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Achtes Kapitel.
Mühlberg findet Arbeit und verliert sie wieder

Als er sich von seinen bisherigen Reisegenossen getrennt hatte, schlenderte Mühlberg die Main-Street in Winnipeg hinunter. Er war noch unschlüssig, was er tun sollte. Nur die eine Notwendigkeit war ihm klar, daß er sich unverzüglich Arbeit verschaffen mußte, möglichst auswärts, da sie dort besser bezahlt wird als in der Stadt, und möglichst mit freier Verpflegung, so daß er das verdiente Geld zur Weiterreise nach dem Westen benutzen konnte. Die Arbeit in der Stadt brachte, wie auch Hoffmann schon angedeutet hatte, meist nur so viel ein, daß man gerade davon leben konnte.

Von einem Zeitungsjungen kaufte er sich für fünf Cent eine Nummer der »Free Preß«, um zunächst einmal die Stellenangebote darin nachzusehen. Dazu bot sich Gelegenheit in einer Cafeteria, wo er sich für fünfunddreißig Cent ein Frühstück, bestehend aus geröstetem Speck, zwei Eiern, Toast und Butter und Tee, geben ließ und damit an einem Tische des nur wenig besetzten Lokales Platz nahm.

Wie lange er sich den Luxus eines solchen Frühstücks würde leisten können, war ihm freilich zweifelhaft. Das hing von den Verdienstmöglichkeiten ab, die er hier vorfinden würde. So viel Geld, daß er ein paar Tage leben konnte, besaß er noch; was aber darüber hinausging, war in Nebel gehüllt. Darüber machte er sich indessen zunächst keine Sorgen.

Als er sein Frühstück beendet hatte, entfaltete er die Zeitung, überflog die erste Seite mit den wichtigeren Neuigkeiten, die ihn aber wenig interessierten, und suchte dann die Spalten mit den Arbeitsangeboten. Er fand eine stattliche Anzahl verzeichnet. Als er sie aber näher zu prüfen begann, schrumpften sie beträchtlich zusammen. Die meisten stammten von Geschäftshäusern, die Reisende auf Provision und Hausierer suchten, für Strümpfe und Unterwäsche, für Automobile und Seifen, Lebensmittel und Anzüge nach Maß, für Patentmedizinen, Rasensprenger, Milchseparatoren und Staubsauger. Es war unglaublich, was die Leute, die für die betreffenden Firmen bereits tätig waren, für Geld verdienten. Wenn man diesen Inseraten Glauben schenken wollte, hätte es überhaupt keine Arbeitslosigkeit gegeben, und nichts wäre leichter gewesen, als durch »vornehme Reisetätigkeit« viel Geld zu verdienen und wie ein Gentleman zu leben. Glücklicherweise hatte Mühlberg aber schon zu viele von diesen Leuten kennengelernt und nicht einen einzigen darunter gefunden, der diese hohen Einnahmen erzielte.

Dann waren da die Inserate der verschiedenen Unterrichtsanstalten, die junge Leute als Barbiere, Kraftfahrer, Elektrotechniker, Buchhalter und in andern Gewerben ausbildeten. Es war staunenswert, mit welcher Leichtigkeit die Leute Anstellungen und hohe Einkommen erzielten, sobald sie nur einen einzigen Kursus in ihrem Fache durchgemacht hatten. Abgesehen von diesen Übertreibungen mochten diejenigen, die auf diese Weise ein Handwerk oder Gewerbe erlernten, bei den geringen Ansprüchen, die man in Amerika in dieser Beziehung stellt, sich tatsächlich besser stehen als der ungelernte Arbeiter. Das war ja auch der Grund gewesen, weshalb er nach Deutschland gegangen war, nur daß er die angestrebte bessere Ausbildung dort nicht erlangt hatte. Auch diese Inserate kamen für ihn nicht in Frage.

Es gab indessen noch andere. Unter der Bedingung einer Kapitaleinlage waren glänzende Stellungen zu haben. Auch einige andere als Stiefelputzer, Geschirrwäscher und Laufburschen waren noch vorhanden, das war aber so ziemlich alles.

Etwas enttäuscht, obwohl er kaum etwas anderes erwartet hatte, warf er die Zeitung auf den Tisch und verließ das Lokal.

Es war seine Absicht, nunmehr sein Glück bei einigen der Stellenvermittler, die alle in dieser Straße zu finden waren, zu versuchen. Bei denen liefen meist Arbeitsangebote von auswärts ein, mit höheren Lohnsätzen, als sie in der Stadt bezahlt wurden. Wenn das fehlschlagen sollte, blieb ihm noch ein Besuch in der Einwandererhalle, die ebenfalls einen Arbeitsnachweis unterhält.

Eine Weile ließ er das Leben auf der Straße mit regem Interesse an sich vorüberziehen. Das gab ihm eine Idee von der Zahl der Arbeitsuchenden, die von überall her aus dem Lande sich hier vor den Stellenvermittlungsläden zusammenfinden. Sie sind leicht an ihrer Kleidung zu erkennen, den breiten, hohen Hüten, dunklen Hemden, festen Corduroy-Hosen in derben, hochgeschnürten und seit Monaten nicht mehr geputzten Stiefeln. Das waren die Leute, die von der Prärie kamen oder aus dem Busch oder der Mine, oder die dahin wollten. Niemand konnte sie mit den Stadtbewohnern verwechseln. Sie wanderten unter den eilig dahinhastenden andern Passanten die Straße müßig auf und ab oder standen in Gruppen vor den Läden der Stellenvermittler und lasen die Bekanntgabe von Arbeitsgelegenheiten auf den schwarzen Tafeln, die vor den Läden auf der Straße standen.

Da wurden Kampköche gesucht für fünfundsechzig Dollar den Monat, erfahrene Lumberjacks für fünf oder sechs Dollar den Tag, Minenarbeiter für vier Dollar und Arbeiter an der Dampfschaufel für fünf.

