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4. Kapitel – Schönheit

Mein Leben während meiner Knaben- und Jünglingsjahre in Winchester und Oxford war schließlich, als ich die ersten beiden furchtbaren Jahre in Winchester hinter mir hatte, im großen und ganzen angenehm. Die Schul- und Universitätszeit verbrachte ich hauptsächlich mit den ausgelassensten Dummheiten und die Ferien mit Tanzen, Sport und allerlei Vergnügungen. Dies habe ich in meinem Gedicht »In Excelsis«, das ich dreißig Jahre später in meiner Zelle in Wormword Scrubs Gefängnis schrieb, zum Ausdruck gebracht:

For I was of the world's top, born to bask
In its preferment where the augurs sit,
And where the Devil's grace, to counterfeit,
Is all the tribute that the augurs ask. Denn ich saß obenauf in dieser Welt,
Von Gunst besonnt, wo die Auguren sitzen,
Die eins nur fordern als Entgelt:
Die Teufelskunst, die Maske zu benützen.

Da ich mich verpflichtet fühle, ein wahres Bild von mir zu zeichnen, damit man es mit der lächerlichen Karikatur vergleichen kann, die in solchen Büchern wie »Oscar Wilde, eine Lebensbeichte« von Frank Harris und in den ebenso dummen Ergüssen von Robert Harborough Sherard zu finden ist, muß ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, daß ich, ehe ich im dritten Jahr meiner Studienzeit in Oxford Oscar Wilde begegnete, nicht anders war als alle anderen Jungen aus meinen Kreisen mit meiner Erziehung. Ich kann wohl, ohne Widerspruch zu befürchten, behaupten, daß ich beliebt war und sehr viele »Freunde« hatte. Ich setze dieses Wort absichtlich in Anführungsstriche, weil diese »Freunde« mich alle mit zwei oder drei Ausnahmen gerade dann im Stich ließen, als ich Freunde am dringendsten nötig hatte.

In der Schule und in Oxford habe ich das Leben nie sehr ernst genommen. In Winchester lernte ich herzlich wenig, und die Kenntnisse, die ich in Oxford sammelte, erwarb ich gleichsam zufällig, und zwar dadurch, daß ich – trotz meiner Nachlässigkeit bei meinen anderen Arbeiten – doch sehr viel, wenn auch ziemlich wahllos, las. Ich war nie ein sehr guter Kricketspieler, und obgleich ich beim Fußballspiel meinen Mann stellen konnte, habe ich solche Spiele nie so furchtbar ernst genommen wie der Durchschnittsengländer; aber beim Wettlauf war ich einer der Besten, und nur weil ich das Pech hatte, vorher sehr viel krank gewesen zu sein, schnitt ich bei diesem Sport in meinem letzten Jahr in Winchester nicht so gut ab, wie ich es sonst getan hätte. Im Jahre 1887 war ich mit sechzehn Jahren Sieger beim Hürdenwettrennen der Schule (vierundeinhalb Kilometer über Land), und ich bin fast sicher, daß ich im darauffolgenden letzten Schuljahr den Preis mit Leichtigkeit gewonnen hätte, wenn ich nicht, gerade als der Wettlauf stattfand, mit einer schweren Erkältung zu Bett gelegen hätte.

In meinem Alter kann ich wohl, ohne als eitel verschrieen zu werden, erzählen, daß ich für einen schönen Jüngling galt. In seiner Kollektion selbst eingestandener Unwahrheiten, die Frank Harris »Oscar Wilde, eine Lebensbeichte« betitelt, sagt er, daß ich, als er mich zum erstenmal sah (damals zählte ich fast vierundzwanzig Jahre), den Eindruck eines »mädchenhaft hübschen Jungen« auf ihn machte. Diese Behauptung ist natürlich eine absichtliche Bosheit. Weder damals noch später habe ich das geringste Weibische in meinem Äußeren oder in meinem Wesen gehabt. Dafür gibt es schließlich eine Menge Beweise – viele Photographien und Bilder, aber auch Bestätigungen von Augenzeugen. Es hätte keinen Sinn, verschweigen zu wollen, daß ich ein ganz gutaussehender Junge war, sogar außergewöhnlich gut aussehend, und daß ich mein gutes und jugendliches Äußere erstaunlich lange – mindestens bis über das vierzigste Lebensjahr hinaus – bewahrt habe. Zwei Jahre nach der Oscar Wilde-Affäre – ich war damals fast siebenundzwanzig – verbrachte ich einige Tage zusammen mit meiner Mutter in Monte Carlo. Als ich zufällig einmal allein ins Kasino gehen wollte, verweigerte man mir den Eintritt mit der Begründung, daß ich zu jung sei, um die Spielsäle zu betreten, weil die Kasinoregeln es nicht gestatteten, junge Leute unter einundzwanzig Jahren hineinzulassen. Nachdem ich eine ganze Weile vergeblich versucht hatte, mehreren höflichen Beamten ihren Irrtum klarzumachen, holte ich schließlich meine Mutter. Sie begleitete mich zum Kasino, zeigte ihre Karte und versicherte dem Beamten, daß ich ihr Sohn und fast siebenundzwanzig Jahre alt sei. Darauf gab mir der Beamte mit vielen Entschuldigungen eine Einlaßkarte mit den Worten: »Ich hoffe, Sie werden es mir verzeihen, Mylord, aber ich habe einen sechzehnjährigen Sohn, der schon viel älter aussieht als Sie.« Das Sonderbare dabei ist, daß man mich zwei Jahre früher, als ich mit Oscar Wilde da war, ohne weiteres hineinließ. Es war kurz ehe Wilde meinen Vater wegen Verleumdung verklagte; ich war damals noch nicht ganz fünfundzwanzig.

