Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Kapitel – Prozesse

Da ich jetzt von dem Verleumdungsprozeß Ransome spreche, der im Jahre 1913 in der King's Bench Division zur Verhandlung kam, will ich hier eine Stelle aus dem Brief zitieren, den ich in Nizza im Jahre 1923 an Frank Harris auf seine Bitte schrieb und der dem »Neuen Vorwort« zu seinem Buch »Oscar Wilde, eine Lebensbeichte« einverleibt werden sollte. Dieses »Neue Vorwort« wurde von dem Fortune-Press-Verlag in London im selben Jahre veröffentlicht, und eine zweite Auflage davon ist kürzlich erschienen. Ich zitiere hier nur den Teil, der sich auf Robert Ross und den Ransome-Prozeß bezieht, und werde mich dann mit dem Zeitpunkt meines Lebens beschäftigen, den ich in diesen Memoiren gerade erreicht hatte, nämlich meine Oxforder Zeit und meine erste Begegnung mit Oscar Wilde. Die Stelle des Briefes lautete:

»Jetzt komme ich zur Frage Robert Ross. Wenn ich anfange, über ihn zu schreiben, muß ich an einen Ausspruch des Apostels Paulus denken: ›das Geheimnis der Bosheit‹. Weshalb er sich so schlecht benahm und was ihn dazu veranlaßte, mich derartig zu hassen und solche teuflische Raffiniertheit anzuwenden, um meinen Ruf zu vernichten, ahne ich nicht. Gerade dies Unverständliche, Niederträchtige seiner Handlungsweise erschwerte meine Verteidigung so sehr. Die meisten Leute vermochten einfach nicht zu glauben, daß es einen Menschen gäbe, der einer solchen Schurkerei und Heuchelei fähig sei. Ich kann also nichts weiter tun, als die wichtigsten Tatsachen aufzählen, für deren Wahrheit nicht mein Wort, sondern das unwiderlegbare Zeugnis öffentlich bekannter Geschehnisse bürgt. Als Oscar Wilde in Paris starb, war ich in Schottland und kam erst zwei Tage nach seinem Tode in Paris an, gerade rechtzeitig, um an der Beerdigung teilzunehmen, die ich bezahlte. Ross, den ich damals für meinen Freund hielt, war bei Wilde, als er starb, und benachrichtigte mich telegraphisch von dessen Ableben. Während Wilde tot dalag, und ehe ich in Paris ankam, durchstöberte Ross Wildes Briefe und Manuskripte. Darunter fand er eine Menge meiner Briefe an Wilde. Diese nahm er einfach an sich, ohne mir ein Wort darüber zu sagen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, daß er diese Briefe gefunden und gestohlen hatte. Ich nehme an, daß selbst jene sonderbar irregeleiteten Menschen, die angeblich in Ross ein ›Vorbild treuer Freundschaft‹ sahen und ihm im Jahre 1914, als ich ihn verklagte, ein Leumundszeugnis über seinen untadelhaften Charakter ausstellten, zugeben werden, daß es eine schlechte, unehrenhafte und schändliche Handlung ist, Briefe eines Freundes an einen anderen Freund zu stehlen oder sie sich anzueignen, sie heimlich aufzubewahren und sie schließlich als Belastungsmaterial gegen diesen besagten Freund vor Gericht zu verwenden. Daß Ross dies getan hat, steht unleugbar fest. Er nahm die Briefe, und seine Testamentsvollstrecker oder Erben haben sie noch heute in ihrem Besitz. Wie viele Briefe er fand und wie viele er vernichtete, weiß ich nicht. Als die Verhandlungen im Ransome-Prozeß begannen, wurden einige dieser Briefe bei der Beweisaufnahme von Sir James Campbell, Ransomes Verteidiger, auf Ross' Veranlassung verlesen. Gerade jene Briefe waren, wie ich damals und seitdem wiederholt behauptet habe, Ergüsse, über die ich mich schäme. Das unerwartete Hervorholen dieser Schriftstücke, fünfzehn Jahre nachdem ich sie geschrieben hatte, brachte mich derartig aus der Fassung, daß ich den Prozeß verlor. Mein Verteidiger, Comyns Carr, der mich bei vier anderen Prozessen, die ich alle gewann, vertrat, sagte mir einige Jahre später, er könne es nicht begreifen, wieso ich damals den Ransome-Prozeß verlor. Er sagte: ›Hätte man das ganze Beweismaterial den Geschworenen richtig unterbreitet, hätten Sie den Prozeß nicht verlieren können.‹ Ich habe ihn aber doch verloren, weil mein Verteidiger und langjähriger Freund Cecil Hayes, wie er als erster zugeben würde, gegen die allerersten Verteidiger Englands ankämpfen mußte. Hätte Cecil Hayes schon die Erfahrungen gehabt, die er später gewann, wäre es vielleicht anders gekommen. Der Richter, der das Urteil zu sprechen hatte, war während der ganzen Verhandlung mein erbitterter Gegner, und ich war leider durch ein Versprechen an Cecil Hayes gebunden, den Richter, wenn er mich auch noch so sehr reizte, unter keinen Umständen anzugreifen. Daher kam es, daß ich wie ein stummes Lamm, das man zur Schlachtbank führt, alles über mich ergehen lassen mußte. Ich zeigte zwar meine Scheckbücher vor und bewies, daß ich Wilde in dem einen Jahr zwischen meines Vaters und seinem Tod dreihundertneunzig Pfund in Schecks gegeben hatte. Außerdem bewies ich durch einwandfreie Belege, daß er erstens viel bares Geld von mir bekommen hatte, abgesehen von den zweihundert Pfund, die ich ihm gab, als ich ihn in meiner Villa in Neapel allein zurückließ. Diese letztere Summe hatte mir meine Mutter durch More Adey gesandt, den ich als Zeugen dafür vorladen ließ. Trotzdem schrieb Wilde in jenem schändlichen Brief an Ross, den Sie auf Ross' Veranlassung auf Seite 406 Ihres Buches veröffentlicht haben, daß ich ihn völlig mittellos in Neapel zurückgelassen hätte, obgleich er, Wilde, zweihundert Pfund von mir in der Tasche hatte, was Ross sehr wohl wußte, da er damals eine Wohnung mit More Adey teilte. Doch diese Beweise nützten mir, wie gesagt, nichts; ich verlor den Prozeß. Schuld daran war der nachteilige Eindruck, den jene von Ross gestohlenen und so viele Jahre hindurch heimlich aufbewahrten Briefe gegen mich hervorriefen.

