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42. Kapitel – Zeugen

Trotz der harten Lagerstatt schlief ich wie ein Bär, da ich vor Erschöpfung halbtot war. Um halb sechs wurde ich durch das Läuten der Gefängnisglocke geweckt. Ich stand auf und zog die grauenhafte Anstaltskleidung an, die man mir am Abend vorher gegeben hatte. Eine Art Reaktion begann sich jetzt bei mir bemerkbar zu machen, und ich war tief niedergeschlagen. Was würde ich bloß anfangen, wenn irgend etwas mit meinen Bürgen nicht stimmte und ich nicht herauskönnte? Meine Phantasie begann fieberhaft zu arbeiten, und ich bildete mir ein, daß das Ganze eine Falle sei. Wer weiß, ob ich nicht in diesem Gefängnis, wo ich eine bloße Nummer war, auf unbestimmte Zeit festgehalten werden würde?

Die Tür wurde aufgeschlossen und blieb offen. Ich hörte das Klirren von Eimern. Zwei Gefangene kamen mit einer Art Faß auf Rädern, und man sagte mir, ich solle meine Waschgefäße säubern. Ein Wärter steckte den Kopf hinein und sagte etwas, was ich nicht verstand, dann wurde die Tür zugeschlagen und von außen zugeschlossen. Ich blieb ganz apathisch auf einem kleinen Holzhocker sitzen, der die einzige Sitzgelegenheit war. Ungenießbares und übelriechendes Essen wurde hereingestellt. Ich sah es mit Ekel an und schob es so weit wie möglich fort von mir. In der Zelle war es fast dunkel. Das winzige Fenster, ein kleines Viereck ganz hoch oben in der Wand, konnte ich nur erreichen, wenn ich mich auf den Hocker stellte. Ich war ganz matt vor Hunger, da ich seit dem Frühstück am Tage vorher nichts gegessen hatte. Ich war zu erregt gewesen, um das gute Mittagessen im Old-Bailey-Gerichtshof, kaltes Huhn und Brot, zu mir zu nehmen, und da ich erwartet hatte, am Nachmittag frei zu sein, hatte ich mich um weitere Mahlzeiten nicht gekümmert. Das Brot und den Kakao vom Abend vorher hatte ich nicht angerührt.

Die Tür wurde wieder geöffnet und mein Frühstück von einem Gefangenen entfernt, der gierig das Stück Brot in seinen Kittel steckte. Ich saß eine Weile wie betäubt da und horchte auf die Schritte im Gang. Dann steckte ein grimmig aussehender Wärter den Kopf hinein und schrie mich zornig an: »Was machen Sie hier? Warum haben Sie Ihr Bett nicht gemacht? Los! Sie müßten schon im Schuppen sein!« Ich sah ihn mit weitaufgerissenen Augen verständnislos an und brach dann in Tränen aus. Das Gesicht in den Händen, schluchzte ich fassungslos. Der Wärter kam sehr freundlich auf mich zu und legte den Arm um meine Schulter. »Na, na, so böse war es nicht gemeint, Jungchen. Ich weiß, es ist sehr schlimm am ersten Tag. Sie brauchen nicht in den Schuppen zu gehen, wenn Sie lieber hierbleiben wollen.«

Seine Freundlichkeit ließ meine Tränen natürlich noch reichlicher fließen, und er ging taktvoll fort. Nach ungefähr zehn Minuten kam er zurück und fragte mich, wie es mir ginge. Ich sagte, ich fühlte mich jetzt besser und könnte, wenn er wollte, in den Schuppen gehen. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was der »Schuppen« bedeutete. Er zeigte mir, wie ich meine Bettdecken zusammenlegen und meine Bretter, die mein Bett darstellten, gegen die Wand lehnen mußte. Dann holte er ein nasses Handtuch, wischte mir das Gesicht damit ab, trocknete es und machte die ganze Zeit Späße. Möge Gott ihn belohnen!

Nun führte er mich zwei eiserne Treppen hinunter und aus der schrecklichen Halle in die frische Luft hinaus zum »Schuppen«, einem großen Gebäude, wo ungefähr hundert Gefangene damit beschäftigt waren, Werg zu zupfen und Säcke zu nähen. Man gab mir auch Werg zum Zupfen. Entweder vorher oder nachher – ich weiß nicht mehr, wann es war – hatte ich eine Stunde »Bewegung« und mußte mit hundertfünfzig anderen Gefangenen in einem Hof herumgehen.

