F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Epilog

Letzte Erinnerungen

Es war Mitte Juni. Ein heißer, schwüler Tag. In der Stadt war es nicht auszuhalten: überall Staub, Kalkgeruch, Baugerüste, glühendes Pflaster, von üblen Ausdünstungen verpestete Luft . . . Aber da – o Freude! – donnerte es irgendwo in der Ferne; allmählich verdunkelte sich der Himmel; der Wind erhob sich und trieb ganze Wolken von Straßenstaub vor sich her. Einzelne dicke Regentropfen klatschten schwer auf die Erde nieder, und dann war es, als ob der ganze Himmel berste, und ein wahrer Strom von Wasser ergoß sich über die Stadt. Als nach einer halben Stunde wieder die Sonne schien, öffnete ich das Fenster meiner Dachstube und sog begierig die frische Luft in meine müde Brust tief ein. In meinem Freudenrausch wollte ich schon die Feder hinwerfen, meine ganze Arbeit und den Verleger selbst im Stich lassen und zu ›meinen Leuten‹ nach der Wassili-Insel laufen. Aber obgleich die Versuchung groß war, überwand ich sie doch und machte mich mit einer Art von Wut erneut an meine Schreiberei: ich mußte unter allen Umständen fertig werden! Der Verleger befahl, und sonst gab er mir kein Geld. Man erwartete mich allerdings dort auf der Wassili-Insel jetzt vergebens; aber dafür war ich dann am Abend frei, völlig frei, wie der Vogel in der Luft, und ich sagte mir, der heutige Abend werde mich für diese letzten zwei Tage und zwei Nächte entschädigen, in denen ich drei und einen halben Druckbogen geschrieben hatte.

Und nun war die Arbeit endlich fertig; ich warf die Feder hin und erhob mich; ich fühlte einen Schmerz im Rücken und in der Brust und eine Benommenheit im Kopf. Ich wußte, daß in diesem Augenblick mein Nervensystem aufs äußerste angegriffen war, und glaubte noch die letzten Worte zu hören, die mein alter Arzt zu mir gesagt hatte: »Nein, solche Anstrengungen kann auch die beste Konstitution nicht aushalten; das ist ein Ding der Unmöglichkeit!« Indessen, vorläufig war es noch möglich! Der Kopf war mir schwindlig, und ich konnte kaum auf den Beinen stehen; aber Freude, eine grenzenlose Freude erfüllte mein Herz. Meine Novelle war vollständig fertig, und ich sagte mir, daß der Verleger, obwohl ich ihm viel schuldete, mir doch wenigstens etwas geben werde, wenn er die Beute in seinen Händen sehe, wenigstens fünfzig Rubel, und ich hatte seit langer, langer Zeit nicht so viel Geld besessen. Freiheit und Geld! . . . Voller Entzücken griff ich nach meinem Hut, nahm das Manuskript unter den Arm und lief Hals über Kopf, um unseren verehrten Alexander Petrowitsch noch zu Hause zu finden.

Ich traf ihn noch an, wiewohl er eben im Fortgehen war. Er hatte seinerseits soeben eine nicht literarische, aber dafür sehr profitable Spekulation zum Abschluß gebracht, begleitete einen brünetten kleinen Juden, mit dem er ganze zwei Stunden lang in seinem Arbeitszimmer gesessen hatte, endlich hinaus, reichte mir nun höflich die Hand und erkundigte sich mit seiner weichen, liebenswürdigen Baßstimme nach meinem Befinden. Er war ein herzensguter Mensch, und ich war ihm, ohne Scherz gesagt, sehr zu Dank verpflichtet. Was konnte er dafür, daß er in der Literatur sein ganzes Leben lang ›nur‹ Verleger gewesen war? Er hatte begriffen, daß die Literatur einen Verleger nötig hatte, und er hatte das sehr zur rechten Zeit begriffen; dafür sei ihm Ehre und Ruhm – natürlich von der Art, wie es einem Verleger zukommt.

