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1. Kapitel – Douglas-Blut

In unserem Haus in Ham Hill unweit von Worcester wurde ich am 22. Oktober 1870 geboren. Mein Vater, der achte Marquis von Queensberry, war damals Master der Fuchsjagd in Worcestershire; diesen Posten hatte er jedoch nur zwei Jahre inne.

Mein Vater war ein ausgezeichneter Reiter und passionierter Jäger. Eine Zeitlang war er Master der Jagd in der Grafschaft Dumfrie, seiner Heimat. Diese Jagd war von meinem Großvater, dem siebenten Marquis, der ungefähr zehn Jahre lang als Master waltete, ins Leben gerufen worden. Mein Vater liebte es auch sehr, mit seinen eigenen Pferden oder denen seiner Freunde an Hindernisrennen teilzunehmen und hat seinerzeit eine ganze Menge preistragender Pferde geritten. Ein paarmal hat er auf seinen eigenen Pferden am Grand National Rennen teilgenommen, aber niemals ist es ihm gelungen, den Preis davonzutragen, obgleich er »Old Joe«, der im Jahre 1886 Sieger war, öfters geritten hatte; es war immer sein brennender Wunsch, ihn beim »Grand National« selbst zu reiten.

»Old Joe« gehörte dem Vetter meines Vaters, Arthur Johnstone Douglas aus Lockerbie, der das Pferd als Jagdpferd für hundertfünfzig Pfund Sterling gekauft hatte und es auch zu diesem Zweck ein Jahr ritt. Arthur Douglas hat es dann als Rennpferd trainieren lassen, und nachdem es den Preis in Sandown gewonnen hatte, errang es auch den »Grand National«, bei dem Arthur Douglas 40 zu 1 gesetzt hatte. Das Pferd gewann »auf drei Beinen« und kam so lahm an, daß man zuerst glaubte, es sei gestürzt.

Zu dieser Zeit war mein Vater nicht mehr der forsche Reiter von früher, und Arthur Douglas beschloß klugerweise, einen Jockei von Beruf – Skelton – an Stelle meines Vaters zu setzen, was mein Vater ihm sehr übelnahm, weil er auf diese Weise um die Gelegenheit gebracht wurde, den Gewinner des »Grand National« zu reiten.

Obwohl mein Vater seinerzeit als ein vortrefflicher Herrenreiter und kühner Reiter bei der Fuchsjagd galt, ist er heute in Sportkreisen hauptsächlich nur noch als Autor der Queensberry Boxing-Regeln bekannt.

Es fiel mir auch auf, daß bei seinem Tode 1899 die Nachrufe in den Sportzeitungen mit keinem Wort seine Erfolge beim Rennen erwähnten, obwohl er viel stolzer auf diese Leistungen war als auf sein Boxen. Es ist erstaunlich, wie schnell Erfolge dieser Art vergessen werden. Als ich noch die Schule in Winchester besuchte, war es eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, in den alten Nummern der Sportzeitschrift »The Field«, von der wir in unserer Bibliothek zu Hause mehrere gebundene Jahrgänge hatten, nach Rennberichten zu suchen, an denen mein Vater in den sechziger und siebziger Jahren teilgenommen hatte. Als Junge hegte ich eine grenzenlose Bewunderung für ihn und sah in ihm einen prächtigen Mann von fast legendenhaften Leistungen als Sportsmann.

Die große Bewunderung für meinen Vater wurde durch die Tatsache, daß ich ihn sehr selten sah, nicht im mindesten beeinträchtigt, sondern vielleicht im Gegenteil eher noch verstärkt. Leider kann ich ebensowenig von ihm sagen, er sei ein guter Vater gewesen, als ich behaupten kann, daß er ein guter Ehemann war. Er tat absolut nichts für seine Söhne. Wenn er uns einmal zufällig sah, war er fast immer gemütlich und freundlich, aber er hat sich nie die geringste Mühe gegeben, uns irgendwie zu belehren, zu warnen oder zu beeinflussen. Etwas, was ich ihm nie so recht verzeihen kann, ist, daß er mich nicht einmal Reiten lehrte. Unsere Kutscher und Grooms brachten es mir auf ihre Weise bei, und mein Vater schenkte mir einen Pony, als ich sechs Jahre alt war. Er hieß »The Rat«, und mein Vater zahlte sechzig Pfund im Tattersall für ihn. Der Pony war ein prächtiger kleiner Kerl und konnte springen wie ein Hirsch. Ich ritt sehr viel und nahm später an den Cottesmere Fuchsjagden teil, auf dem schönen Gut Burley-on-the-Hill, das meinem Onkel George Finch gehörte. Doch als Junge war ich immer noch ein wenig ängstlich und lernte eigentlich erst richtig und sicher reiten, als ich mit dreißig Jahren meinen eigenen Rennstall in Chantilly hatte.