Gegen Mittag wurde mir wieder übelriechendes Essen, von dessen Anblick allein mir schlecht wurde, in meine Zelle gestellt. Zehn Jahre später bin ich an dieser Kost fast zugrunde gegangen. In sieben Wochen nahm ich fast dreißig Pfund an Gewicht ab. Diesmal aber sah ich es nur an und hoffte, jemand würde es bald fortholen. Der Herausgeber der Zeitschrift »The Tablet« behauptet, daß das Essen im Gefängnis ausgezeichnet sei. Da er nie im Gefängnis war, kann er es natürlich besser beurteilen als ich. Vielleicht schmecken ihm große Stücke stinkenden Fleisches, die in fettigem Abwaschwasser umherschwimmen. Chacun a son goût! Ich persönlich kann nicht behaupten, daß mir eine solche Kost behagt, und als ich sie zehn Jahre später vorgesetzt bekam, hungerte ich lieber, als daß ich sie aß, und lebte sieben Wochen von Brotkrumen und wässerigem Kakao.

Nach dem »Essen« gingen wir in den »Schuppen« zurück, und ich zupfte weiter Werg. Ich begann ganz verzweifelt zu werden, denn ich konnte es nicht begreifen, warum meine Bürgen mich nicht herausgeholt hatten. Ich war schon fest überzeugt, daß irgend etwas damit nicht stimmte und man mich hier im Gefängnis behalten würde. Natürlich war es töricht und unvernünftig, mir so etwas einzubilden, aber im Gefängnis, besonders zuerst, ist man nicht vernünftig und neigt dazu, allen möglichen furchtbaren Gedanken nachzugeben. Als ich ungefähr zwei Stunden im »Schuppen« verbracht hatte, hörte ich meine Nummer rufen – sonderbarerweise habe ich sie jetzt vergessen. Ich sprang auf und ging auf den Wärter zu. »Sie sollen zum Direktor kommen, folgen Sie mir«, sagte er. »Sind es meine Bürgen?« fragte ich. »Das weiß ich nicht,« erwiderte er, »ich weiß nur, daß Sie zum Direktor kommen sollen.«

Er führte mich in ein Zimmer neben dem Aufnahmeraum, den ich am Abend vorher kennengelernt hatte. Mein Herz tat einen Freudensprung, denn ich sah meinen guten alten Sholto und meinen gütigen geistlichen Freund und Wohltäter im Gespräch mit dem Direktor. Beide schüttelten mir lächelnd die Hand.

Dann ging ich in den Aufnahmeraum, wurde meine Anstaltskleidung los und bekam meine eigene, sowie meine Uhr und mein Geld zurück. Alles, was ich hatte behalten dürfen, war mein Rosenkranz, den ich um den Hals trug.

Als ich umgekleidet war, ging ich ins andere Zimmer, und der Direktor schüttelte mir die Hand und sagte: »Nun also leben Sie wohl und kommen Sie nicht wieder!« Darauf ging ich mit meinen beiden Bürgen fort. Sholto mußte mich wegen irgendeiner Verabredung gleich verlassen, aber Mr. Mills bestand darauf, mich zu einem üppigen Mahl in einem Restaurant einzuladen. Sonderbarerweise aber konnte ich fast gar nichts essen. Ich weiß noch, wie ich auf der Fahrt zu meiner Mutter dachte: »Ich kann es unmöglich riskieren, wieder in jene Hölle zu geraten.« Ich nahm mir vor, mich mit Ross zu einigen. Dazu wäre nichts weiter nötig, als »klein beizugeben« und meine Beschuldigungen zurückzunehmen.

Diese Gemütsverfassung, die vierundzwanzig Stunden in einem wirklichen Gefängnis bewirkt hatten, war natürlich gerade die, die Sir George Lewis zugunsten von Robert Ross in mir hervorrufen wollte. Wenn ich gleich gegen Kaution freigelassen worden wäre, hätte ich keine Gelegenheit gehabt, die Grauen des Gefängnislebens kennen zu lernen. Ich hatte es schon in Brixton schlimm genug gefunden, aber es war das reine Paradies im Vergleich zu Wormwood Scrubs.

