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Drittes Kapitel.
Ankunft in Canada

Die Tage vergingen. Ziemlich eintönig, da das Wetter ganz gegen die Regel in dieser Zeit kalt blieb. Erst als man Kap Race passiert hatte und die »Köln« von Süden her – die Belle-Isle-Straße im Norden war noch vereist – in den Golf von Saint Lawrence eingelaufen war, wurde es etwas wärmer.

In der Nähe der Neufundlandküste hatte man eine Menge Eisberge angetroffen, und der Kapitän war die ganze Nacht auf der Brücke geblieben, bis man die Gefahrenzone hinter sich hatte. Auch zwei oder drei Walfische hatte man gesichtet, die in gar nicht zu weiter Ferne ihre Wasserdampfstrahlen in die Luft sprühten. Man rechnete nunmehr damit, Quebeck in zwei Tagen zu erreichen.

Mühlbergs Bekanntschaft mit der Familie Burkhart und auch mit Sauberts war weiter gediehen. Man fand sich immer wieder zusammen, und die Fragen, die Mühlberg beantworten mußte, nahmen kein Ende. Es war indessen für den aufmerksamen Beobachter ersichtlich, daß sein Interesse für die Familie Burkhart hauptsächlich der ältesten Tochter galt. Und solche aufmerksamen Beobachter waren vorhanden. Vor allem gehörte Frau Burkhart zu ihnen. Sie war aber wohl daran gewöhnt, daß ihre Töchter Aufmerksamkeiten von Männern empfingen, und ließ es gehen. Es freute sie sogar – solange die Gefahr einer ernsten Gestaltung der Dinge nicht bestand. Denn für einen solchen Fall war sie entschlossen, ihre Rechte als Mutter geltend zu machen. Sie war ehrgeizig, und es mußte schon jemand sein, der als Schwiegersohn ihren Ehrgeiz befriedigte, wenn sie ihm nicht die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen sehr deutlich machen sollte, was schon mehr als einmal geschehen war. In Deutschland mit seiner Gliederung der Stände war das verhältnismäßig leicht. Ein Handwerker oder ein Bauer kam nicht in Frage, ihre Töchter mußten einmal besser heiraten. Wie das in Canada werden würde, wo es nur einen Stand gibt und höchstens der Besitz von Dollars einige Unterschiede bestimmt, darüber hatte sie einstweilen noch nicht nachgedacht, auf jeden Fall konnte aber auch hier als Schwiegersohn für sie nur ein Mann in Betracht kommen, der etwas hatte und etwas war.

Mühlberg blieb für so etwas ganz außer Berechnung, selbst wenn er töricht genug sein sollte, Absichten in dieser Beziehung zu hegen. Er war ja ganz angenehm im Umgange und auch persönlich gut zu leiden, aber eben nur eine Schiffsbekanntschaft, die nichts bedeutete und ihr Ende nehmen würde, sobald sie Canada erreichten. Also ganz harmlos und nicht wert, daß sie ihre Hand schon zeigte.

Ja, Frau Burkhart war eine praktische Natur und das Leben für sie eine sehr einfache Sache.

Die Passagiere füllten das Deck jetzt schon mehr. Auch Mühlberg war eben aus dem Salon wieder herausgetreten und nach dem Achterschiff gewandert. Hier ließ er seine Blicke über die Menge schweifen, um zu sehen, ob jemand von der Familie Burkhart sichtbar sei. Er bemerkte nur Valeska, die auf der mit geteertem Segeltuch überzogenen großen Luke saß, mit einem Buche im Schoß, in das sie mit Bleistift Bemerkungen eintrug. Wahrscheinlich war es ein Tagebuch, wie es mehrere der jüngeren Passagiere führten.

Er trat an sie heran.

Sie blickte auf und lachte.

»Beschäftigt, Liebesbriefe zu schreiben?« neckte er.

»Das habe ich für einige Zeit unterbrochen,« gab sie Auskunft.

»Warum denn?«

»Er hat eine andere geheiratet.«

»Das war nicht schön. Aber solche Dinge kommen vor.«

Sie schlug ein Blatt des Buches um, um ihn nicht sehen zu lassen, was sie geschrieben hatte.

