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2. Kapitel – Jungens, Erzieherinnen und die schöne Mutter

Meiner Meinung nach war es für unsere Familie ein großes Unglück, daß wir so wenig auf unserem Besitztum in Schottland lebten. Die glücklichsten Tage meiner Kindheit hatte ich in Kinmount verbracht, einem Ort, der nur acht Kilometer von Annan entfernt ist, und heute noch träume ich oft, daß wir dorthin zurückkehren. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, verließen wir Kinmount (für immer, wie es sich nachher herausstellte), und ehe ich mein siebzehntes Jahr erreicht hatte, war der Besitz schon in andere Hände übergegangen, und die achthundertjährige Zugehörigkeit der Douglasfamilie zu dem Teil Schottlands, den im Süden der Solway Firth begrenzt, hörte auf.

Der andere Teil des Besitztums, das Torthorwalder Gut, war schon früher verkauft worden, und von allen uns einst gehörenden Ländereien und Häusern blieben uns damals nur ein ganz kleiner Ort namens Glen Stewart übrig und ungefähr zweitausend Morgen Land. Aber auch dies wurde später verkauft, und zwar von meinem Bruder Percy, als er sein Erbteil antrat.

Percy und ich hingen besonders aneinander. Als Kinder waren wir, bis er zur Seekadettenschule kam, ständig beisammen. Auf unseren Ponys ritten wir stets zusammen umher, und unser Lieblingsziel war das kleine Dorf Ecclefechan (Carlyles Geburtsort), weil es dort einen kleinen Laden gab, wo man Holzschwerter und Goldpapier kaufen konnte. Fast alle unsere Spiele drehten sich um Kämpfe und Krieg. Der Tischler auf unserem Gut – Dunkeld, der das beste Herz der Welt hatte – pflegte uns hölzerne Speere und Schilde zu machen, auf die das Douglas-Herz gemalt war. Einmal hat mein Bruder Percy mit einem von diesen Speeren meinem älteren Bruder Drumlanrig beinahe das Auge ausgestoßen.

Dann kam der traurige Tag, an dem wir von Kinmount fortzogen, um nach London überzusiedeln, erst nach der Cromwell-Street 67 und später nach dem Cadogan-Place 18. Schon damals lebte mein Vater nicht mehr bei uns. Er hatte zwei Zimmer in der James-Street am Buckinghamer Tor, und wir sahen ihn kaum, weder in London noch im Landhaus meiner Mutter, das »Die Hütte« hieß und ungefähr sechs Kilometer von Bracknell in Berkshire lag. »Die Hütte«, in der wir während der Sommermonate wohnten, war ein hübsches altes Haus und größer als sein Name vermuten läßt. Im Notfall hätte man gut zwanzig Gäste darin unterbringen können. Lord Downshire hatte es in einem Kiefernwald errichten lassen als provisorische Unterkunft, während sein großes Haus in Easthampstead erbaut wurde. Damals war »Artie« Downshire (der kürzlich verstorbene Marquis von Downshire) ein Junge in ungefähr meinem Alter, und er und seine Mutter waren unsere nächsten Nachbarn und nebenbei unsere »Hauswirte«. Artie war ein liebenswürdiger, aber ziemlich schwerfälliger Junge, der eine wahre Manie hatte, Bauernwagen zu kutschieren. Es war ein ständiger Kampf zwischen ihm und seiner armen Mutter, ihn zu bewegen, sich an den sorgfältig arrangierten Kricketwettspielen im Park zu Easthampstead zu beteiligen. Meistens war Artie, wenn er an der Reihe war zu spielen, nirgends aufzufinden und wurde später schließlich auf der Deichsel eines Düngerwagens entdeckt, wo er eifrig das Pferd mit Rufen wie »Hüh! Hüh!« zum Weiterfahren anspornte.

Sein Vetter Wellington Stapleton Cotton (der Lord Combermere geworden wäre, wenn er so lange gelebt hätte), war ein häufiger Gast in Easthampstead. Es bestand eine innige Freundschaft zwischen uns beiden; wir liebten uns abgöttisch. Er besuchte das Wellington College, während ich in die Schule in Winchester geschickt wurde. Ich erinnere mich noch, wie ich nach den großen Ferien, die ich in der Schweiz (Zermatt) mit meinem Hauslehrer Trant Branston und meinem besten Schulfreund Encombe, Lord Eldons ältestem Sohn, verbracht hatte, nach Hause kam und acht Tage vor Schulanfang Ziegenpeter bekam.