Jedenfalls hätte ich mich bis zu meinem vierzigsten Jahr jederzeit für einen Jungen ausgeben können, wenn ich es gewollt hätte, und ich habe es sogar oft zum Spaß getan. Die einzigen Vorbedingungen dazu waren acht Tage auf den Bergen in Schottland, entweder auf der Jagd oder auf einer Fußtour, oder täglich einige Stunden Galoppreiten oder irgendeine andere anstrengende Leibesübung im Freien, um ein klares Auge und frische Farbe zu bekommen. Nach diesen Vorbereitungen hätte ich jede Wette aufnehmen können, daß ich nur einen Strohhut, so wie ihn die Jungen in der Schule in Winchester tragen, aufzusetzen brauchte, um in einer Gruppe Schuljungen nicht im geringsten aufzufallen. Als ich schon einunddreißig Jahre alt war und bereits einen Rennstall in Chantilly besaß, spielte ich eines Tages Klavier in einem Salon des Hotel Condé, in dem ich damals wohnte, als die alte Baronin Rothschild ins Zimmer trat. Ich unterbrach natürlich sofort mein Spiel und stand auf. Da bat mich die reizende alte Dame doch weiterzuspielen und machte mir im Laufe einer Unterhaltung, die sie dann mit mir anknüpfte, Komplimente über meinen guten französischen Akzent. Schließlich fragte sie mich, ob ich in Frankreich in die Schule ginge!

Ungefähr um diese Zeit begegnete ich zum erstenmal meiner Frau, der damaligen Miss Custance; ein Jahr darauf heiratete ich sie. Sie könnte die Wahrheit meiner Worte über mein damaliges Aussehen bestätigen und auch die Tatsache, daß es sich während der nächsten zehn Jahre kaum veränderte.

Ich bin gezwungen, alle diese Dinge zu erwähnen, weil ich jetzt zu dem schwierigsten und heikelsten Teil meiner Aufgabe komme, zur Schilderung meiner Freundschaft mit Oscar Wilde. Jeder, der das wirkliche Leben in England – die Schulen, die Universität, die Gesellschaft – kennt und nicht jene widerlichen Heucheleien mitmacht, die bis in die jüngste Zeit noch gang und gäbe waren, wenn es sich um solche Fragen handelte, wird wissen, daß ich jener Typ war, auf den Jünglinge und Männer ebenso stark wie Mädchen und Frauen reagieren.

Ich lehne mich entschieden dagegen auf, mich weiter der Konvention zu unterwerfen, die mich bisher gezwungen hat, die Wahrheit zu verschweigen. Ich habe es einmal in einem früheren Buch getan, weil der Freund, der mir dabei half (T. W. H. Crosland) mir versicherte, daß eine andere Handlungsweise gleichbedeutend mit Selbstmord wäre. Ich habe zwar schon auf der Zeugenbank, dem öffentlichsten Beichtstuhl der ganzen Welt, die Wahrheit über diese Angelegenheit gesagt, aber ich will es in diesen Memoiren noch einmal tun, weil ich es damals im Jahre 1914 in jenem Buch »Oscar Wilde und ich« nicht durfte. Man überredete mich seinerzeit, nicht die volle Wahrheit zu sagen, aber jetzt bin ich meiner selbst viel sicherer geworden, und ich bin überzeugt, daß nur die Wahrheit allein mir nützen kann.