»Was schreiben Sie also?«

»Ich zeichne,« log sie.

»Und was haben Sie gezeichnet?«

Sie dachte ein paar Sekunden nach, dann sagte sie: »Den Durchzug der Hebräer durch das Rote Meer.«

»Wo ist das Rote Meer? Ich sehe nichts davon,« entgegnete Mühlberg mit einem Blicke auf das leere Blatt.

»Natürlich nicht, es ist doch zurückgetreten,« belehrte sie ihn.

»Ach so. Aber wo sind die Hebräer?«

»Die sind schon durch und nicht mehr zu sehen.«

»Und ihre Verfolger?«

»Die kommen erst in zehn Minuten.«

In diesem Augenblick erschien Mathilde Burkhart, von unten kommend, mit der jüngeren Schwester Martha, die sechzehn Jahre zählen mochte. Sie hatte die Seekrankheit längst überwunden, sah munter und frisch aus, und wenn ihre Gestalt auch noch etwas eckig war, bot sie doch, mit dem regelmäßigen Gesicht, zu dessen Seiten zwei dicke, braune Zöpfe mit roten Schleifen am Ende über die Brust fielen, eine recht angenehme Erscheinung. Eine Anzahl Sommersprossen auf der Stirn und der Nase störten nur wenig.

»Well, jetzt haben wir's bald überstanden, Fräulein Burkhart. Dienstag sind wir in Quebeck,« rief Mühlberg ihr entgegen.

»Und dann sind die schönen Tage von Aranjuez vorüber,« warf Valeska Burkhart ein. »Übrigens, meinen Sie nicht, Herr Mühlberg, daß Schiller besser getan hätte, seinen Don Carlos nicht mit einer so abgebrauchten Redensart zu beginnen?«

Mühlberg lachte.

»Hören Sie nicht auf sie,« mahnte Mathilde. »Sie ist unverbesserlich und hat immer allen möglichen Unsinn im Kopfe. Wann wirst du bloß einmal ernst werden, Valeska?«

»Hoffentlich überhaupt nicht,« bemerkte Mühlberg. »Man wird mit dem Leben immer eher fertig, wenn man ihm lachend begegnet.«

Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, wurde aber unterbrochen, denn Saubert trat mit seiner Frau, einer rotblonden, schmalgesichtigen Gestalt, mit dünner Haut und dünnem Haar, die alles andere als der Typus einer Pionierfrau war, jetzt an die kleine Gruppe heran.

»Wir haben uns entschlossen, nach Edson zu gehen, Herr Mühlberg,« nahm Saubert das Wort. »Sie sprachen zu Herrn Burkhart von einem Deutschen in Edson, bei dem man sich befragen könne. Wollen Sie uns die Adresse auch geben? Es wäre uns von Wichtigkeit, da wir nur wenig englisch sprechen.«

»Die Adresse können Sie haben. Der Mann heißt Kurt Bellack und ist ein Freund von mir. Er ist bei der Eisenbahn angestellt und hat kein Land zu verkaufen. Sie sind also sicher, von ihm eine zuverlässige, ungefärbte Auskunft zu erhalten.«

»Hat sich mein Vater die Adresse auch notiert?« fragte Mathilde. »Er scheint sich ebenfalls entschlossen zu haben, nach Edson zu gehen, denn die Jagdmöglichkeiten locken ihn mächtig, und auf der Prärie gibt's doch nichts zu schießen wie wilde Enten und Präriehühner. Es steckt ihm wohl auch im Kopfe, daß der Mann Finsterbusch Silberfüchse gefangen und eine Zucht angelegt hat. Er denkt, das könnte ihm auch gelingen.«

»Das ist auch keineswegs ausgeschlossen,« entgegnete Mühlberg. »Sie sind selten, sonst würden sie nicht so teuer sein, aber sie kommen vor in der Gegend. Mein Freund Bellack, der eine Zeitlang Feuerwart war und im Lande herumreiten mußte, um nach möglichen Waldfeuern zu sehen und Feuersgefahren zu beseitigen, hat einmal vier Stück ausgegraben. Er holte dabei einen Farmer zu Hilfe, dem er fünfundzwanzig Dollar bezahlte. Er brachte sie auch gut nach Hause. Wir haben aber schon in der Schule gelernt, daß Füchse schlau sind. Die waren es ganz sicher, denn als er das nächstemal von seinem Ritte durch die Wälder zurückkehrte, hatten sie den ›Weg ins Freie‹ gefunden. Ein solcher Fang gehört natürlich zu den Dingen, mit denen niemand rechnen kann. Eine Adresse des Herrn Bellack brauchen Sie übrigens nicht, jeder wird Ihnen den Weg zeigen.«