Das war nichts für ihn, denn diese Arbeiten mußte man gelernt haben.

Er ging weiter. Als er an dem zweiten oder dritten Vermittlerladen vorüberkam, trat gerade ein Mann heraus, wischte von der schwarzen Tafel ein paar Kreidezeilen aus, die sich auf Beschäftigungen bezogen, für die sich inzwischen Arbeitnehmer gefunden hatten, und schrieb dann eine neue Stellung in die Lücke ein.

»Timekeeper. Rice-Lake-Distrikt. Drei Dollar. Freie Reise,« las Mühlberg.

Timekeeper. Also der Mann, der die Lohnlisten führt. Das war eine Arbeit, die nicht viel Fachkenntnisse erforderte. Ein Mensch mit durchschnittlicher Intelligenz mußte mit ihr fertig werden können.

Er tippte dem Mann auf die Schulter.

»He, Mister, das wäre etwas für mich.«

Der Mann richtete sich auf und warf einen Blick auf ihn.

Die Stadtkleidung Mühlbergs wie dessen ganze Erscheinung schien ihn zu überzeugen, daß er für die Stellung befähigt sei. Trotzdem hielt er es für geraten, ihn noch zu fragen: »Haben Sie schon als Timekeeper gearbeitet?

»Sicher,« entgegnete Mühlberg.

Es lag ihm auf der Zunge, hinzuzufügen, wie es jeder Canadier getan hätte: »Habe in meinem ganzen Leben nichts anderes getan.« Das erschien ihm aber doch etwas zu abgebraucht und wäre ihm auch kaum geglaubt worden. So sagte er nur, daß er Timekeeper in einem Lumberkamp bei The Pas gewesen sei, und nannte eine gar nicht existierende Firma.

Der Mann schien mit der Erklärung zufrieden.

» All right, kommen Sie herein!« sagte er und ging ihm voran in den Laden.

Hier trat er hinter einen kleinen, mit Papieren und Staub bedeckten Ladentisch, hinter dem ein schäbig gekleideter Mann an einer ebenfalls verstaubten Schreibmaschine klapperte, und suchte zwischen den Schriftstücken ein Telegramm hervor.

»Es ist eben erst eingegangen,« bemerkte er. »Consolidated Gold Mines bei Riverton sucht einen Timekeeper. Drei Dollar und Verpflegung. Die Mine liegt ein paar Meilen nördlich von Riverton, das ist die Endstation der Gimli-Linie. Soviel ich weiß, geht auch die Postkutsche von Riverton an der Mine vorbei. Der Nachweis kostet Ihnen zwei Dollar. Haben Sie soviel Geld?«

Mühlberg nickte.

» All right.«

Und er begann einen Zettel auszufüllen.

»Der Zug geht morgen um acht Uhr vierzig. Canadian Pacific. Kommen Sie vorher hierher für Ihre Fahrkarte.«

Mühlberg bezahlte seine zwei Dollar, und damit war die Sache erledigt. Er hatte kaum gehofft, daß er nur ein paar Stunden brauchen würde, um Arbeit und Verdienst zu finden.

Am Nachmittag suchte er die Einwandererhalle auf, traf aber weder Burkharts noch Sauberts an. Etwas später begegnete er auf der Mainstreet Weckerle und Werner.

»Nun, haben Sie Ihren Freund aufgesucht?« fragte er.

»Ja. Er gab uns den Rat, weiter nach dem Westen zu gehen. Dort würden wir leichter Beschäftigung finden; auch sollen dort die Löhne höher sein.«

»Das ist richtig. Und nehmen Sie keine Arbeit in der Stadt an, auch wenn Sie sie bekommen können. Im besten Falle verdienen Sie da doch nur so viel, daß Sie gerade leben können. Gehen Sie irgendwo auf das Land, wo Sie freie Verpflegung haben und sich Ihren Lohn sparen können. Das ist in Canada für einen ungelernten Arbeiter der einzige Weg vorwärtszukommen. Wollen Sie heute schon weiterreisen?«

»Nein, heute noch nicht. Da wir einmal hier sind, wollen wir uns erst die Stadt ansehen.«

»Da gibt's nicht viel zu sehen.«

»Mag sein, und wir werden wahrscheinlich morgen früh fahren. Zunächst bis Saskatoon. Wenn dort die Aussichten nicht besser sind, fahren wir weiter nach Edmonton.«

Mühlberg teilte ihnen seinen eigenen Erfolg, eine einträgliche Beschäftigung gefunden zu haben, mit und nahm ihre Glückwünsche entgegen. Für sie wäre die Stellung nicht in Frage gekommen, da sie nicht Englisch sprachen. Einstweilen konnten sie nur hoffen, bei einem deutschen Farmer Arbeit zu finden, bis sie sich mit ihren Sprachkenntnissen zurechtfinden konnten.

Sie blieben noch einige Zeit beisammen. Später trennten sie sich, und Mühlberg begab sich am Abend nach der Union-Station, um Burkharts und Sauberts noch einmal zu sehen. Er fand sie auch in der großen Wartehalle und teilte Ihnen den Erfolg seiner Bemühungen mit. Alle zeigten sich darüber erfreut, und er fand Gelegenheit, Mathilde Burkhart zuzuflüstern: »Das verdanke ich Ihnen.«

Sie warf ihm einen Blick zu, als ob sie die Bemerkung nicht verstünde, aber er war nicht recht überzeugend.

Sie blieben noch beisammen, bis der Abgang des Zuges nach Edmonton ausgerufen wurde. Dann trennten sie sich, wobei Mühlberg Burkhart an sein Versprechen erinnerte, zu schreiben, wo sie sich niedergelassen hätten.