Im selben Prozeß wurde der ›unveröffentlichte Teil‹ des De Profundis als Belastungsmaterial gegen mich benutzt. Über die Entstehung dieses Manuskriptes kann Ihnen Ross selbst am besten Aufklärung geben. Sein Vorwort zur ersten Auflage des De Profundis, das im Jahre 1905 veröffentlicht wurde, und über welches ich im selben Jahre in Ihrer Zeitschrift ›The Candid Friend‹ eine Kritik schrieb, gibt Ihnen Aufschluß darüber. Natürlich ahnte ich damals nicht, daß es sich hier um einen an mich gerichteten Brief Oscar Wildes handelte. Ross sagt in seinem Vorwort, daß Wilde ihm das Manuskript am Tage, an dem er das Gefängnis verließ, überreicht hätte. Weder er noch Wilde haben jemals ein Wort zu mir darüber gesagt. Erst im Jahre 1912, als mir eine Abschrift des ganzen Manuskriptes (der ›unveröffentlichte Teil‹ miteinbegriffen) von den Anwälten Lewis & Lewis geschickt wurde, weil es zu den ›Wahrheitsbeweisen‹ Ransomes gehörte, erfuhr ich von dessen Existenz.

Um diesen unerhörten Beweis der kaltblütigsten, boshaftesten Niedertracht, Heuchelei und Verlogenheit zu kennzeichnen, fehlen mir die Worte. Es ist für mich einfach unfaßlich, daß es überhaupt jemand gibt, der auf solch unglaublichen Schwindel hereinfallen kann. Da ich Sie schon überzeugt habe, daß fast jedes Wort darin eine Lüge oder ein böswilliges Verdrehen der Wahrheit ist, und da Sie ferner selbst behaupten, Sie hätten immer sehr wenig davon gehalten und wären niemals ›darauf hereingefallen‹, wenn Ross es nicht mit seinen Lügen und Schwindeleien bekräftigt hätte, brauche ich wohl jetzt keine Worte mehr darüber zu verlieren. Die Briefe Wildes an mich, die er in Berneval nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis schrieb, und die in Amerika von William Andrews Clarke veröffentlicht worden sind, beweisen schon am allerdeutlichsten, welches Unrecht er mir durch seinen Angriff in De Profundis antut. Überdies habe ich ausführlich auf seine größtenteils lächerlichen Behauptungen in meinem Buch ›Oscar Wilde und Ich‹ geantwortet.