Er hörte mit einem Lächeln der Befriedigung, daß die Novelle fertig und die nächste Nummer seiner Zeitschrift auf diese Art in ihrem Hauptbestandteil sichergestellt sei, sprach seine Verwunderung darüber aus, wie ich es angefangen hätte, etwas rechtzeitig fertigzustellen, und machte dabei einige sehr liebenswürdige Witze. Darauf ging er an seinen eisernen Geldschrank, um mir die versprochenen fünfzig Rubel zu geben, reichte mir unterdessen ein dickes Heft eines anderen, gegnerischen Journals hin und machte mich auf einige Zeilen in der Abteilung für Kritik aufmerksam, wo auch über meine letzte Novelle ein paar Worte gesagt waren.

Ich sah hinein: es war ein Artikel des ›Merkers‹. Ich wurde darin nicht eigentlich gescholten, aber auch nicht eigentlich gelobt. Aber der ›Merker‹ sagte unter anderem, meine Schriften pflegten ›nach Schweiß zu riechen‹, das heißt, ich vergösse bei ihrer Abfassung so viel Schweiß, mühte mich so lange ab, nähme so viele Umarbeitungen und Überarbeitungen vor, daß das abstoßend wirke.

Der Verleger und ich mußten beide laut lachen. Ich teilte ihm mit, daß meine vorige Novelle in zwei Nächten verfaßt sei und daß ich jetzt in zwei Tagen und zwei Nächten drei und einen halben Druckbogen geschrieben hätte; wenn das der ›Merker‹ wüßte, der mir übermäßige Sorgfalt und pedantische Langsamkeit beim Arbeiten zum Vorwurf machte!

»Aber an Ihrem hastigen Arbeiten sind Sie doch selbst schuld, Iwan Petrowitsch. Warum trödeln Sie so lange, daß Sie zuletzt die Nächte hindurch arbeiten müssen?«

Alexander Petrowitsch war gewiß ein sehr liebenswürdiger Mensch, wiewohl er eine besondere Schwäche hatte: nämlich mit seinem literarischen Urteil gerade denjenigen gegenüber großzutun, von denen er selbst vermutete, daß sie ihn völlig durchschauten. Aber ich hatte keine Lust, mit ihm über Literatur zu disputieren, sondern nahm das Geld hin und griff nach meinem Hut. Alexander Petrowitsch beabsichtigte, nach den Inseln zu fahren, wo er eine Sommerwohnung hatte, und als er hörte, daß ich nach der Wassili-Insel wolle, bot er mir großmütig an, mich in seinem Wagen hinzubringen.

»Ich habe nämlich ein neues Wägelchen; haben Sie es noch nicht gesehen? Ein allerliebstes Ding!«

Wir gingen zur Haustür. Der Wagen war wirklich sehr hübsch, und Alexander Petrowitsch hatte in der ersten Zeit seines Besitzes eine außerordentliche Freude an ihm und empfand sogar das seelische Bedürfnis, seine Bekannten darin mitfahren zu lassen.

Während der Fahrt erging sich Alexander Petrowitsch wieder mehrmals in Betrachtungen über die moderne Literatur. Vor mir genierte er sich nicht und wiederholte mit der größten Seelenruhe verschiedene fremde Gedanken, die er neuerdings von dem einen oder dem anderen der Literaten gehört hatte, zu denen er Vertrauen hatte und deren Urteil er hochschätzte. Dabei begegnete es ihm manchmal, recht wunderliche Dinge hochzuschätzen. Es passierte ihm auch, daß er eine fremde Ansicht unrichtig wiedergab oder sie an eine falsche Stelle brachte, so daß Unsinn herauskam. Ich saß da, hörte schweigend zu und wunderte mich über die Mannigfaltigkeit und Launenhaftigkeit der menschlichen Leidenschaften. »Da ist nun ein Mensch«, dachte ich im stillen, »der weiter nichts tun sollte, als immer nur Geld zusammenzuscharren; aber nein, es verlangt ihn noch nach Ruhm, nach literarischem Ruhm, nach dem Ruhm eines guten Herausgebers und Kritikers.«