Doch eine Nacht traumlosen Schlafs in einem wirklichen Bett in einem behaglichen Schlafzimmer und ein gutes Frühstück führten einen völligen Umschwung in meinen Gefühlen herbei. Ich schwor mir zu, daß ich lieber mein ganzes Leben in einem unterirdischen Verlies verbringen würde, ehe ich klein beigeben und Ross und Lewis einen solchen Triumph bereiten würde. Die nächsten Tage waren für mich verlorene Zeit, da ich sie mit einem Anwalt verbrachte, der sich für meinen Prozeß nicht eignete, aber dann führte mich ein glücklicher Zufall (oder vielmehr die Vorsehung, denn es gibt keinen Zufall) zu einem Rechtsanwalt Bell. In ihm hatte ich endlich einen Anwalt gefunden, der an mich glaubte und meine Handlungsweise billigte. Mr. Bell ist ein Schotte, und sein Ahne wurde wegen Beteiligung am Aufstand zugunsten der Stuarts im Jahre 1745 gehängt. Er hatte also Kämpferblut in den Adern und konnte das Douglas'sche Kämpferblut in mir verstehen. Abgesehen von der Klage beim Vormundschaftsgericht, die bereits, ehe ich zu Mr. Bell kam, hoffnungslos verfahren war, haben Bell und ich zusammen keinen einzigen Prozeß verloren. Mit der geschickten Hilfe von Comyns Carr zerschmetterten wir Lewis & Lewis, und selbst den Prozeß gegen die »Morning Post«, bei dem mich Comyns Carr arg im Stich ließ, gewannen wir, obgleich ich nicht den Schadenersatz bekam, auf den ich ein Anrecht hatte.

Jetzt stand mir die anscheinend hoffnungslose Aufgabe bevor, Beweismaterial gegen Ross aufzutreiben. Ich ging zu Comyns Carr und setzte ihm den Tatbestand auseinander, aber er erklärte: »Wenn Sie sich verpflichten, das, was Sie mir eben gesagt haben, auf der Zeugenbank zu wiederholen, werde ich den »Wahrheitsbeweis« aufstellen. Aber ich sage Ihnen offen, daß Sie nicht sehr viel Aussicht auf Erfolg haben, wenn Sie nicht noch belastendere Beweise beschaffen können.«

Fast das ganze Beweismaterial habe ich schließlich allein gesammelt. Ich prüfte einen Anhaltspunkt nach dem anderen, aber immer vergeblich, denn niemand wollte »in diese Angelegenheit hineingezogen werden«. Eines Tages bekam ich die anonyme Mitteilung, daß der unglückliche Sohn eines gewissen Mr. E., der in einer Straße unweit von Campden Hill wohnte und ein höchst ehrenwerter Mann war, zu Ross' Opfern gehörte. Als ich diese Information erhielt, blieben mir nur noch zehn Tage bis zu Beginn der Verhandlung, und noch hatte ich keine stichhaltigen Beweise, obwohl ich schon nach Guernsey und auch nach einem Dutzend anderer Plätze gefahren war, aber leider vergeblich. Ich ging also nach der angegebenen Adresse und fragte nach Mr. E. Dieser Name war hier nicht bekannt, hieß es. Mein Mut sank auf den Nullpunkt. Verzagt ging ich die Straße hinunter, die mindestens hundertfünfzig Häuser zählte. Was sollte ich tun? Verzweifelt betete ich zum heiligen Antonius, für den ich immer eine große Vorliebe hatte. Dann ging ich ein paar Meter weiter, den Blick zu Boden gesenkt. Eine Stimme sagte: »Was wünschen Sie? Kann ich Ihnen helfen?« Ich sah auf und erblickte einen reizenden Knaben von ungefähr zehn Jahren, der mich freundlich anlächelte. Ich antwortete: »Ich suche jemanden, der in dieser Straße in der und der Nummer wohnt, und jetzt sagt man mir, daß dort niemand unter diesem Namen bekannt ist.« »Sagen Sie mir den Namen und die Nummer«, erwiderte er. Ich tat es, und er rief: »Ach, ich weiß, wo das ist. Die Nummern in dieser Straße sind verändert worden.«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich an das andere Ende der Straße, blieb vor einer Tür stehen und sagte: »Hier werden Sie finden, was Sie suchen.« Ich ließ seine Hand los, ging auf die Tür zu und klingelte. Gleich darauf sah ich mich um, aber der kleine Junge war schon verschwunden. Ich sah die Straße hinauf und hinunter, aber er war nicht mehr zu sehen. Eine Frau öffnete, und ich fragte: »Wohnt hier Mr. E.?« »Jawohl, wollen Sie bitte eintreten«, war die Antwort.