Nehmen Sie nur folgendes als Beispiel von Wildes böswilligem Verdrehen der Wahrheit. Er sagt in De Profundis:

›Ich übertreibe nicht, sondern ich spreche die volle Wahrheit, wenn ich behaupte, daß ich während der ganzen Zeit, die wir zusammen verbrachten, keine einzige Zeile dichtete. Ob wir in Torquay, Goring, London, Florenz oder in irgendeinem Ort weilten, war mein Leben, solange Du an meiner Seite warst, vollkommen unfruchtbar und schaffensarm. Und mit einigen kurzen Unterbrechungen warst Du bedauerlicherweise stets an meiner Seite.‹

Nun, dagegen kann ich nur sagen, was ich bereits in meinem Buch ›Oscar Wilde und Ich‹ erklärt habe, daß Oscar Wilde das ganze Stück ›Eine unverstandene Frau‹ plante und niederschrieb, während wir zusammen in Lady Mount Temples Haus in Babbacombe, Torquay, wohnten (Lady Mount Temple hatte ihm ihr Haus zur Verfügung gestellt, und ungefähr acht Wochen lang leistete ich ihm Gesellschaft, zusammen mit meinem Lehrer, Mr. Dodgson Campbell, der jetzt am Britischen Museum angestellt ist); ferner kann ich beweisen, daß Oscar Wilde sein Stück ›Bunbury‹ von Anfang bis zu Ende schrieb, während ich bei ihm in Worthing wohnte, und ›Ein idealer Gatte‹ teils in Goring, teils in London verfaßte, in einer Wohnung auf dem St. James-Place, in der ich ihn täglich besuchte; die endgültige Fassung der Zuchthausballade schrieb er ebenfalls, während ich bei ihm war, und zwar als er in meiner Villa in Neapel wohnte. Selbst De Profundis ist ein an mich gerichteter Brief! In seinem Brief aus Berneval, den er mir schrieb, kurz ehe er zu mir nach Neapel kam, und der mit den Worten beginnt: ›Mein geliebter Junge‹, sagte er: ›Ich bin davon durchdrungen, daß meine einzige Hoffnung, Schönes in der Kunst schaffen zu können, von Dir abhängt, denn nur wenn ich bei Dir bin, kann ich überhaupt etwas leisten ... früher war es nicht so (sic), aber jetzt ist es anders ...‹

Der ganze De Profundis-Brief ist eine einzige Kette von Lügen. Oscar Wilde hat Ihnen ja selbst gesagt, daß er im Gefängnis an Wahnvorstellungen litt. Er scheint diese Wahnvorstellungen dem Papier anvertraut zu haben. Das Ganze ist mir einfach unfaßlich. Er denkt sich die unmöglichsten Romane aus: ›Ein elf Seiten langes Telegramm‹, das ich an ihn gesandt haben soll. Rein erdichtete Szenen bei Voisin und Paillard. Einen grotesken Bericht von einem Streit, den wir in Brighton einmal hatten, den wir aber beide (so dachte ich wenigstens) acht Tage darauf vollkommen vergessen hatten; meine angeblichen Selbstmorddrohungen und wilde Verzweiflung, als ich getrennt von ihm in Ägypten war, wo ich aber in Wirklichkeit drei Monate als Gast von Lord und Lady Cromer eine sehr vergnügte Zeit verbrachte, wie Reggie Turner und E. F. Benson, die mich dort trafen und zusammen mit mir eine Nilfahrt machten, bestätigen könnten. Seine unerhörten Lügen über das Geld, das ich ihm, wie er beteuert, abgenommen hätte, Behauptungen, die er nicht durch einen einzigen Scheck oder eine einzige Eintragung in sein Bankbuch bestätigen könnte. Der ganze Brief ist nichts weiter als das Rasen eines Wahnsinnigen, eines Mannes, der, von ohnmächtiger Wut und Bosheit getrieben, den einzigen Wunsch hatte, unter allen Umständen dem Freund zu schaden, den er einmal zu lieben vorgegeben, und mit dem er sofort, als er die Gefängnisstrafe abgebüßt hatte, seine früheren freundschaftlichen Beziehungen wieder aufnahm.