Es war für Wellington und mich ein harter Schlag, als es hieß, er dürfe nicht von Easthampstead herüberkommen und mich besuchen. Ich schrieb ihm jedoch einige Zeilen auf einen Zettel, den ich unserem treuen Diener Harold anvertraute, in welchem ich meinem Freund auseinandersetzte, daß wir die nächsten drei Wochen nur dann zusammen verbringen könnten, wenn er es irgendwie fertig brächte, auch Ziegenpeter zu bekommen; er solle mich also trotz des Verbots von Lady Downshire und meiner Mutter besuchen. Am nächsten Morgen tauchte er bereits vor dem Frühstück auf und kletterte durchs Fenster in mein Schlafzimmer. Wir meinten, daß die erwünschte Ansteckung am sichersten zu bewerkstelligen wäre, wenn er sich auszöge und sich zu mir ins Bett legte. Dies tat er auch, und nachdem er eine halbe Stunde bei mir geblieben war, verschwand er auf demselben Weg, wie er gekommen war. Die Tücke des Schicksals hat sich jedoch wieder einmal erwiesen, indem Wellington von der gefürchteten Krankheit verschont blieb, während Encombe sie bei der Rückkehr nach Winchester bekam und die ganze Schule ansteckte.

Damals war ich fünfzehn Jahre alt und Wellington vierzehn. Ich sah ihn das letztemal vier Jahre später als er von Sandhurst aus zum Abendessen herüberkam und bei mir übernachtete. Er fiel in der Schlacht bei Spion Kop im Burenkrieg. Seit seinem Tod habe ich nie verabsäumt, für seine Seele zu beten und ich freue mich schon jenes nicht zu fernen Tages, da ich mit ihm wieder als Junge im Paradies sein werde. (Wenn man in den Himmel kommt, kann man wählen, was man sein möchte, und ich habe die Absicht, dort wieder ein Kind zu sein.)

Zu Hause wurde ich von meinen Geschwistern und allen meinen Verwandten »Bosie« genannt, und der Name ist mir bis heute geblieben. Meine Mutter gab ihn mir, als ich noch ganz klein war. Augenscheinlich war es ein Diminutiv von »Boy« und bedeutete »Jungchen«.

Als ich ungefähr ein Jahr in Winchester war, schickte mir mein Bruder Percy, der gerade Seekadett geworden war, vor der Abfahrt seines Schiffs nach dem Stillen Ozean ein Abschiedstelegramm. Es enthielt nur die Worte: »Leb wohl, geliebter Bosie«. Dieses Telegramm wurde auf den Tisch in der Halle der Schule hingelegt. Ich war gerade abwesend, als es eintraf, und einige neugierige Kameraden hatten es geöffnet. Ich wurde natürlich mit höhnischen Rufen wie »Hallo, geliebter Bosie« empfangen, und von dem Tage an wurde ich immer von meinen Kameraden und später auch von meinem Hauslehrer »Bosie« genannt. Auch in Oxford blieb mir der Name.

Wenn ich in meinem Gedächtnis nach Kindheitserinnerungen suche, gleitet ein geisterhafter Zug von Dienstmädchen, Kinderfrauen und Erzieherinnen an mir vorbei. Ich glaube, wir haben alle unsere Erzieherinnen mehr oder minder innig geliebt, denn wir waren sehr anhängliche und sentimentale Kinder. Wir nannten einander »Darling« mit derselben Selbstverständlichkeit wie unsere Mutter es tat.

Meine Mutter zu beschreiben ist fast eine Unmöglichkeit. Sie war so schön, daß die Menschen, als sie kurz nach ihrer Heirat mit ihrer Schwester im Hyde-Park spazieren fuhr, sich auf die Stühle stellten, um sie besser sehen zu können. Meine Mutter war sehr blond, meine Tante sehr brünett. Es existiert ein reizendes Kinderbild von den beiden Schwestern, das Watts für meinen Großvater Alfred Montgomery malte; jetzt befindet es sich in Burley-on-the-Hill. Mit vierzig Jahren sah meine Mutter noch wie ein junges Mädchen aus. Sie war von engelhafter Schönheit und hatte ein sanftes, wehmütiges, blumenhaftes Gesicht und war so zierlich wie ein Tanagrafigürchen. Sie war (und ist es noch) die selbstloseste, sanfteste, tapferste und treueste Frau, die je gelebt hat, und von einer schier unglaublichen Güte und Geduld. Aber so gut sie auch war, fehlte ihr damals das eine, was sie zu einer vollendeten Mutter gemacht hätte: ich meine, sie besaß zu jener Zeit keinen wirklichen Glauben, erst später hat sie ihn gewonnen. Ihre Mutter, eine Tochter des ersten Lord Leconfield, wurde Katholikin (durch Manning, der eine Zeitlang Oberpfarrer in Pulborough bei Petworth, dem Gut ihres Vaters, war) und man nahm ihr deswegen unrechter- und grausamerweise ihre Kinder. Meine Mutter wurde in der protestantischen Religion (Low Church) erzogen, einer Religion, die meine eigene Kindheit mehr oder minder verdüsterte, aber sie galt damals für die einzig mögliche Anschauung in den allerhöchsten Gesellschaftskreisen.