 

Am Dienstagmorgen, noch bevor die meisten der Passagiere erwacht waren, hatte die »Köln« an dem Kaischuppen in Quebeck festgelegt und um zehn Uhr, nach einem etwas hastig eingenommenen Frühstück, wurden die Reisenden der dritten Klasse ausgeschifft. Die Prüfung ihrer Einwanderungspapiere und die Untersuchung ihres Gepäcks, beides Dinge, die sich in der Regel glatt und schnell abwickeln, würde am Lande vorgenommen und sie dann mittels Extrazugs nach Montreal weiterbefördert werden.

Der Abschied der Familie Burkhart und des Ehepaars Saubert von ihren neugewonnenen Freunden war nur ein einstweiliger, man würde sich in Montreal beim Abgange des Zuges nach Winnipeg wieder zusammenfinden.

Eine halbe Stunde später warf die »Köln« ihre Trossen los und schob sich unter Führung des Flußlotsen in den majestätischen Saint-Lawrence-Strom hinein, vorbei an dem auf den Uferhöhen liegenden imposanten Hotel Chateau Frontenec, der Zitadelle mit ihren Bastionen und unter der mächtigen Quebeckbrücke, die die Verbindung mit dem Süden vermittelt und den größten Schiffen freien Durchgang gewährt, hindurch.

Das Wetter war ganz sommerlich geworden, und die noch an Bord gebliebenen Reisenden der zweiten Klasse saßen daher ohne die bisher kaum entbehrlich gewesene warme Überkleidung auf dem oberen Deck, von wo sie nach den Ufern schauten und die abwechslungsreichen, aber in ihrer endlosen Aufeinanderfolge fast ermüdenden Landschaftsbilder mit ihren Dörfern, Städten und unzähligen Kirchen an ihren Blicken vorüberziehen ließen.

In Quebeck waren übrigens einige neue Fahrgäste hinzugekommen, Vertreter oder sonstige Beamte des Lloyd aus verschiedenen Städten Canadas und auch eine Dame des Raphaelvereins in Hamburg, die ein Jahr vorher nach Canada gekommen war, um die Verhältnisse des Landes, über die sie so oft Auskünfte zu erteilen hatten, aus eigener Anschauung kennenzulernen. Sie galt den Reisenden als eine neue und höchst wichtige Quelle der Auskunfterteilung, bevor sie selbst in das canadische Leben eintauchten und selbst alles sehen und erleben würden. Man wollte das neue Land doch möglichst vorbereitet betreten, und jeder weitere Einblick half das Bild gestalten.

Auch Einwanderungsbeamte waren an Bord gekommen und prüften im Rauchsalon die Papiere der Reisenden, stellten ein paar Fragen, und damit war die Förmlichkeit, denn mehr war es nicht, erfüllt.

Um elf Uhr in der Nacht legte das Schiff in Montreal an dem Schuppen des Norddeutschen Lloyd fest. Die Bräute und mehrere andere Reisende wurden erwartet und gingen unter Zurücklassung ihres Gepäcks noch in der Nacht von Bord, während die übrigen bis nach der Zollrevision am nächsten Morgen, die aber auch nur eine Förmlichkeit war, auf dem Schiffe blieben.

Der nächste Tag setzte mit einer ungewöhnlichen Hitze ein, als wolle der Mai in seinen letzten Tagen alles nachholen, was er in den übrigen versäumt hatte. Gegen neun Uhr verließen die Reisenden endlich das Schiff und betraten, mit Ausnahme Mühlbergs und der in Quebeck an Bord Gekommenen, zum ersten Male den Boden Canadas.