Ich will jetzt zu den Geschehnissen übergehen, die auf den vernichtenden Ausgang des Ransome-Prozesses folgten. Meine Frau verließ mich, mein einziges Kind wurde mir genommen, mein Heim zerstört und ich gesellschaftlich und finanziell ruiniert. Ich wußte sofort, daß der Urheber dieser ganzen Katastrophe Robert Ross sei. Ebenso genau wußte ich (und nicht nur ich, sondern buchstäblich tausend andere in London), daß Ross im Privatleben genau dasselbe trieb wie Oscar Wilde. Der Unterschied zwischen Ross und mir bestand darin, daß ich als junger zwanzigjähriger Mensch unter den Einfluß von Oscar Wilde und Konsorten geraten war, aber seitdem schon lange (damals waren es über zwölf Jahre) dem ganzen Treiben den Rücken gekehrt hatte. Ich hatte ein knappes Jahr nach Wildes Tod geheiratet und führte ein glückliches, normales, gesundes Leben mit Weib und Kind. Ross hingegen verfiel immer mehr dem Bann des Lasters, das Oscar Wildes Fluch geworden war. Ross hatte die traurige Erbschaft von Oscar Wilde angetreten. Er war der Hohepriester aller Päderasten Londons geworden, und dieser selbe Mann wurde der ganzen Welt als der treue, aufopfernde Freund Wildes hingestellt (obgleich er durch diese Leidenschaft, der Wilde huldigte, ein Vermögen zusammengerafft hatte), als der edle, selbstlose Freund, der reine, der makellose Mensch im Gegensatz zu dem verkommenen, gottlosen Alfred Douglas, der Oscar Wilde ›ruiniert‹ und ›verlassen‹ hatte. Das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte, und am Tage nach der Urteilsverkündung im Prozeß Ransome schwor ich, nicht eher zu ruhen, als bis ich Ross entlarvt hatte.

Ich will diesen Brief nicht unnötig in die Länge ziehen und nur noch die Hauptsachen erwähnen. Ich habe zwei Jahre gebraucht, ehe ich genügend Beweismaterial gesammelt hatte, um Ross zur Rechenschaft ziehen zu können. Wie ich es ohne Geld, fast ohne einen einzigen mir freundlich gesinnten Menschen auf der ganzen Welt, meine Mutter ausgenommen, fertig gebracht habe, weiß ich jetzt selber nicht; es kommt mir wie ein Wunder vor.

Ich wandte dieselbe Methode an wie mein Vater. Das heißt, ich beschimpfte Ross öffentlich und zwang ihn, eine Verleumdungsklage gegen mich anzustrengen. Bei ihm waren eine ganze Menge Schmähungen mehr nötig als damals bei Wilde. Ich begann damit, daß ich Ross in einem an den Richter Darling gerichteten Brief beschimpfte. Darling verlas den Brief vor dem ganzen Gerichtshof und überreichte ihn dann Ross' Verteidiger. Ohne Zweifel dachte er, daß Ross mich sofort wegen Verleumdung verklagen würde. Aber Ross nahm alles, was ich über ihn gesagt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, hin. Erst als ich die gleichen Beschimpfungen mehrere Male in Briefen an seine Freunde, Mr. und Mrs. Asquith, wiederholt hatte und zwei Schmähschriften desselben Inhaltes hatte drucken und durch das ganze Land verbreiten lassen, gelang es mir, Ross so weit zu bekommen, daß er Schritte gegen mich unternahm. Mein Vater hatte Wilde beschuldigt, daß er ›sich als Päderast aufspielte‹. Ich hingegen benutzte folgende vornehme Ausdrücke, als ich Ross verunglimpfte: ›Ein unerhört feiger Hund‹, ›ein dreckiger bougre‹, ein ›notorischer Päderast‹, ›ein gewohnheitsmäßiger Verführer von Knaben‹ und ›ein Erpresser‹.