Wahrscheinlich war meiner Mutter diese Religion so zuwider, daß sie lieber gar keine hatte und uns auch darum keinen richtigen Religionsunterricht erteilen ließ. Wir gingen natürlich regelmäßig in die Kirche (das heißt, wenn es uns nicht gelang, uns zu drücken), und meine Mutter war uns stets das Vorbild für eine untadelhafte, makellose Lebensführung. Aber selbst das ersetzt nicht einen wirklichen Glauben. Meine Mutter wurde in ihrem achtzigsten Lebensjahr Katholikin. Mein Vater hingegen war ein erklärter Atheist und rühmte sich dessen bei jeder Gelegenheit. Es ging sogar so weit, daß er jeden, der die Geduld besaß, ihm zuzuhören, stundenlang mit seinen Anschauungen peinigte, bis er von der Gesellschaft, die sich im Grunde sehr wenig aus Religion macht, aber vor allem nicht gelangweilt werden mag, schließlich ganz gemieden wurde.

Aber nun will ich wieder zu unseren Erzieherinnen zurückkehren. Zuerst erinnere ich mich an eine Schottin, eine etwas schroffe und furchterregende Dame, die Miss MacCormick hieß. Glücklicherweise (oder vielleicht unglücklicherweise) stand ich nur sehr kurze Zeit unter ihrem régime. Sie gehörte der alten Schule an; ihre Erziehungsmittel fingen mit der Rückseite einer Haarbürste an und gingen bis zu einem Rohrstock. Ich habe deutliche Erinnerungen an die erstgenannte Form der Bestrafung, aber während ihrer Regierungszeit war ich noch zu klein, um persönliche Erfahrungen über die zweite zu machen. Meine beiden älteren Brüder hingegen genossen mehrere Jahre lang den vollen Segen ihres spartanischen Systems, natürlich ohne daß meine Mutter eine Ahnung davon hatte. Es hat ihnen aber sicher nichts geschadet, und da sie beide Miss MacCormick abgöttisch liebten, glaube ich kaum, daß sie sie jemals »verraten« haben. Ihre Strenge, die selbstverständlich allen Dienstboten im Hause kein Geheimnis war, führte schließlich doch zu einem Krach, und Miss MacCormick wurde das Opfer der immer weiter vordringenden Flut der Humanität, die die Moral der aufwachsenden Generation allmählich untergräbt. Sie ging also, nicht unbeweint von ihren jungen »Opfern«.

Andere Erzieherinnen folgten, und ich kann mich besonders lebhaft an eine Miss Smelt erinnern, die ich anbetete und auf deren Schoß ich saß, während sie mir die wunderbarsten Märchen erzählte, die sie Tage hindurch in Fortsetzungen weiterspann. Ich entsinne mich auch der armen Miss Holland, die eine entschieden pessimistische Lebensanschauung besaß und unsere Dummheiten immer als persönliche Beleidigungen auffaßte. In mancher Hinsicht müssen wir tatsächlich keine leicht zu erziehenden Kinder gewesen sein, denn trotz unserer Sentimentalitäten, unseren »Darlings« und unseren leicht vergossenen Tränen waren wir entschieden sehr übermütige und zuweilen unbändige Jungen. Eine Zeit lang hatten wir eine Französin, eine Mademoiselle de Soubeiran, und dann kann ich mich deutlich an eine Miss Humphrey erinnern, die ich innig liebte. Auch an unsere liebe Lizzie denke ich noch so manchmal, die Jungfer meiner Mutter war und die treueste, gütigste Seele, die jemals gelebt hat. Selbstverständlich gedenke ich ihrer und auch ihrer Schwester Ruthie in meinen Gebeten. Einer der großen Vorzüge des katholischen Glaubens ist der, daß man einen lieben Verstorbenen für immer in sein Gebet einschließen kann.

In diese Zeit gehört auch die Episode mit meinem jüngeren Bruder Sholto, der mit fünf Jahren aus irgendeinem Grund allein mit einer besonders dazu engagierten Erzieherin einige Wochen in unserem Landhaus gelassen wurde. Als meine Mutter zurückkehrte, erklärte diese Dame – ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sie hieß –, daß sie sofort das Haus verlassen möchte. Meine Mutter fragte sie natürlich nach dem Grund der Kündigung, und die Erzieherin antwortete mit toternster Miene, daß es ihr unmöglich sei, noch eine Sekunde länger im Hause zu bleiben, weil der junge Lord sie eine Lügnerin genannt hätte!

Wie unser lieber alter Joe Graham, der Jägerbursche meines Großvaters und Vaters, mir einmal viele Jahre später (als ich ihn in seinem kleinen Häuschen in Cummertrees besuchte, und er mich sofort erkannte, weil ich »meines Vaters Lächeln hätte«) sagte: »das waren die guten alten Zeiten.«


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