In diesem Augenblick bemühte er sich, mir eingehend einen literarischen Gedanken auseinanderzusetzen, den er drei Tage vorher von mir selbst gehört, dessen Richtigkeit er damals mir selbst gegenüber heftig bestritten hatte, den er aber jetzt für seinen eigenen ausgab. Aber dem guten Alexander Petrowitsch begegnete eine solche Vergeßlichkeit alle Augenblicke, und er war wegen dieser harmlosen Schwäche bei all seinen Bekannten berühmt. Wie vergnügt war er jetzt, wo er in seinem eigenen Wagen sich selbst reden hören konnte, wie zufrieden mit seinem Schicksal, wie großmütig! Er führte ein wissenschaftliches Gespräch über Literatur, und sogar seine weiche, freundliche Baßstimme bekam dabei einen wissenschaftlichen Klang. Allmählich ging er zu einer scharfen Kritik über und sprach seine naive skeptische Überzeugung aus, daß weder in unserer Literatur noch in irgendeiner anderen bei jemandem Ehrlichkeit und Bescheidenheit zu finden seien; es gäbe nur ein »Sich-gegenseitig-in-die-Fresse-Schlagen‹, besonders bei Beginn der Subskription. Ich dachte bei mir, daß Alexander Petrowitsch wohl auch geneigt sei, jeden ehrlichen, aufrichtigen Schriftsteller wegen dieser seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wenn nicht für einen kompletten Schafskopf, so doch mindestens für töricht zu halten. Selbstverständlich entsprang dieses Urteil unmittelbar der außerordentlichen Herzensreinheit Alexander Petrowitschs.

Aber ich hörte ihm nicht mehr zu. Auf der Wassili-Insel ließ er mich aussteigen, und ich lief zu unseren Leuten. Da war schon die Dreizehnte Linie, und da war ihr Haus. Als Anna Andrejewna mich erblickte, drohte sie mir mit dem Finger und gab mir durch Armbewegungen zu verstehen, daß ich keinen Lärm machen solle.

»Nelly ist eben eingeschlafen, das arme Kind!« flüsterte sie mir eilig zu. »Um Gottes willen, weck sie nicht auf! Gar zu schwach ist sie, die liebe Kleine! Wir sind in großer Sorge um sie. Der Arzt sagt, ihr Zustand sei vorläufig nicht bedenklich; aber aus dem ist ja nichts Gescheites herauszubekommen, aus deinem Arzt. Und schämst du dich denn gar nicht, Iwan Petrowitsch? Wir haben dich erwartet; zum Mittagessen haben wir dich erwartet . . . du hast dich ja zwei Tage lang nicht blicken lassen! . . .«

»Aber ich habe ja noch vorgestern gesagt, daß ich zwei Tage lang nicht kommen würde«, flüsterte ich Anna Andrejewna zu. »Ich mußte eine Arbeit fertigmachen . . .«

»Aber du hattest doch versprochen, heute zum Mittagessen zu kommen! Warum bist du denn nicht gekommen? Nelly ist expreß dazu aus dem Bett aufgestanden, das süße Engelchen; wir haben sie in einen bequemen Lehnstuhl gesetzt und sie zum Mittagessen ins Eßzimmer getragen. ›Ich will mit euch zusammen Wanja erwarten‹, sagte sie; aber wer nicht kam, war unser Wanja. Es ist ja bald sechs Uhr! Wo hast du dich denn herumgetrieben? Ja, ihr seid ein leichtsinniges Volk! Das vergebliche Warten hat sie so aufgeregt, daß ich gar nicht mehr wußte, wie ich sie beruhigen sollte . . . zum Glück ist sie eingeschlafen, das liebe Herz. Und nun ist auch noch Nikolai Sergejewitsch in die Stadt gegangen (zum Tee wird er wieder zurück sein), und ich muß mich hier allein abquälen . . . Er bekommt eine Stelle, Iwan Petrowitsch; aber wenn ich bedenke, daß es in Perm ist, dann überläuft es mich ganz kalt . . .«