Mein Vater war außerordentlich egozentrisch – nein, noch mehr, er war ein krasser Egoist. Von frühester Jugend an war er gewöhnt, immer seinen Willen durchzusetzen. Vom zwölften bis zum neunzehnten Jahr war er Seekadett. Mit neunzehn Jahren erbte er nach dem tragischen Tod seines Vaters, der im Park von Kinmount, dem Familiengut in Dumfriesshire, erschossen aufgefunden wurde, den Marquistitel und die Besitzungen.

Ob der Tod meines armen Großvaters einem Selbstmord oder einem Unfall zuzuschreiben ist, hat man niemals feststellen können. Jedenfalls starb er, als mein Vater kaum erwachsen war, und von diesem Augenblick an verschlechterten sich die Verhältnisse unseres Hauses mit großer – man könnte fast sagen mit unheimlicher – Schnelligkeit. Mein Vater erbte ein Besitztum von ungefähr dreißigtausend Morgen und außerdem wenigstens zwanzigtausend Pfund Zinsen jährlich. Ich will damit nicht sagen, daß er diese ganze Summe für sich allein ausgeben konnte, jedenfalls aber war damals noch reichlich Geld da. Er und mein Bruder Percy, der kürzlich verstorbene Marquis, haben zusammen über siebenhunderttausend Pfund durchgebracht, so daß jetzt nichts mehr da ist – nicht ein Morgen Land in Schottland, nicht ein Penny des ursprünglichen Vermögens, das der zweite Graf Douglas dem ältesten seiner beiden (unehelichen) Söhne hinterlassen hatte. Dieser zweite Graf Douglas war das Oberhaupt der männlichen Linie unserer Familie, dieser Linie, die direkt von jenem ersten Douglas abstammte, dem »dunklen grauen Mann«, den Scott in seinen Romanen so oft erwähnt. Dieser Douglas hatte keine legitime Nachkommenschaft aus seiner Ehe mit der Tochter von Robert II. König von Schottland, ist aber unser direkter Ahnherr und fiel im Jahre 1388 in der Schlacht bei Otterburn. Mein Vater verkaufte das ganze Besitztum, zuerst Torthorwald Schloß und die dazugehörigen Ländereien und dann das Gut Kinmount. Infolge des Zwistes zwischen ihm und meinem kürzlich verstorbenen Bruder Percy bekam dieser nur sein Pflichtteil, das ungefähr dreihunderttausend Pfund bar betrug, aber diese Summe wurde ihm in der City in wenigen Jahren »abgeknöpft«, und als er im Jahre 1920 in Südafrika starb, war er fast mittellos. Die unglücklichen jüngeren Kinder, zu denen auch ich gehörte, kamen natürlich bei dem débâcle noch schlechter weg. Jeder von uns erbte beim Tode meines Vaters die kleine Summe von nicht einmal fünfzehntausend Pfund, und als der Stamm unseres alten Hauses zusammenbrach, war es nur natürlich, daß wir, die Zweige, mitgerissen wurden.

Es ist ganz angenehm, der jüngere Sohn eines Marquis zu sein, wenn man große Ländereien besitzt, einen Stall voll Pferde hat, ein großes Einkommen, einen ausgedehnten Kreis wohlhabender Verwandter und Freunde und eine Menge mehr oder minder ergebener Dienstboten. Die Lage wird jedoch wesentlich weniger angenehm, wenn die Ländereien nicht mehr vorhanden sind; ist aber auch kein Vermögen mehr da, so wird sie, wie sie für mich in den letzten zwanzig Jahren war, zu einer Art Fegefeuer.

Hat der jüngere Sohn eines Lords kein Geld, so ist sein Los wirklich kein beneidenswertes. In meinem Leben habe ich, wohl meiner Sünden wegen, sehr viel durchgemacht, von bloßen äußeren Unannehmlichkeiten angefangen, bis zum furchtbarsten seelischen Leid, aber mein größtes Kreuz war doch, daß ich immer als mittelloser Lord durchs Leben gehen mußte.

Eine tausendjährige Ahnenreihe hat mir alle die Neigungen wahrer Aristokratie vererbt, deren hauptsächlichste meiner Meinung nach diejenige war, freigebig, großzügig und der Helfer und Beschützer der Armen und Bedrängten zu sein. Fortwährend Menschen um sich sehen, die Hilfe brauchen, und ihnen nicht helfen können – gezwungen sein, Bitten abzuschlagen – ist für mich eine beständige, immer wiederkehrende Pein gewesen. Jedesmal, wenn ich Geld hatte, habe ich es mit anderen geteilt, das heißt mit Bedürftigen oder Bittenden; dadurch kam es wohl, daß immer derjenige, der mich zufällig zuerst oder am beharrlichsten darum bat, es auch erhielt.