Presser hatte von der Vertreterin des Raphaelvereins die Adresse einer deutschen Familie erhalten, bei der er Wohnung finden konnte, und machte sich sofort dorthin auf den Weg. So viel Englisch, um sich zurechtzufragen, hatte er aus seinem Polyglott Kuntze gelernt. Im Notfalle blieb ihm auch noch die Office des Norddeutschen Lloyd, wo er alle gewünschten Auskünfte erhalten würde. So verabschiedete er sich von den anderen, ungeduldig, den Kampf mit dem Leben in dem neuen Lande aufzunehmen.

Mühlberg, Schwerla und die beiden jungen Leute aus Pforzheim blieben beisammen und ließen zunächst ihr Gepäck nach dem Bahnhof der Canadian National überführen. Nachdem das geschehen war, traten sie eine Wanderung nach der Stadt an. Der Zug nach Winnipeg würde erst am Abend gehen.

In den Straßen herrschte ein Autoverkehr, der sie fast verwirrte. Immer wieder kamen die Reihen der Gefährte für einige Minuten zum Halten, um den Verkehr der kreuzenden Straßen durchzulassen. Neben imposanten, modernen Geschäftsgebäuden zeigten sich immer wieder Gruppen armseliger, baufälliger Baracken, in denen kleine Geschäftsleute die Jagd nach dem Dollar betrieben. In den Seitenstraßen stießen sie vielfach auch auf Reihen unfreundlich aussehender Wohngebäude mit hohen Außentreppen, die zum Eingange hinaufführten und den Besucher ungefähr dort landeten, wo man sonst das erste Stockwerk zu finden gewohnt ist.

»Ist das die Art und Weise, wie man hier wohnt?« fragte Schwerla erstaunt.

»Nein,« entgegnete Mühlberg. »Es ist die alte Stadt. Um Montreal beurteilen zu können, müssen Sie die besseren Wohnviertel gesehen haben. Ich habe, als ich nach Deutschland ging, eine Rundfahrt in einem Aussichtswagen mitgemacht und da einen ganz anderen Begriff von der Stadt bekommen.«

»Hier gibt es deutsches Bier,« unterbrach ihn Weckerle plötzlich.

Er zeigte auf eine Taverne, über deren Eingang ein großes Schild mit der Aufschrift »Würzburger Hofbräu« prangte.

»Ich denke, Canada hat Prohibition,« bemerkte Werner.

»Es hatte Prohibition,« erklärte Mühlberg. »Die ist aber wieder aufgehoben. Sie können jetzt in beschränkter Auswahl alkoholische Getränke in Regierungsläden kaufen; allerdings zu hohen Preisen. Einigen Tavernen hat man auch die Erlaubnis zum Verkauf von alkoholarmem Bier erteilt. Sehen Sie, da drüben gibt es Münchner Löwenbräu. Die Namen stammen noch aus der guten alten Zeit, wo man deutsches Bier in Canada trinken konnte. Es wird jetzt im Lande gebraut. Ich schlage vor, wir trinken ein Glas canadisches Münchner Löwenbräu oder meinetwegen auch Würzburger Hofbräu, es ist ja alles dasselbe. Die Hitze macht Durst.«

Sie gingen in die nächste Taverne, nahmen auf den lehnenlosen Drehstühlen vor der Bar Platz und bestellten Würzburger Hofbräu aus Montreal. Es war besser, als sie erwartet hatten, ohne deswegen dem deutschen Original nahezukommen.

Gegen Mittag betraten sie eine Cafeteria, um die Mittagsmahlzeit einzunehmen. Nahe dem Eingange waren in einem hohen Stapel große Tabletts aufgestellt, neben denen, in Mundtücher gewickelt, Bestecke lagen. Jeder nahm ein Tablett und ein Besteck und wanderte damit an einer langen Tafel entlang, auf der alle möglichen warmen und kalten Speisen zur Auswahl aufgestellt waren. Von diesen suchte er sich aus, was ihm zusagte, fügte dann noch von einem andern Tische Tee oder Kaffee und Brot und Butter hinzu und zeigte es, wenn er alles beisammen hatte, einem Mädchen an einer Kasse vor, die den Betrag zusammenrechnete und ihm einen Scheck in entsprechender Höhe überreichte. Dann suchten sie sich in dem gefüllten Raume einen freien Tisch, stellten dort ihre Schüsseln und Platten zurecht und das Tablett auf einen Nachbartisch, der eben von Gästen freigeworden war, wo es mit allem leeren Geschirr von den umherwandernden Aufwärterinnen abgeräumt wurde.