Ich wurde verhaftet und, weil man eine Kaution abgelehnt hatte, fünf Tage im Brixtongefängnis festgehalten. Ich sagte, ich könnte Wahrheitsbeweise antreten, und als ich schließlich gegen Kaution aus der Haft entlassen wurde, blieben mir nur fünf Wochen Zeit, um genügend Beweismaterial aufzutreiben und meine Beschuldigungen zu rechtfertigen. Wenn mir dies nicht gelang, so konnte ich mich auf eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten bis zu zwei Jahren gefaßt machen! Ich hatte noch gar keine Beweise, persönliche Erfahrung ausgenommen, die auf der Tatsache beruhte, daß Ross niemals den geringsten Versuch machte, seine Neigungen zu verheimlichen. Im Gegenteil, er prahlte öffentlich, daß er immer so gelebt habe und weiter so leben werde.

Dies jedoch allein konnte mir nicht oder nur sehr wenig nützen und als Wahrheitsbeweis kaum gelten. Es würde zu lange dauern, wenn ich Ihnen jetzt sagte, wie ich zu meinem Beweismaterial kam. Ich bin fest überzeugt, daß der Himmel mir dabei half, den ich in meiner großen Not um Hilfe und Rettung angefleht hatte. Ungefähr acht Tage vor Beginn des Prozesses, und als ich schon fast alle Hoffnung aufgegeben hatte, fiel mir buchstäblich der Beweis, den ich brauchte, in den Schoß. Zwei Tage darauf hatte ich mit Hilfe meines Anwaltes Edward Bell die stattliche Zahl von dreizehn bis vierzehn Zeugen zusammen, und mein Verteidiger konnte sein Plädoyer vorbereiten.

Die Verhandlungen dauerten acht Tage und fanden im Old Bailey statt. Von Anfang an hatte ich die Geschworenen auf meiner Seite. Nachdem Sir Ernest Wild (jetzt der höchste Justizbeamte Londons) seine Eröffnungsrede gehalten hatte, in der er mich in so schwarzen Farben wie nur möglich malte, begann die Beweisaufnahme. Das Kreuzverhör, das Comyns Carr mit Ross vornahm, war mindestens so sensationell wie das Carsons damals bei Wilde. Als Comyns Carr erst zur Hälfte fertig war, hatte ich den Prozeß so gut wie gewonnen. Der Obmann der Geschworenen sagte mir nachträglich, daß er und fast alle seine Kollegen die Verhandlung bereits nach dem Verhör von Ross abbrechen und das Urteil zu meinen Gunsten aussprechen wollten, aber einer unter ihnen (derselbe, der späterhin die Uneinigkeit unter den Geschworenen herbeiführte) wollte nichts davon wissen. Darum wurde die Verhandlung fortgesetzt. Ich wurde stundenlang von Sir Wild vernommen, und meine gestohlenen Briefe wurden wieder hervorgeholt. Doch diesmal machten sie keinen Eindruck mehr. Sie sind seitdem noch zweimal als Belastungsmaterial benutzt worden, einmal im Pemberton-Bau-Prozeß, den ich gewann, und das letztemal in einem Prozeß gegen die ›Evening News‹, die ich im Jahre 1921 wegen Verleumdung verklagte, weil sie behauptet hatten, ich hätte ›deutliche Zeichen der Degeneriertheit‹ gezeigt, nämlich während ich von Sir Douglas Hogg sechsundeinhalb Stunden vernommen und nicht nur freigesprochen wurde, sondern tausend Pfund Entschädigung erhielt. Außerdem haben damals die Geschworenen die Erklärung hinzugefügt, daß das beständige Hervorholen dieser Briefe eine Schande sei und sie mir entweder zurückerstattet oder vernichtet werden müßten.

Ross wurde von einem Zeugen nach dem anderen auf das schwerste belastet, und der Richter (Mr. Claridge), faßte das Ergebnis der Beweisaufnahme in einem für Ross vernichtenden, aber völlig gerechten Schlußwort zusammen.