Mit viel Mühe erhielt ich von Mr. E. die gewünschte Auskunft. Die Frau, die mich hineingeführt hatte und die, wie ich hörte, seine zweite Frau und die Stiefmutter seiner beiden Söhne war, machte Schwierigkeiten. »Erzähle ihm nichts. Wir wollen keinen Skandal in der Familie haben«, sagte sie immer wieder. Ich redete Mr. E. gut zu und erklärte schließlich: »Wenn Sie mir nicht helfen, komme ich ins Gefängnis. Erbarmen Sie sich, und helfen Sie mir.« Das nützte. »Dann kann ich mich nicht mehr weigern«, meinte er. »Der Junge selbst ist tot. Nach dem Geschehenen mußte er von zu Hause fort, ist nachher nach Südafrika gefahren und starb dort. Sein älterer Bruder ist Soldat in dem ...-Regiment, das jetzt in Goring steht. Er wird Ihnen die ganze Geschichte erzählen können.« Nachdem er mir den Namen und die Kaserne seines Sohnes angegeben hatte, verließ ich das Haus.

Auf die eben geschilderte Geschichte habe ich schon in einem anderen Kapitel angespielt, als ich sagte, daß ich ein überirdisches Erlebnis gehabt hätte. Erst viel später, als ich alle Beweise zusammen hatte und diese Aussage gerade die belastendste gegen Ross war, ist es mir klar geworden, daß es sich hier um ein überirdisches Erlebnis handeln mußte. Wie konnte ein zehnjähriger Knabe von den veränderten Hausnummern wissen und auch, wo Mr. E. wohnte? Was konnte ein Kind in diesem Alter bewogen haben, zu einem Mann, den es noch nie gesehen hatte, zu sagen: »Was wünschen Sie? Kann ich Ihnen helfen?« Ich bin fest überzeugt, daß das Kind ein Engel oder ein übernatürlicher Bote war, den mir der Himmel gesandt hatte. Er war ein wunderschöner Knabe und er hatte ein engelhaftes Gesicht und Lächeln. Wie kam es auch, daß er dann in einigen Sekunden spurlos verschwand, kaum daß ich seine Hand losgelassen und mich eine Sekunde abgewandt hatte? Vielleicht können Doktor Barnes oder der Dekan Inge eine Erklärung hierfür geben, die die Anhänger der Darwintheorie und die Leugner der Wunder befriedigen wird.

Aber selbst noch nach diesem Erlebnis hatte ich gegen furchtbare Schwierigkeiten zu kämpfen. Als ich in Goring ankam, hieß es, daß die Division, bei der der junge Mann stand, nach Norfolk verlegt worden sei. Ich begab mich dorthin und ging zum Obersten des Regiments. Der Oberst war einfach ekelhaft. Als er von meinem Anliegen erfuhr, wurde er unverschämt und grob und erklärte, er würde mir nicht erlauben, mit dem Mann zu sprechen. Ich hatte einen regelrechten Kampf mit ihm. In Gegenwart seines Adjutanten und verschiedener anderer Offiziere sagte ich ihm, ich würde mich an das Gericht wenden und ihn öffentlich für einen Mann erklären, der Ross und seinesgleichen unterstützte, wenn er mir nicht sofort den Soldaten vorführen ließe. Er wurde rot vor Wut und stürmte aus dem Zimmer, von seinen Offizieren gefolgt. Die Tür wurde zugeschlagen, und ich blieb allein.

Nach ungefähr fünf Minuten kam ein sympathischer junger Unteroffizier herein, ein wirklicher Gentleman, was heutzutage bei den vielen heraufgekommenen »Gentlemen« eine Seltenheit ist, und erzählte mir, daß der Oberst ihn zu mir geschickt hätte und mir sagen ließe, er habe nach dem betreffenden Soldaten gesandt, ich möchte ihm in seiner Gegenwart meine Fragen vorlegen. Nach einigen Minuten erschien der junge Mann. Der Unteroffizier erzählte ihm von meinem Anliegen und fügte hinzu: »Sie sind nicht verpflichtet, auf Lord Alfreds Fragen zu antworten, wenn Sie nicht wollen.« Der Mann war zuerst sehr zugeknöpft, aber ich redete ihm ins Gewissen und sagte: »Sie werden doch den Menschen, der Ihren Bruder ruiniert hat und indirekt für seinen frühen Tod verantwortlich ist, nicht schützen wollen.« Ich fügte auch noch hinzu, daß ich ins Gefängnis kommen würde, weil ich Ross angezeigt hatte, wenn ich nicht seine Aussage bekäme, die meine Tat rechtfertigen würde. Jetzt erzählte er mir die ganze Geschichte, die für Ross einfach verdammend war. Ich schrieb alles nieder, was er mir sagte; er las es durch und unterzeichnete es, nachdem der Unteroffizier ihm wieder versichert hatte, daß er nicht dazu verpflichtet sei. Dann überreichte ich ihm ein Sub-poena und drei Pfund und sagte ihm, er werde an dem für meine Verhandlung anberaumten Tage, der frühestens im Dezember sein würde, nach Old Bailey kommen müssen. Das war ein großer Schritt vorwärts und ermutigte mich sehr.