Man hatte Zeit und nahm sich daher auch zum Essen Zeit, während die andern Gäste alle anscheinend in großer Eile waren. Die Selbstbedienung hatte den Vorteil, daß man auf das Auftragen der Speisen nicht zu warten brauchte und das Trinkgeld sparte.

Nach Beendigung der Mahlzeit verließen sie das Lokal durch einen besonderen Ausgang, der an einer zweiten Kasse vorbeiführte, an der sie den Betrag ihrer Schecks bezahlten.

Als sie die Straße wieder betraten, trafen sie eine Gruppe Fahrgäste von der »Köln«, die in Quebeck gelandet waren. Ihre Ankunft in Montreal war spät in der Nacht erfolgt, denn die Abfertigung von dreihundert Einwanderern hatte den ganzen Tag in Anspruch genommen, so daß sie die Weiterfahrt erst am Abend antreten konnten. Eine Anzahl war bereits mit dem Frühzug nach Winnipeg weitergereist, der größte Teil wollte sich aber erst einen Tag in Montreal gönnen. Wo Burkharts und Sauberts geblieben waren, konnten sie nicht sagen.

Am Abend trafen sie mit diesen indessen auf dem Bahnhof zusammen. Mühlberg bestieg denselben Wagen mit ihnen. Es war ein Wagen der Kolonistenklasse mit Durchgang in der Mitte und Sitzen, die in der Nacht zusammengeschoben und als Lagerstätten benutzt werden konnten. Andere solche befanden sich oben in der Decke des Wagens, deren schräge Wände niedergeklappt werden konnten und auf diese Weise ebenfalls als Schlafstätten dienten. An dem einen Ende des Wagens lag eine kleine Küche mit einem Herde und einem Vorrat von Holz und Kohlen für diejenigen, die sich während der einwöchigen Reise nach der pazifischen Küste Mahlzeiten bereiten wollten. Übrigens hielt der Zug zu den Essenszeiten an gewissen Stationen etwas länger, um jedem, der sich die Ausgabe für eine Mahlzeit im Speisewagen nicht leisten konnte oder wollte, Gelegenheit zu einer solchen am Büfett der Bahnhofswirtschaft zu geben. Außerdem hatten sich fast alle Reisenden mit Brot, Butter, Obst und sonstigen Lebensmitteln genügend versehen, so daß die Küche fast nur von den Familien mit kleinen Kindern benutzt wurde.

Die Reise nach Winnipeg bot nichts Bemerkenswertes. Für viele Hunderte von Meilen war das Land wenig besiedelt und schien auch mehr ein Paradies für den Jäger als den Landwirt zu sein, denn der Boden war steinig, erzeugte fast nur Gestrüpp und niedriges Buschwerk, und ein großer See oder Sumpf folgte dem andern.

Mühlberg hatte die Genugtuung, zu bemerken, daß Mathilde Burkhart an seiner Gesellschaft Gefallen zu finden schien. Sie machten sich immer wieder gegenseitig auf diese oder jene Sehenswürdigkeit aufmerksam, und die Unterhaltung, welche unter den übrigen Reisenden, die sich alle müde fühlten, ziemlich karg war, kam zwischen ihnen nur selten ins Stocken. Viel trug hierzu auch die Wißbegierde ihres Bruders Rudolf bei, den die Jagdmöglichkeiten, die die an den Fenstern vorüberfliegende Landschaft zu bieten schien, immer wieder zu Fragen veranlaßten. An jedem Sumpf und jedem See hielt er Ausschau nach einem Moose oder Bären, von denen Mühlberg ihm erzählt hatte, daß sie sich vielfach in den Schlamm grüben, oder so tief im Wasser steckten, daß gerade nur noch die Nase herausgucke, um sich vor den Moskitos und Fliegen zu schützen, die in den canadischen Wäldern eine fürchterliche Plage sind. Immer wieder behauptete er, wenn er ein Holzstück oder die Wurzel eines versunkenen Baumes aus dem Wasser ragen sah, es sei ein Moose oder Bär, obwohl Mühlberg ihn darauf aufmerksam machte, daß jagdbare Tiere sich kaum so nahe an der Eisenbahn zeigen würden.