Nachdenklich und sich plötzlich recht einsam fühlend, verließ er das Stationsgebäude und schritt wieder die jetzt in der Nacht fast leere Mainstreet hinunter, um sich in einem der billigen Hotels gegenüber der Canadian-Pacific-Station ein Unterkommen für die Nacht zu sichern.

*

Am andern Morgen bestieg er pünktlich den Zug nach Riverton, nachdem er sich in der Office des Stellenvermittlers seinen Fahrtausweis hatte aushändigen lassen. Er hatte nur einen Handkoffer mit den nötigsten Kleidungsstücken bei sich. Seinen größeren Koffer hatte er in einem der Kleiderläden der Higgins-Avenue, die die Aufbewahrung von Reisegepäck für kürzere oder längere Zeit als einen Nebenzweig des Geschäftes betreiben, zurückgelassen.

Der Tag war wieder schön und heiß. Er hatte in einem Wagen der Holzklasse Platz genommen, da er noch immer als Einwanderer galt und daher Anspruch auf die für diese geltenden billigeren Fahrpreise hatte. Wahrscheinlich bestand auch zwischen dem Agenten und der Bahn ein gewisses Abkommen, nach dem dieser das Recht hatte, Arbeiter nach ihren Arbeitsplätzen zu den niedrigeren Fahrpreisen zu befördern. Alle anderen Reisenden müssen die dreimal so teure Polsterklasse bezahlen, auch wenn sie die Holzklasse benutzen.

Bald hatte der Zug Selkirk erreicht und rollte nunmehr an den Gestaden des schönen Winnipegsees nach Norden, vorbei an den freundlichen Landhäusern der Sommerfrischen, die sich in fast ununterbrochener Reihe bis Gimli hinzogen. Mühlberg sah durch die Fenster hinaus auf die spiegelnde Fläche des Sees, auf dem unter einer schwachen Brise Segelboote dahinglitten, und auf Scharen von Badenden, die während ihrer Sommerferien aus Winnipeg geflüchtet waren und sich hier im Wasser tummelten. Die Ferien sind nur kurz in Canada, und da es eine Ausnahme ist, wenn jemand während dieser Zeit sein halbes Gehalt bezieht, so wird der Aufenthalt in der Sommerfrische meist noch mehr gekürzt.

In Gimli hielt der Zug längere Zeit. Fast alle Fahrgäste verließen ihn hier. Nur einige wenige blieben für die darüber hinausliegenden Stationen zurück. Es war gegen Mittag, als der Zug Riverton, die vorläufige Endstation, erreichte. Mühlberg war der einzige Reisende, der den Zug bis hierher benutzt hatte.

Er entdeckte auf dem Bahnsteig nur einen jungen Mann in Hemdsärmeln, der zweifellos der Stationsvorsteher war. Außer diesem kam noch ein Junge herangeschlendert, der den Postsack in Empfang nahm und nach dem Store trug, in dem die Abfertigung der Postsachen erfolgte.

Die Station bestand aus einem Holzgebäude mit einem oberen Stockwerk, das dem Vorsteher als Wohnraum dienen mochte. Der Umstand aber, daß überhaupt ein solches und ein Vorsteher hier vorhanden waren und nicht nur ein alter Eisenbahnwagen als Stationsschuppen diente, deutete darauf hin, daß hier ein Verkehr stattfinden mußte, der sicher nicht nur durch die kleine Ortschaft mit ihren zehn oder zwölf Häusern bestritten wurde. Mühlberg vermutete nicht mit Unrecht, daß die Consolidated Gold Mines und die hinter ihr liegenden Ansiedlungen diesen Verkehr schufen. Diese Vermutung wurde bestätigt durch eine größere Anzahl von Kisten und Ballen, die hier ausgeladen wurden, und von denen die Mehrzahl die Adresse der Mine trug.

Er wandte sich an den Vorsteher, der sich mit dem Zugführer unterhielt.

»Ist Ihnen die Consolidated Gold Mines bekannt?«

» Sure,« entgegnete der Agent. »Sie liegt zehn Meilen nördlich von hier.«

»Zehn Meilen?« wiederholte Mühlberg, unangenehm überrascht.

»Ja,« bestätigte der Vorsteher.

»Und der Stellenvermittler in Winnipeg sprach von ein paar Meilen.«

Der Vorsteher grinste. »Bei diesen Leuten sind es immer nur ein paar Meilen. Zwanzig oder dreißig Meilen machen da keinen Unterschied. Sie sind auch nicht der erste, der hierher kommt und glaubt, die Consolidated liege gleich hinter Riverton. Wollen Sie dahin?«

»Ja, ich habe da Arbeit angenommen.«

Der Vorsteher antwortete nicht sofort. Er nahm sich erst Zeit, einen Strahl von Tabakssaft über den Bahnsteig zu spritzen, dann sagte er: »Well, Sie können mit der Postkutsche fahren. Die ist aber für heute schon fort, und die nächste geht nicht vor übermorgen. Die Mine sendet auch zwei- oder dreimal in der Woche ein Geschirr hierher, um die Fracht abzuholen. Das war aber erst gestern da und ist vor übermorgen auch nicht zu erwarten.«

Mühlberg stand unschlüssig. »Was ist da zu machen?«

Der Vorsteher zuckte die Achseln. Er wurde auch von seinen Geschäften mit dem Zugführer wieder in Anspruch genommen und konnte Mühlberg nicht länger Rede stehen.

