränennebel hindurch ansah.

»Warum kannst Du es denn nicht auch als Deine Pflicht ansehen, Dich ein wenig dem zu fügen, was James sagt?« erwiderte Celia mit dem Bewußtsein, sich eines Arguments von zwingender Gewalt bedient zu haben. »Er will ja doch nur Dein Bestes. Und natürlich verstehen Männer Alles aus dem Grunde bis auf die Sachen, die Frauen besser verstehen!«

Dorothea lachte und vergaß ihre Thränen.

»Nun, ich meine Babies und dergleichen,« erklärte Celia. »Ich würde mich James nicht fügen, wenn ich wüßte, daß er Unrecht hat, wie Du es mit Casaubon zu machen pflegtest.«



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