»Und wo ist Natascha?«

»Im Gärtchen, Wanjuscha, im Gärtchen! Geh zu ihr! . . . Mit der ist's auch nicht ganz richtig . . . ich weiß nicht, was ich davon denken soll . . . Ach, Iwan Petrowitsch, es ist mir recht schwer ums Herz! Sie versichert, daß sie heiter und zufrieden sei; aber ich glaube es ihr nicht . . . Geh doch zu ihr, Wanja, und sag mir dann heimlich, was sie hat! . . . Hörst du wohl?«

Aber ich hörte nicht mehr auf Anna Andrejewna, sondern lief in den Garten. Dieser Garten gehörte zum Haus; er war ungefähr fünfundzwanzig Schritte lang und ebenso breit und ganz voll Grün. Es standen darin drei hohe, alte, breitwipflige Bäume, einige junge Birken, ein paar Fliedersträucher und Geißblattsträucher; ein Winkel war mit Himbeergebüsch bestanden; auch zwei Erdbeerbeete waren da, und zwei schmale, gewundene Steige zogen sich in der Länge und in der Quere durch das Gärtchen hindurch. Der Alte war von diesem Gärtchen ganz entzückt und versicherte, es würden in ihm bald auch Pilze wachsen. Die Hauptsache war, daß Nelly dieses Gärtchen liebgewonnen hatte und oft im Lehnstuhl hinausgetragen wurde; Nelly aber war jetzt der Abgott des ganzen Hauses. Aber da war ja auch Natascha; sie kam mir freudig entgegen und reichte mir die Hand. Wie mager und blaß sie war! Auch sie hatte sich nur mit Mühe von einer Krankheit erholt.

»Bist du nun ganz fertig, Wanja?« fragte sie mich.

»Ganz und gar, ganz und gar! Nun bin ich für den ganzen Abend frei.«

»Nun, Gott sei Dank! Hast du auch nicht zu eilig geschrieben, zum Schaden der Sache?«

»Was ist zu machen? Übrigens schadet das nichts. Bei mir bildet sich infolge solcher angestrengten Arbeit ein besonderer Reizzustand der Nerven heraus; ich denke dann klarer und lebhafter und empfinde tiefer, und sogar mein Stil wird geschmeidiger, so daß gerade bei angespannter Arbeit etwas Besseres herauskommt. Es ist alles in Ordnung . . .«

»Ach, Wanja, Wanja!«

Ich hatte gemerkt, daß Natascha sich in der letzten Zeit außerordentlich für meine literarischen Erfolge und meinen Ruhm interessierte. Sie las alles, was ich im letzten Jahr hatte drucken lassen, noch einmal durch, erkundigte sich alle Augenblicke nach meinen weiteren Plänen, nahm eifrig Kenntnis von jeder Rezension, die über mich geschrieben wurde, ärgerte sich über einige derselben und wollte durchaus, daß ich in der Literatur eine hohe Stellung einnähme. Sie gab ihrem Wunsch so starken und energischen Ausdruck, daß ich über diese ihre Willensrichtung ganz verwundert war.

»Du wirst dich ausschreiben, Wanja«, sagte sie zu mir; »dadurch, daß du dir so Gewalt antust, wirst du dich ausschreiben; und außerdem wirst du deiner Gesundheit schaden. Da sieh einmal S. an; der schreibt alle zwei Jahre eine Novelle; und N. hat in zehn Jahren nur einen einzigen Roman geschrieben. Aber wie sorgsam ausgearbeitet und gefeilt sind dafür auch ihre Produkte! Da ist nicht die geringste Nachlässigkeit zu finden.«

»Ja, das mag sein; aber die befinden sich auch in gesicherter Lebensstellung und schreiben nicht für einen bestimmten Termin; ich dagegen bin ein Postklepper! Na, aber das ist alles dummes Zeug! Lassen wir es beiseite, Nataschenka! Nun, gibt es nichts Neues?«