Wenn man keine Wahl hat, ist die Entscheidung nicht schwer, obschon manchmal unangenehm. In dieser Lage befand sich Mühlberg, denn er sah keinen anderen Ausweg, als die Strecke bis zur Mine zu Fuß zurückzulegen. Auf ein Mittagessen würde er wohl verzichten müssen, denn eine Gastwirtschaft war im Orte nicht vorhanden. Zehn Meilen war schließlich nicht ein allzuweiter Weg. Mit diesem Entschluß einmal ins reine gekommen, übergab er seinen Koffer, der ihm auf der langen Wanderung lästig geworden wäre, dem Stationsvorsteher mit der Erklärung, daß er ihn mit dem Geschirr der Mine abholen lassen würde. Dann schritt er nach dem Store hinüber, kaufte sich etwas Käse, ein paar Bananen und einige Sodabiskuits und ließ sich den Weg nach der Mine beschreiben.

Kurze Zeit danach schritt er in der Richtung, die der Storehalter ihm bezeichnet hatte, vorwärts, sein Mittagbrot im Wandern verzehrend. Bald hörte aber die gutgebaute Straße auf und setzte sich in einem tief ausgefahrenen Waldwege fort, in dem oft noch Pfützen standen.

Nach etwa zwei Meilen überholte er das Ochsengespann eines Farmers, der nach seiner einige Meilen vom Wege abgelegenen Heimstätte fuhr. Dann war er ganz allein, konnte aber sein Ziel nicht verfehlen, da er nur den Wagenspuren nachzugehen brauchte, die ihn manchmal um große Sümpfe herumführten.

Es war schon spät am Nachmittage, als der Wald aufhörte und sein Blick über ein freies hügliges Gelände schweifte. In der Ferne erblickte er eine Gruppe von Gebäuden, einzelne mit hohen Schornsteinen. Das mußte die Mine sein.

Er beschleunigte seine Schritte und erreichte bald die Gebäude, um die ein reges Leben herrschte. Es fiel ihm nicht schwer, zwischen den Bunkhäusern, Geräteschuppen, Maschinengebäuden und Ställen die Office herauszufinden, und nach einer kurzen Zögerung trat er ein.

Hinter dem Ladentisch, vor einem großen geöffneten Geldschranke stand ein Mann in der üblichen Hinterwaldskleidung, ohne Weste und Jacke und mit einem großen Filzhut, den er aus der Stirn geschoben. Das mußte der Manager sein. Außer ihm befanden sich noch drei Männer in verschiedenen Altersstufen in der Office, die an rohen Holztischen mit Schreiben beschäftigt waren.

Der Mann vor dem Geldschranke blickte auf, als Mühlberg eintrat. Er mochte etwa vierzig Jahre zählen, war bartlos, was seine harten Gesichtszüge noch schärfer hervortreten ließ, und ein paar graue Augen blickten kalt und arrogant unter buschigen Augenbrauen hervor. Mühlberg hatte das Gefühl, als ob mit diesem Manne schwer auszukommen sein würde.

»Well, Mister, was kann ich für Sie tun?« fragte der Mann.

»Ich komme von Mister Robinson in Winnipeg,« entgegnete Mühlberg. »Er hat mich als Timekeeper für die Consolidated angeworben.«

Ein Ausdruck ärgerlicher Verwunderung legte sich auf das Gesicht des Managers.

»Was ist das?« fragte er. »Wir haben doch schon einen Mann für die Arbeit angenommen. Hier, Joe, wie ist das? Ich sagte Ihnen doch gestern, Sie sollten Robinson ein Telegramm senden, daß die Stellung besetzt ist. Haben Sie das nicht getan?«

Einer der Männer an den Tischen wandte sich auf seinem Stuhle halb um und sagte: »Doch. Ich habe das Telegramm durch den Fernsprecher in Riverton aufgegeben.«

Mühlberg hatte einen vollen Blick auf sein Gesicht. Er sah, daß es um einen Schatten blässer geworden war und sich etwas wie Schuldbewußtsein darauf abzeichnete. Da wußte er, daß der Mann vergessen hatte, den Auftrag auszuführen.

»Mister Robinson hat kein solches Telegramm erhalten, er hätte mich sonst gewiß nicht hierher geschickt. Ich war erst heute morgen in seiner Office und habe mir die Fahrkarte geholt.«

Der Manager zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Ist aber nicht unsere Schuld. Sie müssen sich da schon an Mister Robinson halten. Die Stellung ist besetzt. Da ist nichts zu machen.«

Mühlberg stand eine Weile schweigend da. Nachdem er drei Stunden lang auf der Eisenbahn gefahren und zehn Meilen weit auf schlechten Wegen durch den Wald gewandert war, mußte er erfahren, daß die Stellung besetzt sei. Alle die frohen Hoffnungen, die ihn begleitet hatten, sanken in nichts zusammen. Irgend jemand hatte einen Fehler gemacht. Was konnte er aber dagegen tun in einem Lande, wo jeder im Augenblick ohne Kündigung entlassen werden kann?

»Das ist sehr unangenehm,« sagte er schließlich. »Ich habe jetzt die ganze Reise umsonst gemacht. Sie werden mir aber wohl ein Nachtquartier nicht verweigern. Ich bin die zehn Meilen von Riverton gelaufen und möchte das heute nicht noch einmal tun. Ein Nachtquartier und das Rückfahrgeld nach Winnipeg.«

Der Manager heftete seine grauen Augen mit einem unangenehmen Blick auf ihn.

»Nachtquartier?« wiederholte er. »Well, im Bunkhause ist Platz, wenn Sie da übernachten wollen. Aber Fahrgeld? Für wen halten Sie mich? Denken Sie, wir sind hier eine Wohltätigkeitsanstalt? Wenden Sie sich an Mister Robinson, vielleicht gibt der es Ihnen.«

»Sie weigern sich also, mir das Fahrgeld zu geben?«

»Habe ich etwa nicht deutlich genug gesprochen? Soll ich es wiederholen? Dazu habe ich keine Zeit. Good-by!«

Damit wandte er ihm den Rücken und kehrte auf seinen Platz vor dem Geldschranke zurück.