Seine besondere Vertraute schien seine Schwester Martha zu sein. Mit ihr unterhielt er sich am meisten, gab ihr aus dem reichen Schatze seines Wissens Belehrungen über Jagd und Fallenstellen und andere Dinge, die, wenn sie auch selten stimmten, von ihr doch in vollem Vertrauen auf das Sachverständnis des jüngeren Bruders gläubig hingenommen wurden.

Am Morgen des zweiten Tages, als man sich schon Winnipeg näherte, kam auf einer Zwischenstation mit anderen Reisenden ein Mann in den Wagen, dessen Kleidung den Farmer oder Arbeiter verriet. Er wählte sich einen Sitz nahebei und begann die übrigen Fahrgäste mit Interesse zu mustern. Als er die Unterhaltung der Deutschen hörte, wurde er aufmerksam und lauschte ihr eine Weile. Dann erhob er sich, schritt auf ihre Bänke zu und stützte sich auf die Rückenlehne.

»Sie sind auch Deutsche,« sagte er, und als das bejaht wurde, fragte er weiter: »Wohl neue Einwanderer?«

»Sie haben es erraten.«

»Wollen Sie auf eine Farm?«

»Wir wollen auf eine Farm,« entgegnete Burkhart, indem er gleichzeitig auf Sauberts deutete, um diese in die Angabe einzuschließen. »Die andern wollen sich Arbeit suchen.«

»Ich will sehen, daß ich eine Heimstätte bekomme,« sagte Saubert.

»Well, Sie können die meinige haben,« versetzte der Neuangekommene. »Ich gebe sie auf. Sie liegt vierzehn Meilen von Beauséjour, fünfzehn Acker gebrochen, davon zehn unter Kultur. Geben Sie mir so viel, daß ich mit meiner Frau nach Deutschland zurück kann – Kinder haben wir, Gott sei Dank, nicht –, dann können Sie sie haben und glücklich darauf werden.«

»Das klingt ja so, als ob Sie schlechte Erfahrungen gemacht hätten,« bemerkte Saubert.

»Habe ich auch. Das ist ja ein elendes Leben als Heimstätter. Erst hat man uns hergelockt und nun, wo das bißchen Geld, das man mitgebracht hat, alle ist, sitzt man da.«

Er machte eine wegwerfende Bewegung mit beiden Händen.

»Hören Sie mal, Landsmann,« mischte sich Mühlberg ins Gespräch, »Sie sagten eben, man habe Sie hergelockt. Das interessiert mich. Ich habe das nämlich schon oft gehört von Leuten, denen es schlecht ging. Es ist ja so angenehm, die Verantwortung auf einen andern abzuwälzen; man fühlt sich dann frei von aller Schuld. Wer hat Sie denn hergelockt?«

»Well,« entgegnete der Heimstätter etwas zögernd, »ich hatte einen Freund hier. Der hatte eine Heimstätte. Ich will ja nicht gerade sagen, daß er uns hergelockt hat – –«

»Das dachte ich mir.«

»– – aber er schrieb immer – –«

»Hat er Ihnen etwas Falsches geschrieben?«

»Eigentlich nicht. Aber ich hatte mir die Sache doch anders vorgestellt.«

»Hat er Ihnen geschrieben, Sie möchten nach Canada kommen?«

»Nein, das nicht. Er wußte gar nicht, daß wir kamen. Wir wollten ihn überraschen.«

»Und doch sagen Sie, er habe Sie hergelockt! Wie geht es ihm denn?«

»Er lebt, wie man so auf einer Heimstätte lebt. Man kann nicht sagen, daß es ihm schlecht geht. Er ist jetzt fünf Jahre auf seinem Lande, hat fünfzig Acker mit Weizen eingesät, und wenn alles gut geht, kann er dieses Jahr zwanzig Bushel vom Acker erzielen.«