»O doch, vieles. Erstens ein Brief von ihm.«

»Noch einer?«

»Ja, noch einer.«

Sie reichte mir einen Brief von Aljoscha. Es war schon der dritte nach der Trennung. Den ersten hatte er noch aus Moskau geschrieben, und zwar in einem Anfall von leidenschaftlicher Erregung. Er hatte ihr darin mitgeteilt, die Umstände hätten sich so gestaltet, daß es ihm schlechterdings unmöglich sei, von Moskau nach Petersburg zurückzukehren, wie das bei der Trennung in Aussicht genommen worden sei. In dem zweiten Brief hatte er sich beeilt, sie zu benachrichtigen, daß er nächstens bei uns eintreffen werde, um sich schleunigst mit Natascha trauen zu lassen; das sei beschlossene Sache, und keine Gewalt der Erde könne es hindern. Dabei aber ging aus dem ganzen Ton des Briefes hervor, daß er sich in Verzweiflung befand, daß fremde Einwirkungen ihn bereits vollständig überwunden hatten und daß er zu sich selbst kein Vertrauen mehr hatte. Er hatte darin unter anderem erwähnt, daß Katja seine Vorsehung sei; sie sei die einzige, die ihn tröste und aufrechterhalte. Mit großem Interesse entfaltete ich seinen jetzigen dritten Brief.

Er füllte zwei Briefbogen, war in abgerissenen Sätzen, unordentlich, hastig und unleserlich geschrieben und von Tintenflecken und Tränen entstellt. Am Anfang dieses Briefes sagte Aljoscha sich von Natascha los und bat sie, ihn zu vergessen. Er bemühte sich, zu beweisen, daß ihre Verbindung unmöglich sei; fremde, feindliche Einflüsse seien stärker als er; und schließlich sei es so auch das beste, da sie alle beide, er sowohl wie Natascha, unglücklich werden würden, weil sie nicht zueinander paßten. Aber er blieb nicht konsequent, ließ auf einmal all seine Erwägungen und Beweise außer acht und gestand, ohne die erste Hälfte seines Briefes zu zerreißen und wegzuwerfen, unmittelbar dahinter, daß er sich Natascha gegenüber eines Verbrechens schuldig gemacht habe, daß er ein verlorener Mensch sei und nicht die Kraft besitze, dem Willen seines Vaters zu widerstehen, der jetzt auf das Land gekommen sei. Er schrieb, er sei nicht imstande, seine Qualen zu schildern; dann gestand er unter anderem, er fühle sich vollkommen dazu befähigt, Natascha glücklich zu machen; darauf begann er auf einmal zu beweisen, daß sie durchaus zueinander paßten, widerlegte heftig und ingrimmig die Gegengründe seines Vaters, entwarf voller Verzweiflung ein Bild des glückseligen Lebens, das ihm und Natascha bevorstände, wenn sie sich heirateten, verfluchte sich wegen seiner Schwachmütigkeit und – sagte ihr für immer Lebewohl! Der Brief war augenscheinlich unter Qualen geschrieben; bei seiner Abfassung hatte er offenbar nicht aus, nicht ein gewußt; mir kamen beim Durchlesen die Tränen in die Augen. Natascha reichte mir noch einen anderen Brief von Katja. Dieser Brief war in ein und demselben Kuvert mit dem von Aljoscha gekommen, war aber besonders gesiegelt gewesen. Katja teilte ihr ziemlich kurz, in wenigen Zeilen, mit, daß Aljoscha in der Tat sehr traurig sei, viel weine und sich geradezu der Verzweiflung hingebe, ja sogar ein wenig krank sei; aber sie sei bei ihm, und er werde noch glücklich werden. Unter anderem bat Katja, Natascha möge nicht denken, daß Aljoscha sich so bald trösten könne und daß seine Traurigkeit nicht ernst sei. ›Er wird Sie niemals vergessen‹, fügte Katja hinzu; ›und er kann Sie auch schlechterdings niemals vergessen, weil er ein so gutes Herz hat; er liebt Sie grenzenlos und wird Sie immer lieben, und wenn er jemals aufhören sollte, Sie zu lieben, jemals aufhören sollte, bei der Erinnerung an Sie Schmerz zu empfinden, so würde ich selbst dafür sofort aufhören, ihn zu lieben . . .‹