Mühlberg wartete noch eine Minute oder zwei. Als er aber sah, daß sich der Mann nicht mehr um ihn kümmerte und seine Gegenwart völlig vergessen zu haben schien, drehte er sich um und verließ die Office. Eine Weile stand er unschlüssig draußen. Er brauchte einige Zeit, um sich in die neue Lage der Dinge hineinzufinden.

Aus einem der Bunkhäuser drang das Klappern von Tischgeschirr an sein Ohr. Das erinnerte ihn daran, daß er hungrig war. Er raffte sich zusammen und ging darauf zu.

Als er die Tür aufstieß, genügten zwei Sekunden, ihn davon zu überzeugen, daß er verspätet hier eintraf. Hoffentlich war es aber noch nicht zu spät.

An zwei langen Tischen saßen etwa fünfzig Männer und taten ihr Bestes, ein Dutzend gehäufte Schüsseln und Teller leer zu machen, die eine Anzahl umherschlurfender Chinesen vor sie hinsetzten.

Mühlberg ließ seine Blicke über die beiden Tische gleiten, um eine Lücke zwischen den Essenden zu erspähen. Er fand keine. Entschlossen packte er einen der Chinesen am Arme und sagte: »He, Charley, ich esse hier heute. Boß sagt so. Wo sitze ich?«

Die Schlitzaugen des Mannes, die an Rosinen erinnerten, richteten sich prüfend auf Mühlberg. Es lag ein unverschämter Blick in ihnen, so wie man ihn nur in Chinesenaugen finden kann.

»Nich vastehe.«

Jetzt kam aber auch in Mühlbergs Augen ein harter Blick. Er wußte, daß der Kerl ihn ganz genau verstand, und war nicht in der Stimmung, sich mit einem Chinesen herumzuärgern.

»Du verdammter Chink, du verstehst mich recht gut, willst mich bloß nicht verstehen. Aber mit solchen Tricks kommst du bei mir nicht durch. Wenn du mir nicht sofort sagst, wo ich mich hinsetzen soll, schlage ich dir deine Nase noch weiter ins Gesicht, so daß du überhaupt keine mehr hast. Also besinne dich!«

Der Prozeß, die aufgetragenen Speisen aus den Schüsseln auf die Teller zu schaufeln, kam am nächsten Tische zu Ende, und auch an dem anderen wurde man aufmerksam und hielt Messer und Gabel mit der Spitze in die Luft. Der Wortstreit zwischen dem neuen Ankömmling und dem Chinesen, dem inzwischen noch zwei andere Söhne des Himmels zu Hilfe gekommen waren, die ihre Stimmen mit der seinigen vereinten, eröffnete Möglichkeiten. Es war aber bald klar, daß die Chinesen darin Sieger bleiben würden. Dem dreifachen Stimmenaufwand war Mühlberg nicht gewachsen. Wenn er auch das wenigste von dem verstand, was sie sagten, so viel konnte er sich zusammenreimen, daß hier nur derjenige zu essen bekam, der zur rechten Zeit kam.

Mühlberg begann einzusehen, daß der Sieg in diesem Streite den Chinesen gehören würde, als die Tür der Baracke noch einmal aufgestoßen wurde und zwei weitere Arbeiter hereinstampften. Sie schritten zu einem der Tische und zwängten sich dort ohne Umstände zwischen die andern hinein.

Wieder begann der Streit über das Zuspätkommen beim Essen. Da es sich aber diesmal um Kameraden handelte, so bedrohte wenigstens ein halbes Dutzend von ihnen mit Zustimmung der anderen die Chinesen mit den verschiedensten Unglücksfällen, wenn sie den Zuspätgekommenen nicht sofort ihr Essen vorsetzen würden. Mit dem Fremden war das eine andere Sache, der ging sie nichts an und mochte für sich selbst sorgen.

Trotzdem erklärten die Chinesen noch immer, daß auch die beiden andern nichts zu essen bekommen sollten, während diese ebenso sicher waren, daß sie es sollten. Da sich die Chinesen einer geschlossenen Mehrheit gegenüber sahen, gaben sie endlich nach, erklärten aber, es wäre das letztemal. Wenn es noch einmal vorkäme, gäbe es nichts mehr, und wenn fünfhundert statt fünfzig darauf beständen.

Das gab der Sache eine neue Wendung, und Mühlberg trat einen Schritt auf die Chinesen zu und sagte, indem er ihnen die Faust unter die Nase hielt: »He, soll das heißen, daß diese zu essen bekommen und ich nicht?«

Von den beiden Tischen kam Lachen. Diese Chinesen waren doch köstlich in ihren Witzen. Bohnen und Fleisch und Sauerkraut wanderte noch schneller von den Tellern in den Mund, denn nichts regt den Appetit so an wie ein guter Witz.

Bewegungslos und mit zusammengekniffenen Lippen stand Mühlberg auf seinem Platze und beobachtete die Arbeiter. Sie beachteten seine Anwesenheit nicht, oder machten Bemerkungen darüber, denen gegenüber er entweder tun mußte, als ob er sie nicht gehört hätte, oder auf die es nur eine Antwort mit der Faust gab. Mit verbissenem Ingrimm wandte er sich ab und verließ das Haus.

Er wanderte zwischen den Minenanlagen herum, bis er sicher war, daß die Arbeiter ihre Mahlzeit beendet und sich nach ihren Bunkhäusern begeben hatten. Für eine Überzahl, die zuzeiten vorhanden sein mochte, waren übrigens auch in der Speisebaracke Schlafkojen aufgerichtet.

