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Siebenzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 79 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 17):

Now, I saw in my dream, that just as they had ended their talk, they drew nigh to a very miry slough, that was in the midst of the plain; and they, being heedless, did both fall suddenly into the bog. The name of the slough was Despond.

Bunyan: Pilgrim's Progress.


Als Rosamunde sich nach Verabreichung eines schmerzstillenden Mittels beruhigt hatte, ging Lydgate, in der Hoffnung daß sie bald einschlafen werde, in den Salon, um sich ein Buch zu holen, das er dort hatte liegen lassen und mit dessen Lektüre er den Abend in seinem Arbeitszimmer zubringen wollte, und sah hier Dorothea's an ihn addressirten Brief auf einem Tische liegen. Er hatte nicht gewagt Rosamunde zu fragen, ob Frau Casaubon sie besucht habe; aber der Inhalt des Briefes bestätigte ihm seine Vermuthung, denn Dorothea erwähnte darin, daß sie den Brief selbst abzugeben beabsichtige.

Als Will Ladislaw etwas später erschien, war Lydgate so überrascht, daß Will deutlich sah, er habe von seinem früheren Besuche nichts erfahren, und Will konnte doch nicht fragen: »Hat Ihnen Ihre Frau nicht gesagt, daß ich schon diesen Morgen hier war?«

»Die arme Rosamunde ist krank,« sagte Lydgate sofort nach der ersten Begrüßung.

»Doch hoffentlich nicht ernstlich?« fragte Will.

»Nein, nur ein kleiner nervöser Zufall. in Folge einer Aufregung. Sie hat sich wohl während der letzten Zeit zu sehr angestrengt. Ach mein lieber Ladislaw, ich bin ein unglücklicher Mensch. Wir haben, seit Sie uns verlassen haben, verschiedene Fegefeuer zu passiren gehabt, und neuestens bin ich in das Allerschlimmste gerathen. Sie kommen wohl eben erst an, Sie sehen etwas erschöpft aus und sind noch nicht lange genug hier, um schon etwas gehört zu haben?«

»Ich bin die ganze Nacht durchgereist und diesen Morgen um acht Uhr im ›Weißen Hirsch‹ abgestiegen. Ich habe mich eingeschlossen und habe geruht,« sagte Will, der sich seiner Lüge schämte, aber nichts anderes als diese Ausrede vorzubringen wußte.

Und dann ließ er sich von Lydgate seine Widerwärtigkeiten erzählen, die Rosamunde ihm bereits in ihrer Weise geschildert hatte. Sie hatte nicht erwähnt, daß Will's Name im Zusammenhang mit der Geschichte auch in der Leute Munde sei, weil dieser Umstand sie nicht unmittelbar berührte, und Will hörte jetzt zum ersten Mal davon.

»Ich habe es für richtig gehalten, Ihnen zu sagen, daß Ihr Name auch eine Rolle bei den Enthüllungen spielt,« sagte Lydgate, der besser als vielleicht die meisten Männer begriff, wie empfindlich diese Mittheilung Will berühren mußte. »Sie werden sicherlich davon hören, sobald Sie in die Stadt gehen. Daß Raffles mit Ihnen gesprochen hat, ist vermuthlich wahr.«

»Ja,« antwortete Will bitter. »Ich werde noch von Glück zu sagen haben, wenn mich das Geschwätz der Leute nicht zu dem unrespectabelsten Menschen in der ganzen Geschichte macht. Ich denke mir, die neueste Version ist, daß ich mich mit Raffles verschworen habe, Bulstrode zu ermorden, und daß ich zu dem Zweck von Middlemarch weggelaufen bin.«

Er dachte: »Da hat ja mein Name einen neuen Klang bekommen, der für Dorothea's Ohr recht angenehm klingen muß; indessen, was ist daran jetzt noch gelegen?«

Aber er sagte nichts von dem ihm von Bulstrode gemachten Anerbieten. Will war sehr offen und sorglos in Betreff seiner eigenen Angelegenheiten; aber einer der feinsten Züge, mit welchen ihn die Natur ausgestattet hatte, war die zarte Großmuth, die ihn gerade über diesen Punkt schweigen ließ. Er schreckte davor zurück, es auszusprechen, daß er Bulstrode's Geld zurückgewiesen habe, nachdem er eben erfahren hatte, daß es Lydgate's Unglück sei, dieses Geld angenommen zu haben.

Auch Lydgate war in seinen vertraulichen Mittheilungen nicht ganz rückhaltlos. Er enthielt sich jeder Andeutung über die Art, wie Rosamunde über ihre Lage dachte, und von Dorotheen sagte er nur:

»Frau Casaubon ist die einzige Person, die mir mit der Erklärung entgegengekommen ist, daß sie an keine der gegen mich vorgebrachten Verdächtigungen glaube!«

Als er aber bei diesen Worten eine Veränderung in Will's Zügen bemerkte, vermied er jede fernere Erwähnung Dorothea's, da er zu wenig von dem Verhältniß der Beiden wußte, um nicht zu fürchten, daß in seinen Worten eine ihm selbst verborgene peinliche Beziehung auf dieses Verhältniß liege. Und es fiel ihm ein, daß Dorothea wohl die wirkliche Ursache von Will's jetzigem Besuch in Middlemarch sein möge.

Beide Männer bemitleideten einander, aber von beiden war es Will, der eine richtigere Vorstellung von dem Umfange der Bekümmernisse des Anderen hatte. Als Lydgate mit verzweifelter Resignation von seiner Absicht sprach, sich in London niederzulassen, und mit einem matten Lächeln sagte, »dann werden wir Sie wieder bei uns sehen, alter Freund,« wurde Will unaussprechlich traurig und erwiderte nichts.

Rosamunde hatte ihn am Morgen dringend gebeten, Lydgate nachdrücklich zu diesem Schritt zu rathen, und es schien Will jetzt, als sähe er in einem Zauberspiegel eine Zukunft vor sich, in welcher er selbst in jene freudlose Nachgiebigkeit gegen die kleinen Anforderungen der Verhältnisse hineingleite, welche die Menschen viel öfter zu Grunde richtet, als eine einzelne verhängnißvolle Handlung. Wir stehen am Rande einer gefährlich abschüssigen Bahn, wenn wir anfangen, unser eigenes künftiges Selbst gleichgültig anzusehen und es bei diesem Ausblick in die Zukunft träge geschehen lassen, daß unsere eigene Gestalt auf die Wege widerstandslosen Unrechtthun und schäbigen Fortkommens gerathe.

Der arme Lydgate stand schon innerlich stöhnend an diesem Rande, und Will war auf dem Wege dahin. Es schien ihm diesen Abend, als ob die Grausamkeit seines Ausbruchs gegen Rosamunde eine Verpflichtung für ihn geschaffen habe, und er fürchtete diese Verpflichtung; er fürchtete Lydgate's argloses Wohlwollen; er fürchtete seinen eigenen Widerwillen gegen sein zerstörtes Leben, in Folge dessen er in ein antrieblos leichtfertiges Dahinleben verfallen würde.



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