Als ich in die Winchesterschule kam, lernte ich, wie ich bereits angedeutet habe, allerdings anfangs mit viel Widerstreben und innerem Ekel, das tun, was alle meine Kameraden taten. Nach Abschluß meiner Schulzeit war ich weder besser noch schlechter als die anderen Jungen. Meine Moral war natürlich vollkommen untergraben, und ich hatte auch meinen Glauben verloren, denn in diesem Institut existierte die Religion nicht. Es wäre ein Euphemismus, wollte ich sagen, sie wurde wie ein Scherz behandelt. In den unglaublichsten, profanierendsten Ausdrücken wurde sie verhöhnt. Im Eßsaal unseres Schulhauses hing eine Reproduktion von Leonardo da Vincis Abendmahl. Einer der älteren Jungen, der Primus omnium und darum einer der einflußreichsten der ganzen Schule, pflegte jedesmal, wenn er zum Tee nachmittags in den Saal trat (bei dieser Mahlzeit war kein Lehrer anwesend) ein Stück Brot gegen das Bild zu werfen mit der Absicht, den Kopf des Heilands zu treffen. Diese Episode ist eins der harmlosesten Beispiele für die ganze Haltung der Jungen gegen alles Heilige, und bei dieser Gelegenheit darf ich mich vielleicht noch einmal auf ›Ward‹ beziehen und dessen Worte über die Winchesterschule zitieren: »Es ist kaum möglich, sich etwas vorzustellen, was unseren Vorstellungen von der Hölle ähnlicher wäre.« Ich kann diese Worte nur unterschreiben.

Während meiner Schulzeit in Winchester und meiner Studienzeit in Oxford hatte ich viele wertvolle Freundschaften, die vollkommen normal, gesund und nicht im geringsten sentimental waren. So zum Beispiel meine Freundschaft mit Encombe, die bis zu dessen frühem Tode in seinem neunundzwanzigsten Lebensjahr dauerte. Ich hatte andere Freundschaften, die sentimental und leidenschaftlich waren, aber trotzdem vollkommen rein und harmlos blieben. Meine Freundschaft mit Wellington Cotton zum Beispiel. Andere wiederum waren weder rein noch harmlos. Aber wenn man daraus schließen will, daß ich »anormal« oder »degeneriert« oder besonders verdorben und schlecht war, dann muß man dasselbe von wenigstens neunzig Prozent aller meiner Schulkameraden und Mitstudenten sagen. Ich kann nicht die Wahrheit über mich selbst erzählen, ohne sie auch von anderen zu berichten, aber ich werde natürlich keine Namen nennen. Es gibt in England nichts Gefährlicheres, nichts, was einen mit größerer Sicherheit den heftigsten Angriffen und dem größten Haß aussetzen kann als die Wahrheit, selbst auf der Zeugenbank, trotzdem man auf die Bibel geschworen hat, »nichts hinzuzusetzen und nichts zu verschweigen«.

Ehe ich nun weiter von meiner Jugend erzähle, muß ich ein für allemal betonen, daß ich weder im geringsten anormal noch degeneriert bin. Ich war vollkommen gesund und normal und – um die Worte unseres Familienarztes, der auf meine Bitte vor Gericht sein Sachverständigenurteil darüber abgab, zu zitieren, als ich den Prozeß gegen »The Evening News« wegen böswilliger Verleumdung führte – »über dem Durchschnitt gesund, sowohl geistig wie körperlich«. Fünfzigtausend andere Jungen hätten dasselbe tun können wie ich (und haben es in der Tat getan), aber sie sind nicht so wie ich von einem grausamen Schicksal gezwungen worden, ihr Leben lang die Rolle des Sündenbocks für alle zu spielen und die ganzen Folgen der konzentrierten Heuchelei und Scheinheiligkeit zu tragen, die in diesen Dingen England seit dreihundert Jahren zum Spott der Menschheit gemacht haben.

Es ist eine Schande, daß ich in meinem Alter, obwohl ich seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet bin und einen fünfundzwanzigjährigen Sohn habe, gezwungen bin, alle diese Dinge zu veröffentlichen. Wenn ich mit der geringsten – ich will nicht sagen Gerechtigkeit, sondern mit der geringsten Menschlichkeit und einer Spur Anstand behandelt worden wäre, hätte ich dies nicht zu schreiben brauchen. Kein anderer Mensch ist so behandelt worden wie ich und hat so oft vergeblich das Gesetz seines Landes zu seinem Schutz angerufen gegen einen Feldzug gemeinster Erpressung und Verfolgung, der schon über dreißig Jahre gegen mich im Gange ist.


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