Als er zurückkehrte, traf er nur noch die Chinesen an. Er setzte sich auf eine der Schlafkojen, die nur mit Matratzen versehen waren und denen die Decken fehlten, stemmte seine Ellbogen auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Aus der Küche, durch die halben Schwingtüren hindurch, klang das Geräusch des Geschirrwaschens. Das bestimmte ihn, sich zu erheben, nach der Küche zu gehen und die Tür aufzustoßen. Im Augenblick verstummte sowohl ihr Chinesenjargon wie auch das Klappern des Geschirrs. Alle starrten auf den Eindringling, starrten – und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.

» Heh, you chaps, ich muß etwas zu essen haben!« rief er.

Das Geschirrwaschen nahm seinen Fortgang.

»Habt ihr's gehört?«

Das Waschen hörte auf, plötzlich, wie die Claque in einem französischen Theater. Das vereinigte China wandte ihm seine Blicke wieder zu, um von neuem auf ihn zu starren. Von ihm aber wanderten ihre Blicke auf eine Anzahl Brotmesser, die an einer Leiste an der Wand hingen.

Mühlberg zog sich zurück.

Die Baracke war jetzt nur noch von einer einzigen Wandarmlampe erleuchtet. Ihr Schein fiel auf eine Weckeruhr, die auf einem an der gegenüberliegenden Wand befestigten Brette stand. Er warf einen Blick auf das Zifferblatt. Noch elf Stunden bis zum Frühstück.

In der Küche wurde es allmählich still. Ob China bereits seine Kojen aufgesucht hatte oder sein Geld im Fan-Tan-Spiel riskierte, wußte er nicht.

Als der Zeiger der Uhr den Verlauf einer weiteren Stunde anzeigte, hörte er draußen das Knirschen von Wagenrädern. Zuerst schenkte er ihm keine Aufmerksamkeit. Dann aber kam ihm der Gedanke, daß irgendeine Veränderung der Sachlage vielleicht Günstiges für ihn bedeuten könne. Deshalb erhob er sich, um nachzusehen.

Es war der Postwagen, der aus den Bergen des Hinterlandes kam und hier für die Nacht Rast machte. Den wollte er am nächsten Morgen benutzen, und er mußte ausfindig machen, wann er abfuhr.

Der Kutscher war abgestiegen, und er wandte sich an ihn mit einer Frage, die er aber noch zweimal wiederholen mußte, bevor der Mann sich bemüßigt fühlte, sie zu beantworten.

»Sechs Uhr,« war dann seine kurze Antwort, während er die Pferde abzuschirren begann.

Als er sie in den Stall führte, bemerkte Mühlberg auf dem Kutscherbock eine schöne wollene Decke. Unbekümmert um das, was sich daraus entwickeln mochte, nahm er sie herab und ging mit ihr nach der Eßbaracke zurück. Wenn er schon auf das Abendessen verzichten mußte, wollte er wenigstens gut schlafen.

Er warf die Decke in die Koje, die er sich ausgewählt, und ging dann noch einmal nach der Küche, um zu sehen, ob er dort in der Abwesenheit der Chinesen etwas zu essen entdecken könnte. Als er die Schwingtüre leise öffnete, sah er aber zu seiner unangenehmen Überraschung einen der Köche vor einem großen Troge stehen und Brotteig anrühren.

»Welche Zeit Frühstück?« fragte er, schnell gefaßt.

Der Schlitzäugige drehte den Kopf nach ihm und seine Fischaugen glotzten ihn mißtrauisch an.

»Sechs Uhl, wie immel Die meisten Chinesen können das R nicht aussprechen.

Mühlberg zog sich zurück.

Das Verschwinden der Decke von dem Postwagen war offenbar gar nicht bemerkt worden.

Er breitete die Decke über die Matratze, zog seine Jacke und seine Schuhe aus und legte sich nieder. Nichts zu essen, bis er morgen vormittag Gimli erreichte, wo er vielleicht zu einem hastigen Frühstück Zeit fand! Es war bitter.

Müde von der nicht mehr so recht gewohnten weiten Wanderung, fand er bald den Schlaf. Wirre Träume ließen ihn aber nach einiger Zeit wieder erwachen. Als er die Augen aufschlug, sah er den Chinesen, der den Brotteig angerührt hatte, an der gegenüberliegenden Wand stehen, die vernickelte Weckeruhr in der Hand, an der er herumdrehte. Vorsichtig wie ein kostbares Wertstück stellte er sie dann zurück auf ihren Platz neben der Wandarmlampe, warf noch einen letzten prüfenden Blick auf ihr Zifferblatt und verließ den Raum.

Ihr Ticken, das er bisher nicht beachtet hatte, klang jetzt laut wie das einer Turmuhr an Mühlbergs Ohr. Er zog sich die Zipfel der Decke über den Kopf, um es nicht mehr zu hören, aber es war vergeblich. Je mehr er sich bemühte, es auszuschalten, um so deutlicher wurde es. Als er zuletzt bei der Erkenntnis angelangt war, daß irgend etwas passieren würde, wenn es nicht bald aufhörte, schlief er ein.

Als er wieder erwachte, standen die Zeiger auf zwölf.

»Und ich träumte, es wäre Morgen und ich hätte mein Frühstück,« stöhnte er.

Gleich darauf fiel er wieder in Schlaf.

Es war halb fünf, als er von neuem erwachte.

Wieder das laute Ticken, das in vielfacher Verstärkung durch den leeren Raum widerhallte. Er stand auf, taumelte schlafbefangen nach der Uhr und nahm sie herab, um sie aus dem Fenster zu werfen. In diesem Augenblick wurde sein Denken aber plötzlich klar, und er hätte die Uhr beinah aus der Hand fallen lassen, so überraschte ihn der Gedanke, der ihm eben gekommen war.

Essen – Frühstück – Kaffee – Eier – Brot – Bohnen – und mehr Kaffee – mehr Eier – und Bohnen – und gebratene Kartoffeln – –

Einen Augenblick später standen die Zeiger auf fünf Uhr.