»Das würde also rund tausend Bushel zu, sagen wir, tausend Dollar ergeben. Rechnen wir davon fünfhundert Dollar für Gestehungskosten, ich meine für Saatgetreide, Dreschen und anderes ab, so bleiben ihm fünfhundert Dollar. Das ist gewiß nicht viel, aber was wollen Sie mehr verlangen von einer Heimstätte in den ersten Jahren und mit einer einzelnen Arbeitskraft?«

»Er hat aber auch Schulden, die er davon bezahlen soll.«

»Vermutlich. Denen steht aber der Wert seiner Farm mit den Verbesserungen gegenüber, und der wird wahrscheinlich um ein erkleckliches höher sein als seine Schulden, wenn er ein vernünftiger Mann ist und nicht etwa die Torheit begangen hat, Dinge zu kaufen, die er einstweilen hätte entbehren können, nur weil sie ihm auf Kredit oder sehr billig angeboten wurden.«

»Ich glaube, Sie fassen die Dinge falsch auf, Landsmann – wie ist Ihr Name? … Hoffmann? Gut,« nahm Burkhart wieder das Wort. »Sie sagen, Sie haben zehn Acker unter Kultur. Es ist selbstverständlich, daß Sie davon nicht leben können. Dazu brauchen Sie wenigstens hundert. Wenn Sie die erst haben, werden Sie neues Land dazukaufen, und dann geht das Geldverdienen los. Sie treten dann in die Reihe derjenigen ein, die ein Vermögen machen. Ein paar schlechte Ernten können den Prozeß zwar aufhalten, aber nicht in Frage stellen, oder etwa gar dauernd zum Stillstand bringen. Zwei oder drei gute Ernten bringen Ihnen aber so viel, daß Sie das neugekaufte Land voll bezahlen können. Es ist eben mit einer Farm wie mit jedem andern Geschäft, nur der Großbetrieb lohnt sich, und den rechne ich von hundert Ackern, die eingesät sind, an. Die können Sie sich auf einer Heimstätte mit der Zeit schaffen. Bis dahin haben Sie es aber schwer und können es, wenn Sie nur mit geringen Mitteln angefangen haben, gar nicht durchführen, ohne daß Sie zeitweise auf Arbeit gehen.«

»Das will ich eben tun,« entgegnete Hoffmann. »Ich fahre nach Winnipeg, um zu sehen, ob ich Arbeit bekomme. Ich bin Schuhmacher und könnte wohl auch in meinem Handwerk Beschäftigung finden. Aber die Schuhfabriken haben den freien Schuhmachern nur noch die Flickarbeit übriggelassen. Wer kann da einem Gehilfen viel bezahlen? Ich muß sehen, daß ich etwas anderes finde. Es ist schlecht bestellt mit Arbeit, bei der Sie so viel verdienen, daß Sie außer dem, was Sie bei der größten Sparsamkeit für sich brauchen, auch noch etwas für eine Heimstätte zurücklegen können. Die Frau kann ja auf der Heimstätte leben. Sie hat Mehl und wir haben eine Kuh und ein paar Hühner. Im Westen soll's besser sein. Da können Sie gut sechs und sieben Dollar den Tag verdienen. Das habe ich natürlich nicht gewußt, sonst wäre ich gleich weiter nach dem Westen gegangen. Jetzt ist es zu spät dazu, denn ich müßte von vorn anfangen, und dazu gehört Geld.«

»Wir gehen nach dem Westen,« sagte Saubert, »bis hinter Edmonton. Dort sollen ja auch die Ernten besser sein, Sie sagten, daß Ihr Freund auf eine Ernte von zwanzig Bushel vom Acker rechnet. Uns ist gesagt worden, daß im Westen Ernten von vierzig Bushel keine Seltenheit sind. Das macht einen Unterschied.«

»Stellenweise und für gute Jahre mag das zutreffen, aber nicht im allgemeinen. Ich habe jedenfalls das Leben auf einer Heimstätte satt.«