Ich gab Natascha die beiden Briefe zurück: wir wechselten einen Blick miteinander; aber keiner von uns sagte ein Wort. So war es auch bei den ersten beiden Briefen gewesen, und überhaupt vermieden wir es jetzt wie auf Verabredung, über die Vergangenheit zu reden. Sie litt unsäglich; das sah ich; aber selbst mir gegenüber mochte sie sich nicht aussprechen. Nach der Rückkehr ins Elternhaus hatte sie drei Wochen lang an einem Nervenfieber krank gelegen und sich erst jetzt einigermaßen erholt. Wir redeten sogar wenig über die nahe bevorstehende Veränderung unseres Lebens, obgleich sie wußte, daß ihr Vater eine Stelle bekommen sollte und wir uns bald voneinander trennen mußten. Trotzdem war sie gegen mich so zärtlich und aufmerksam, interessierte sich in dieser ganzen Zeit so für alles, was mich betraf, und hörte mit so beharrlicher, gespannter Aufmerksamkeit alles an, was ich ihr auf ihr Verlangen von mir erzählte, daß mir das zuerst sogar peinlich war: ich hatte die Empfindung, als wolle sie mich für die Vergangenheit entschädigen. Aber diese peinliche Empfindung verschwand schnell: Ich erkannte, daß in ihr ein ganz anderes Gefühl lebendig war, daß sie mich einfach liebte, grenzenlos liebte, ohne mich nicht leben konnte und aus innerem Drang an allem, was mich betraf, Anteil nahm; und ich glaube, nie hat eine Schwester einen Bruder so warm geliebt, wie mich Natascha liebte. Ich wußte sehr wohl, daß der Gedanke an unsere bevorstehende Trennung sie schwer bedrückte und daß sie sich grämte; und sie wußte ebenfalls, daß ich nicht ohne sie leben konnte; aber wir redeten nicht davon, obwohl wir über die bevorstehenden Ereignisse eingehend miteinander sprachen . . .

Ich fragte nach Nikolai Sergejewitsch.

»Ich denke, er wird bald zurückkommen«, antwortete Natascha. »Er wollte zum Tee wieder hier sein.«

»Bemüht er sich denn immer noch wegen der Stelle?«

»Ja; übrigens ist es eigentlich schon sicher, daß er die Stelle bekommt; und ich glaube, er hatte heute gar keinen Anlaß, wegzugehen«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Er hätte es auch bis morgen lassen können.«

»Warum ist er denn dann fortgegangen?«

»Weil ich den Brief erhalten hatte . . .«

»Er ist um mich so ängstlich besorgt«, fügte Natascha nach einem kurzen Stillschweigen hinzu, »daß es mir geradezu peinlich ist, Wanja. Ich glaube, er träumt sogar nur von mir. Ich bin überzeugt, daß er keinen anderen Gedanken hat als den, wie ich mich befinde, wie ich lebe, woran ich jetzt denke. Jeder Kummer, den ich habe, findet in seinem Herzen einen Widerhall. Ich sehe ja, in wie ungeschickter Weise er manchmal versucht, sich Gewalt anzutun und eine Miene zu machen, als gräme er sich nicht um mich; ich sehe, wie er sich vergnügt stellt und sich Mühe gibt, zu lachen und uns zum Lachen zu bringen. Mama glaubt bei solchen Gelegenheiten auch nicht an sein Lachen, kann sich aber nicht beherrschen und fängt an zu seufzen . . . Sie ist gar zu ungeschickt . . . Eine aufrichtige Seele!« fügte sie lachend hinzu. »Siehst du, als ich nun heute die Briefe bekam, da hielt er sogleich für nötig wegzugehen, damit unsere Blicke sich nicht träfen . . . Ich liebe ihn mehr als mich selbst, mehr als alle Menschen in der Welt, Wanja«, fügte sie hinzu, indem sie den Kopf sinken ließ und mir die Hand drückte, »sogar mehr als dich.«

Wir gingen zweimal im Garten auf und ab, bevor sie wieder anfing weiterzusprechen.