Die Glücks- sowie die Unglücksfälle kommen selten allein. Es schien jetzt, als ob das Eis gebrochen wäre, denn nun erhielt ich von einem Mann, den ich in Yarmouth aufsuchte, die Namen von sechs Personen, die mir wertvolle Auskunft geben konnten. Zum Schluß hatte ich dreizehn oder vierzehn Zeugen. Es waren alles achtbare Leute, ein anglikanischer Geistlicher war sogar darunter; nur einen der Zeugen hätte man »zweifelhaft« nennen können, und dieser war der Mann in Yarmouth, aber glücklicherweise erschien er am Verhandlungstag nicht. Später hat mein Anwalt Edward Bell ihn bei seinen Recherchen in einem Londoner Krankenhaus ausfindig gemacht. Man sagte ihm, daß der Mann »bewußtlos und anscheinend unter der Wirkung irgendeines Betäubungsmittels« eingeliefert worden wäre. Wer ihn in diesen Zustand versetzte, hat mir unbewußt einen großen Dienst geleistet, denn er wäre der einzige Zeuge gewesen, der mir bei der Beweisaufnahme hätte schaden können.

Eine dramatische Szene spielte sich bei der Vernehmung des jungen Soldaten ab, um dessen Zeugnis ich so schwer hatte kämpfen müssen. Er erzählte die Geschichte, wie sein Bruder, ein sechzehnjähriger Junge, von Hause verschwand, und wie sein Vater die Nachricht erhielt, daß Ross für sein Verschwinden verantwortlich sei. Er schilderte ferner, wie er Ross in einer Bar in der Copthall Avenue, die dieser häufig besuchte, gesagt hatte: »Was haben Sie meinem Bruder getan?« Daraufhin hätte Ross ihm Geld angeboten, das er jedoch ablehnte. Ross hatte dann versucht, ihn einzuschüchtern, indem er ihm mit einer Anzeige wegen Erpressung drohte. Da habe er sich geängstigt und sei fortgegangen. Kurze Zeit darauf sei sein Bruder nach Südafrika ausgewandert. Er wußte aber nicht, von wem er das Geld dazu bekommen hatte. Der Bruder sei dann in Afrika gestorben. Als der arme Bursche von dem furchtbaren Schicksal seines Bruders erzählte, war er von Erregung ganz überwältigt. Comyns Carr fragte ihn: »Würden Sie den Mann, den Sie in der Bar in Copthall Avenue sahen, wiedererkennen?« »Das weiß ich nicht, denn es ist vor mehreren Jahren gewesen«, erwiderte er. »Nun, sehen Sie sich hier im Gerichtssaal um,« meinte Carr, »und sagen Sie mir, ob Sie ihn bemerken.« Inmitten eines atemlosen Schweigens sah sich der Zeuge im Gerichtssaal um. Schließlich blieb sein Blick an dem Tisch, an dem Ross neben George Lewis saß, haften, und er sagte: »An dem Tisch dort sitzt ein Herr, der eine starke Ähnlichkeit mit dem Mann hat, den ich in der Bar in der Copthall Avenue sah.« »Wollen Sie bitte aufstehen, Mr. Ross?« sagte Richter Coleridge. Ross stand auf. »Das ist der Mann«, erklärte der Zeuge.

Ist es zu glauben, daß diese dramatische Szene nicht in einer einzigen Zeitung erwähnt wurde?

Ich habe bereits geschildert, was nach dieser Gerichtsverhandlung geschah, und wie dieses sonderbare Leumundszeugnis für Ross zustande kam, das dreihundertfünfzig angesehene Leute unterzeichneten, darunter der Premierminister und seine Frau. Für dieses erstaunliche Geschehnis habe ich nie eine befriedigende Erklärung finden können. Vielleicht können Doktor Barnes und Dekan Inge, die vermutlich nicht an den Teufel glauben, eine halbwegs vernünftige Lösung dieses Rätsels geben. Ich muß gestehen, daß es mir nicht gelungen ist, es zu lösen.


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