Mit einem Schwung seines Armes stellte er die Uhr auf ihren Platz zurück, begab sich geräuschlos nach seiner Koje und rollte sich wieder in seine Decke, die ihm helfen mußte, sein lautes, gurgelndes Lachen zu ersticken.

Die verschobenen Zeiger wanderten auf dem Zifferblatt weiter. Ein Viertel sechs, halb sechs – drei Viertel – Zeit, das Frühstück herzurichten.

In der Küche wurden Geräusche laut.

Die Gestalt in der Schlafkoje straffte sich und ein lautes Schnarchen ging von ihr aus. Die Schwingtür der Küche wurde aufgestoßen. Der jüngste Chinese mit dem ausdruckslosen Vollmondgesicht trat in den Eßraum. In seinen Händen befand sich eine große Platte mit Gabeln, Messern und Löffeln. Er wandte sich dem nächsten Tische zu. Unwillkürlich, so wie es wahrscheinlich schon an unzähligen Morgen vorher geschehen war, streiften seine Blicke dabei die Uhr. Der Kopf, einmal gedreht, blieb in dieser Stellung. Durch den Körper flog ein schreckhaftes Zucken, der gelegentliche Blick wurde zu einem Starren. Einen Augenblick schienen seine Füße am Boden festgeleimt zu sein, dann trugen sie aber den Körper hinüber nach der Wand, näher an die Uhr.

Es war kein Zweifel. Gleich sechs Uhr!

Ein Schreckensruf und ein Rennen nach der Küchentür. Mit einer Platte, auf der Messer, Gabeln und Löffel aufgehäuft sind, soll man sich Schwingtüren, wie Türen überhaupt, nur vorsichtig nähern. Das wurde hier leider übersehen, und bei dem Zusammenstoß kippte die Platte über und verstreute den Haufen dieser nützlichen Instrumente über den Fußboden. Durch sie hindurch und über sie hinweg hastete der Mann weiter, indem er mit schriller Stimme einen Alarmruf ausstieß. Eine Anzahl Stimmen, Widerspruch, Zweifel und Unglauben ausdrückend, schwirrten durcheinander, wurden aber durch die Schreie des Vollmondgesichts zum Schweigen gebracht, um gleich darauf von einem allgemeinen Stimmenbabel und durcheinanderhastenden weichen Fußtritten abgelöst zu werden.

Das von der Schlafkoje kommende Schnarchen wurde lauter, als die Schwingtür sich öffnete und das vereinigte China in das Eßzimmer stürmte, um sich von dem Unglaublichen selbst zu überzeugen.

Es war schon richtig, leider nur zu richtig, man hatte die Zeit unbegreiflicherweise um eine halbe Stunde verschlafen. Die Erkenntnis erzeugte einen Lärm, der Mühlberg für die Sicherheit der Dachbalken fürchten ließ. Zehn Chinesen beschuldigten sich gegenseitig mit einem unerschöpflichen Aufwand von Worten, die es zweifelhaft machten, daß die Chinesen mit fünftausend Schriftzeichen auskommen.

Dann übertönte plötzlich die Stimme des Brotteigkneters die der andern. Eine kleine Hand an einem mageren Arm erhob sich und zeigte nach der Uhr in warnender Andeutung der Tatsache, daß die Zeit nicht stillsteht und daß kostbare Minuten verrannen.

Das hatte eine magische Wirkung. Noch einmal warfen sich die Chinesen gegen die Schwingtüren, wateten durch den Haufen von Messern, Gabeln und Löffeln, und gleich darauf verriet das Krachen eiserner Ofentüren, daß hier Öfen mit einer Eile in Brand gesetzt wurden, wie wohl noch nie zuvor. Ohrenbetäubende andere Geräusche verrieten, daß das gesamte Küchenpersonal sich in nicht minder überstürzter Tätigkeit befand.

Erst nachdem der Lärm eine Weile gewährt hatte, hielt es Mühlberg für angezeigt, sich von seinem Lager aufzurichten.

»Was macht ihr für einen Krawall?« fragte er. »Könnt ihr einen Mann, der müde ist, nicht schlafen lassen?«

Sein Blick fiel auf die Uhr, und er fügte überrascht hinzu: »Schon so weit? Heiliger Moses, und ich dachte, es wäre erst Mitternacht.«

Schnell zog er seine Schuhe an, rollte die Decke zusammen und trug sie hinaus, um sie ungesehen dorthin zurückzubringen, wo er sie hergenommen.

Die Zeiger der Uhr standen auf fünf Minuten vor sechs – dann auf zwei Minuten – schließlich auf sechs. Die Chinesen beeilten sich noch mehr, setzten Teller, Schüsseln und Tassen auf den Tisch, die glücklicherweise dick genug waren, um einer etwas eilfertigen Handhabung standzuhalten. Durch die Schwingtüren kam eine Wolke von heißem Fettdunst, angebranntem Speck und Eiern, schrille Kommandoworte und ein aufgeregtes Durcheinander von Chinesenstimmen.

Dann stürzte einer der Köche in den Eßraum, rückte einen Stuhl gegen die Tür, um den Eingang gegen einen Ansturm von draußen zu verteidigen, während der Lärm in der Küche zum Tumult anwuchs.

Jetzt erschienen die ersten Träger dampfender Schüsseln, und der Türwächter gab den Eingang frei. Zu seinem offenbaren Erstaunen trat aber nicht eine Horde hungriger Minenarbeiter ein, sondern nur der fremde Gast. Er war eben im Begriff, nachzusehen, wo die andern blieben, als er wieder in die Küche gerufen wurde, um zu helfen, Kaffeekannen und Schüsseln mit Kartoffeln, Speck und Eiern auf die Tische zu setzen.

Ohne zu fragen, setzte sich Mühlberg an den nächsten Tisch, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und legte sich zwei Eier und einige Scheiben gebratenen Speck auf den Teller.