Wenn ich kein Geld hatte, das ich verschenken konnte, gab ich alles andere, was ich besaß. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich nie geweigert, einem Menschen oder der Menschheit im allgemeinen zu helfen. Mein Motto ist stets »Geben, geben« gewesen. Es war meine Passion, mich für andere aufzuopfern und um eine »verlorene Sache« (die ich aber nie für verloren hielt) zu kämpfen, selbst wenn es galt, einer ungeheuren Übermacht die Stirn zu bieten, und ich habe niemals zugegeben, daß ich geschlagen war, nicht einmal dann, als ich schließlich ins Gefängnis kam.

Jetzt bin ich gleichsam in einem ruhigen Nebenfluß des Daseins und kann nun auf mein Leben zurückblicken, als wäre es das eines ganz anderen Menschen. Ich habe die Beweggründe meiner Handlungen eingehend geprüft und dabei das entdeckt, was ich hier über mich niedergeschrieben habe. Ich tue es gewiß nicht, um mich zu verherrlichen. Im Gegenteil, ich wäre meiner Familie, meinen Freunden und der Gesellschaft sicher viel nützlicher gewesen, wenn ich einfach versucht hätte, »vorwärtszukommen« und »Freund mit dem ungerechten Mammon« zu machen. Doch berichte ich jetzt bloß Tatsachen. Alles, was ich in meinem Leben getan habe, ist aus einem überwältigenden, unwiderstehlichen Drang geschehen. Jeder, der meine Gedichte mit Intelligenz und Verständnis liest, wird in ihnen alles das finden, was ich hier über mich gesagt habe.

Wenn ich auch unbedingt an die Willensfreiheit der Menschen glaube, so glaube ich trotzdem an Vererbung. Ein Mensch kann nichts für seine Instinkte und angeborenen Neigungen. Aber er kann sie beherrschen und lenken. Meine Hilfsbereitschaft habe ich wohl von meiner Mutter geerbt, die im Charakter das strikte Gegenteil von meinem Vater war. Meine Mutter hat immer für andere gelebt und sich durch ihre Freigebigkeit und ihre Unfähigkeit, eine Bitte um Hilfe abzuschlagen, vollkommen ruiniert. Es ist eine interessante Tatsache, daß meine Mutter, die durch ihren Vater, den kürzlich verstorbenen Alfred Montgomery, mit den schottischen Montgomeries von Eglinton verwandt ist (einer Familie, die von Wilhelm dem Eroberer abstammt und fast so alt ist wie die der Douglas), ihren Stammbaum mütterlicherseits bis zu Jocelyn, dem dreizehnten und letzten Graf von Northumberland zurückverfolgen kann. Als mein Vater meine Mutter heiratete, hat sich also ein direkter Nachkomme der männlichen Linie des in der Schlacht bei Otterburn gefallenen Douglas mit einem direkten Abkömmling jenes Percy, der in derselben historischen Schlacht von den Douglas gefangen genommen wurde, vereint. Folglich fließt in meinen Adern das Blut der beiden ältesten und vornehmsten Familien Schottlands. Deshalb gibt es wohl heute keinen in Großbritannien, der sich rühmen kann, so »hochgeboren« zu sein wie ich, und ich muß meine Leser bitten, diese Tatsache bei ihrer Beurteilung meiner Handlungen oder meiner Lebensanschauungen im Auge zu behalten. Ich habe stets eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegen die öffentliche Meinung gehabt, und zwar wohl ursprünglich aus einem Gefühl heraus, das man »aristokratische Arroganz« nennen könnte (meine Kritiker – vor allem Frank Harris in seinem Buch »Oscar Wilde, eine Lebensbeichte« – haben es auch so bezeichnet). Als so manche Schicksalsschläge mich schon etwas von meiner »aristokratischen Arroganz« geheilt hatten, blieb ich trotzdem gleichgültig gegen die öffentliche Meinung, und zwar aus religiösen Gründen; denn ist nicht die Religion letzten Endes doch das aristokratischste aller Dinge? Als ich in meinem einundvierzigsten Lebensjahr Katholik wurde, erfuhr ich zu meiner Freude, daß man die Katholiken lehrt, Gott zu bitten, sie von dem »Ansehen der Person« zu befreien. Ich habe niemals im geringsten dem »Ansehen der Person« gehuldigt, und es war für mich sehr ermutigend, daß ich schon von Natur das besaß, was manche Leute trotz vielen Betens niemals erringen können. »Ansehen der Person« bedeutet natürlich, einen Menschen aus andern Gründen als seiner Tugenden wegen zu achten. Einen Richter oder einen Herzog oder einen König zum Beispiel zu achten, nur weil er ein Richter, ein Herzog oder ein König ist, ganz abgesehen von seinem Charakter, ist ganz unchristlich und sehr wenig aristokratisch. Umgekehrt ist es ebenso unchristlich und unaristokratisch, einen Menschen zu verachten, weil er arm oder unglücklich oder unbeliebt ist.


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