Kurz, sämtliche Beschuldigungen, die ich gegen Ross erhoben hatte, und zwar alle mit ausdrücklicher Angabe der Namen der Opfer, der Daten und vollen Einzelheiten, habe ich als berechtigt und wahr beweisen können. Die Aussage des Inspektors West allein, der fünfundzwanzig Jahre Dienst in Scotland Yard und der berüchtigten Vine-Street versehen hatte, würde schon genügt haben, um meine Beschuldigungen zu rechtfertigen. Dieser Kriminalbeamte, der sich aus freien Stücken meldete und für mich Zeugnis ablegte, sagte unter Eid aus, daß er von seiner Tätigkeit in der Umgebung der Vine-Street (Piccadilly usw.) her, in der er nachts patrouillierte, Ross seit fünfzehn Jahren als gewohnheitsmäßigen Gefährten von Päderasten und männlichen Prostituierten kenne.

Trotzdem kamen die Geschworenen nach einer Beratung, die ungefähr drei Stunden gedauert hatte, mit der Erklärung zurück, daß sie zu keinem Urteil kommen könnten. Ich wurde gegen Kaution entlassen unter der Bedingung, daß ich bei dem neuen Verfahren wieder erscheine. Als ich das Gericht verließ, warteten neun Geschworene, der Obmann eingeschlossen, vor dem Gebäude auf mich. Sie drückten ihr tiefes Bedauern über das unbefriedigende Ergebnis aus und erklärten, es sei die Schuld des einen Mannes gewesen, der sich absolut geweigert hätte, für die Verurteilung von Ross zu stimmen. Sie schüttelten mir alle die Hand und beglückwünschten mich. Sie sagten mir noch, daß sie anfangs alle gegen mich gewesen wären, jetzt aber überzeugt seien, daß ich recht hätte, und sie fügten hinzu, daß sie sich ein ganz anderes Bild von mir gemacht hätten.

Fast alle Londoner Zeitungen übergingen diesen ganzen sensationellen Fall. Statt der unzähligen Spalten, die die Zeitungen seinerzeit mit dem Ransome-Prozeß gefüllt hatten, den ich verlor, waren jetzt nur eine armselige halbe Spalte oder einige nichtssagende Worte darüber zu lesen. Das Publikum wurde vollkommen im Dunkeln über das Vorgefallene gehalten, und Mr. Blumenfeld, der Herausgeber des ›Daily Express‹, sagte mir ganz naiv, als ich mich bei ihm beklagte, wie ich von seiner Zeitung behandelt worden sei, daß kein Vorurteil gegen mich bestehe, ›sondern‹, fügte er hinzu, ›ich will Ihnen die Wahrheit sagen: ich habe nicht die geringste Ahnung, wie oder warum Sie freigesprochen wurden, oder um was es sich überhaupt gehandelt hat!‹

Dabei hätte jede Zeitung, wenn sie gewollt hätte, den wörtlichen Bericht über diesen vielleicht sensationellsten Prozeß, der jemals im Old Bailey verhandelt worden ist, sich beschaffen können. Die Behandlung, die ich mir diesmal gefallen lassen mußte, vernichtete den letzten Rest Glauben an des Engländers Sinn für ›fair play‹ in mir. Doch selbst die Presse konnte Ross nicht retten. Sein Verteidiger schlug ein nolle prosequi vor, nach welchem jede Partei, wenn ich meine Einwilligung gäbe, ihre eigenen Kosten tragen sollte. Ich lehnte es jedoch ab, darauf einzugehen und äußerte den festen Entschluß, bei dem neuen Verfahren zu erscheinen und mich wieder vernehmen zu lassen; ich fügte hinzu, daß ich inzwischen noch mehr Belastungsmaterial gegen Ross gesammelt hätte. Das gab Ross den Rest. Sofort gab er klein bei. Sein Verteidiger machte mir jetzt folgenden Vorschlag: wenn ich meine Zustimmung zu einem nolle prosequi geben würde – das heißt, die Verfolgung einstellte –, würden sich Lewis & Lewis in Ross' Namen bereit erklären, alle Gerichtskosten zu tragen, sowie meine in dieser Sache schon gehabten Unkosten von sechshundert Pfund zurückerstatten. Dieses Angebot kam mir wie ein Geschenk des Himmels, denn ich stand so ziemlich vor dem Bankrott, und ich nahm es mit Freuden an, da mein angetretener Wahrheitsbeweis vom Zentralgerichtshof voll anerkannt worden war. Die Akten darüber liegen noch zur Einsicht dort und stehen jedem, der sich darüber vergewissern möchte, zur Verfügung.