»Fein, Boys,« sagte er anerkennend. »Schön von euch, daß ihr so zeitig aufsteht, um einem armen Arbeitslosen ein Frühstück zu schaffen. Aber ich kann doch nicht alles allein essen. Mit einem Dutzend Eiern getraue ich mir fertig zu werden, aber mit mehr nicht. Und mehr als vier Tassen Kaffee kann ich auch nicht trinken.«

Immerhin schien er der Sachlage noch nicht zu trauen, weshalb er sich mit dem Essen so beeilte, daß er ein Ei in zwei Bissen bewältigte und die Kartoffeln mit dem Löffel aß.

Der Ausdruck in den Gesichtern der Chinesen drückte immer mehr ratloses Erstaunen aus, als sie auf die noch immer leeren Tische starrten.

»Warum hebt ihr das warme Frühstück nicht für die Arbeiter auf?« höhnte er weiter, mit einer halbvollen Kaffeetasse in der Hand. »Die essen doch lieber warm. – Hallo, Jonny?«

Das letzte galt dem Hauptkoch, der eben hereinkam, um die merkwürdige Lage der Dinge mit eigenen Augen zu prüfen. Seine Blicke glitten über die leeren Tische. Dann streiften sie eins der Fenster. Sofort starrten alle seine Untergebenen nach der gleichen Richtung, hinaus in die Morgendämmerung.

Alles war ruhig draußen.

Einige der Chinesen schienen das Abtragen und Warmstellen der Speisen zu befürworten, aber sofort fiel ihr Herr und Meister mit einem Wortschwall über sie her. Er setzte sich entfernt von Mühlberg auf eine Bank, um das Kommen der Arbeiter abzuwarten. Sie sollten büßen für ihre Unpünktlichkeit.

»Wirklich freundlich von euch, für mich zu sorgen, wenn die Post so zeitig fährt. Hätte ich gar nicht erwartet.«

Ein halbes Dutzend Paar Augen richtete sich mit wilden Blicken auf ihn. Dann erhob sich wieder ein Lärm mit Worten untermischt, die, nach ihrer Ausdruckskraft zu urteilen, chinesische Flüche waren. Plötzlich legte sich dieser aber, denn draußen klang das Rollen von Wagenrädern.

Mühlberg sprang auf, ergriff seinen Hut und wandte sich nach der Tür. Zur gleichen Zeit wurde draußen das Geräusch vieler Schritte von Männern in schweren Schuhen laut, und die Tür flog auf. Fünfzig Arbeiter drängten sich herein.

Mit einem schrillen Protest fuhr der Hauptkoch auf die verblüfften Leute los. Er erzielte aber weiter nichts, als daß die Arbeiter verständnislos auf ihn starrten. Seine Hilfskräfte unterstützten ihn mit Ungestüm, und ein Redeschwall ergoß sich über die Unglücklichen wie ein Platzregen. Ein halbes Dutzend der Chinesen deutete nach der Uhr. Es hatte die Wirkung, daß die Arbeiter verneinend die Köpfe schüttelten.

Nichtsdestoweniger hielten die Köche aber ihre Beschuldigung grober Unpünktlichkeit aufrecht, und das Gezänk setzte sich fort. Im Reden waren die zehn Chinesen den fünfzig Weißen ganz unverkennbar überlegen.

Wie sie auf die Uhr gedeutet hatten, so deuteten ihre Gäste jetzt auf die Tische. Während sich einige von ihnen unbekümmert um alles andere auf ihre Plätze begaben, um das Essen nicht noch weiter kalt werden zu lassen, überließen sie dem Rest die fernere Auseinandersetzung.

Es war das Vollmondgesicht, das die Dinge zu einer Krise brachte. Er empfahl dem jüngsten der Arbeiter, zu essen, was vor ihm stand, oder auf das Frühstück zu verzichten. Warum kamen sie eine halbe Stunde zu spät! Der eine Rat schien dem Manne so wenig annehmbar wie der andere, und er schob seinen Teller beiseite. Das Vollmondgesicht schob ihn wieder auf seinen Platz. Es geschah aber etwas heftig, so daß ein Ei und ein halbes dem Miner in den Schoß flog. Fast im gleichen Augenblick flog aber auch dessen Faust empor und stieß ziemlich unsanft gegen das Kinn des Chinesen, was die Wirkung hatte, daß sich dessen Hand mit fünf Fingern auf dem Gesichte des Mannes abzeichnete. Das war das Zeichen zu einem allgemeinen Aufeinanderplatzen der Gegensätze. Bei zehn gegen fünfzig konnte der Ausgang nicht zweifelhaft sein. Auf beiden Seiten war man mit Leib und Seele bei der Sache, und besonders den Arbeitern schien eine Gelegenheit, sich einmal gegen die Tyrannei der Chinesen aufzulehnen, hochwillkommen zu sein.

Draußen war der Postfahrer inzwischen wohl zu der Überzeugung gelangt, daß er sich lange genug hier aufgehalten habe. Wenn man die königliche Post fährt, hat man pünktlich zu sein. Er setzte sich auf dem Vordersitz seines Demokrats zurecht, warf einen Blick auf den einzigen Fahrgast, der es sich auf dem Hintersitze bequem gemacht hatte, und indem er die Peitsche lustig durch die Luft knallen ließ, lenkte er sein Gespann zwischen den Minengebäuden hindurch auf die Straße nach Riverton.

Mit einem feinen Lächeln lauschte der Fahrgast auf den Tumult in der Eßbaracke, bis das dahinrollende Gefährt ihn dem Bereiche der Mine entzog und der Sommermorgen und das hüglige Gelände des schönen canadischen Hinterlandes ihm die Erlebnisse der vergangenen Nacht nur noch wie einen tollen Spuk erscheinen ließen.


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