»Was wollen Sie,« entgegnete Burkhart. »Wenn Sie drüben im alten Lande ein kleines Geschäft mit unzureichenden Mitteln anfangen, ist das auch nur ein ewiges Würgen um das tägliche Brot. Und wo sind Sie dann in zehn Jahren? Im besten Falle dort, wo Sie anfingen, wenn Sie sich nicht, was viel wahrscheinlicher ist, tief in Schulden gerannt haben. Der Kleinbetrieb lohnt sich eben nirgends. Da stehen Sie sich auf einer Heimstätte viel besser, denn Sie sind sicher, daß Sie mit jedem Acker, den Sie für die nächstjährige Ernte mehr einbrechen, ihre Lage verbessern, und wenn Sie erst einmal bei den hundert angelangt sind, brauchen Sie sich um Ihre Zukunft nicht mehr zu sorgen.«

»Darüber kann man alt und grau werden.«

»Gewiß, das kann vorkommen. Sie können aber von der canadischen Regierung nicht verlangen, daß Sie Ihnen neben der Heimstätte auch noch das nötige Geld zum Betrieb gibt. Und es ist ein Unterschied, ob man alt und grau wird mit der einzigen Aussicht, einmal als armer Teufel zu sterben, wie alle die kleinen Geschäftsleute drüben und vielleicht hier auch, oder ob man das Elend erträgt mit der sicheren Aussicht, einer guten Zukunft entgegenzugehn, der man jedes Jahr näherrückt.«

»Sie reden, als ob Sie Canada ganz genau kennten.«

»Ich bin ein neuer Einwanderer und kenne das Land gar nicht. Es gibt aber Grundsätze und allgemeine Regeln, die überall gelten.«

»Das ist genau das, was ich mir sagte, als ich den Entschluß faßte, nach Canada auszuwandern und eine Heimstätte aufzunehmen,« bemerkte Saubert.

Der Zug lief jetzt in Winnipeg ein, und die Reisenden machten sich fertig, ihn zu verlassen.

Weckerle und Werner hatten die Adresse eines Deutschen aus ihrer Heimat, der in Winnipeg lebte. Den wollten sie aufsuchen, um seinen Rat zu hören. Davon würden dann ihre weiteren Entschlüsse abhängen.

Mühlberg hatte sein vorläufiges Ziel erreicht, und in Schwerlas Plane lag es, Winnipeg wenigstens zu besichtigen, obwohl seine Taten erst in Britisch-Kolumbien ihren richtigen Anfang nehmen sollten.

Burkhart hatte die Absicht ausgesprochen, hier die Fahrt zu unterbrechen, um weitere Erkundigungen einzuziehen. Sauberts wollten das gleiche tun.

»Ich hatte das erwartet,« sagte Mühlberg lächelnd. »Alle tun es. Und Sie haben ja auch die Informationsstellen der Canadian National Railway und des Norddeutschen Lloyd hier. Außerdem gibt es auch eine deutsche Zeitung in der King Street. Sie werden so viel hören, daß Sie zuletzt überhaupt nicht mehr wissen, was Sie tun sollen. Es wird mich aber interessieren, wo Sie sich niederlassen. Wollen Sie mir nicht einmal schreiben? General Delivery – das heißt hauptpostlagernd – Winnipeg. Vielleicht treffe ich Sie noch einmal im Laufe des Nachmittags, oder ich komme abends zum Abgänge des Zuges auf den Bahnhof. Sie bleiben doch im Immigrantenhause?«

 

Als er eine kurze Zeit später, nachdem er sein Gepäck auf dem Bahnhofe zur Aufbewahrung übergeben, die Main Street hinabwanderte, um sich bei einem der Stellenvermittler nach einer passenden Arbeitsgelegenheit umzusehen, und zufällig in die Tasche seiner Jacke faßte, fühlte er dort einen Zettel. Er konnte sich nicht erinnern, daß er einen solchen eingesteckt habe, und nahm ihn heraus.

Es war ein Stück weißes Papier und mit Bleistift stand darauf geschrieben: »Viel Glück!«

Das war alles. Eine Unterschrift fehlte. Aber auch ohne eine solche wußte er, von wem er kam.

Mit einem glücklichen Lächeln barg er ihn sorgfältig in seinem Notizbuch und setzte mit Schritten, die auf einmal viel zuversichtlicher schienen, seinen Weg fort.


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