Andererseits rettete dieses nolle prosequi Ross höchstwahrscheinlich vor einem Strafverfahren, das fast sicher gegen ihn eingeleitet worden wäre, wenn die Geschworenen ihn für schuldig erklärt hätten.

Im übrigen machte Mr. Forrest Fulton, einer der jüngeren Anwälte von Ross, der den Verhandlungen beigewohnt hatte, Mr. Bell, meinen Anwalt, darauf aufmerksam, daß Ross' Antrag auf ein nolle prosequi einen noch größeren Sieg für mich bedeutete als dessen Verurteilung, weil das Beantragen eines nolle prosequi unter solchen Umständen einem Schuldbekenntnis gleichkäme.

Ich habe nur noch folgendes hinzuzufügen, ehe ich hoffentlich für immer mit diesem widerlichen Thema fertig bin: Ungefähr drei Monate nach der Veröffentlichung des obenerwähnten Urteils wurde Ross ein Ehrengeschenk von siebenhundert Pfund gemacht. Außerdem stellte man ihm ein von zahlreichen prominenten Männern unterschriebenes Leumundszeugnis aus. Dieses von Sir Edmund Gosse entworfene Schriftstück war eine Kundgebung der größten Verehrung und Bewunderung, die man für Ross als ›treuen Freund‹ und ›hervorragenden Schriftsteller‹ empfand. Gosse zusammen mit H. G. Wells waren bei der Gerichtsverhandlung für den einwandfreien Charakter Ross' eingetreten. (Sie erklärten beide zur grenzenlosen Verwunderung des Richters und der Geschworenen, daß sie Ross seit Jahren kannten und verehrten, und daß ihrer Ansicht nach kein Mensch ein so reines, keusches Gemüt wie er besitze!)

Dieses Zeugnis war von ungefähr dreihundertfünfzig Menschen unterschrieben worden, unter anderen von dem Premierminister Asquith und seiner Frau, einem Dutzend Lords, einem Bischof der Kirche Englands und einer großen Anzahl mehr oder minder prominenter Persönlichkeiten aus literarischen, künstlerischen und den höchsten gesellschaftlichen Kreisen.

Nach der Gerichtsverhandlung mußte Ross zwar von dem ihm durch Asquith verliehenen, sehr lukrativen Posten als Bildertaxator bei der Handelskammer zurücktreten, der ihm ein jährliches Einkommen von fünfzehnhundert Pfund eingebracht hatte, aber er wurde weder in Acht und Bann getan, noch hatte seine gesellschaftliche Stellung irgendwie gelitten. Asquiths empfingen ihn nach wie vor, und ein Jahr später wurde ihm eine andere ehrenvolle und lukrative Stellung bei der Regierung angeboten. Als er starb, widmete ihm die Times einen spaltenlangen Nachruf, in dem er als das Vorbild eines edlen und vornehmen englischen Gentleman geschildert wurde.

Weitere Bemerkungen hierzu sind überflüssig. Ich habe nie die Stellungnahme derjenigen begreifen können, die Ross zu einem Helden machten, ebensowenig wie ich seine Schurkereien und seine unerhörte Niedertracht verstanden habe. Es steht jedenfalls fest, daß ich im Prozeß gegen Ross nicht nur bewies, daß er dieselben Laster wie Wilde hatte, sondern auch ein Erpresser war. Für die Wahrheit beider Behauptungen konnte ich einwandfreie Beweise erbringen. Wenn Asquiths, Gosse und Wells und deren Freunde solche Dinge billigen, geht es mich natürlich nichts an, aber die ganze Angelegenheit ist jedenfalls sehr sonderbar. Ich habe es schon lange aufgegeben, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, und ich muß weitere Diskussionen und Nachforschungen darüber Ihnen und Ihren Lesern überlassen, wenn Sie beschließen, diesen Brief in der neubearbeiteten Ausgabe Ihres Buches ›Oscar Wilde, eine Lebensbeichte‹ zu veröffentlichen.«


 << zurück weiter >>