»Heute war Masslobojew bei uns und gestern ebenfalls«, sagte sie.

»Ja, er ist in letzter Zeit recht oft zu euch gekommen.«

»Weißt du auch wohl, warum er herkommt? Mama glaubt an ihn, als ob er wer weiß was könnte. Sie denkt, er kenne all diese Dinge (na, ich meine die Gesetze und all so etwas), er kenne das alles so gut, daß er alles zu bewerkstelligen imstande sei. Was meinst du wohl, was ihr jetzt für ein Gedanke im Kopf herumgeht? Sie bedauert es im stillen sehr, daß ich nicht Fürstin geworden bin. Dieser Gedanke läßt ihr keine Ruhe, und wie es scheint, hat sie sich gegen Masslobojew darüber offen ausgesprochen. Mit dem Vater scheut sie sich davon zu reden; aber sie denkt, ob ihr Masslobojew nicht dabei irgendwie behilflich sein könne, ob es sich nicht auf gerichtlichem Wege erreichen lasse. Masslobojew widerspricht ihr anscheinend nicht, und sie setzte ihm jedesmal Wein vor«, fügte Natascha lächelnd hinzu.

»Das sieht der Schelmin ähnlich. Aber woher weißt du es denn?«

»Mama hat es mir ja selbst gesagt . . . durch Andeutungen . . .«

»Was macht Nelly? Wie geht es ihr?« fragte ich.

»Ich wundere mich sogar über dich, Wanja, daß du bis jetzt nicht nach ihr gefragt hast«, sagte Natascha vorwurfsvoll.

Nelly war in diesem Haus der Abgott aller. Natascha hatte eine außerordentliche Liebe zu ihr gefaßt, und Nelly hatte diese Liebe schließlich von ganzem Herzen erwidert. Das arme Kind! Sie hatte nicht erwartet, daß sie jemals solche Menschen, soviel Liebe finden werde, und ich sah mit großer Freude, daß ihr verbittertes Herz weich wurde und ihre Seele sich uns allen erschloß. Mit einer krankhaften Glut der Empfindung erwiderte sie die allgemeine Liebe, von der sie jetzt im Gegensatz zu all dem Häßlichen umgeben war, was früher bei ihr Mißtrauen, Bosheit und Eigensinn zur Entwicklung gebracht hatte. Übrigens hatte Nelly auch jetzt lange hartnäckigen Widerstand geleistet und die stillen Tränen der Versöhnung uns lange verheimlicht, bis sie sich uns schließlich ganz ergab. Sie gewann zuerst Natascha sehr lieb und dann den alten Mann. Ich aber wurde ihr dermaßen notwendig, daß ihre Krankheit sich verschlimmerte, wenn ich längere Zeit nicht kam. Als ich das letztemal auf zwei Tage Abschied nahm, um endlich meine rückständige Arbeit zu beendigen, mußte ich ihr lange tröstend zureden, natürlich auf Umwegen. Denn Nelly schämte sich immer noch, ihr Gefühl allzu offen und unverhohlen zu zeigen.

Ihr Gesundheitszustand beunruhigte uns alle sehr. Stillschweigend und ohne alle weiteren Erörterungen war beschlossen worden, daß sie für immer in Nikolai Sergejewitschs Hause bleiben solle; aber nun rückte der Umzug näher, und ihr ging es immer schlechter und schlechter. Begonnen hatte die Krankheit an dem Tag, als ich damals mit ihr zu den alten Leuten gekommen war, an dem Tag der Versöhnung mit Natascha. Übrigens, was sage ich da? Krank war sie immer schon gewesen. Die Krankheit war auch früher in ihr allmählich gewachsen, jetzt aber hatte sie mit rapider Geschwindigkeit zugenommen. Ich kannte ihre Krankheit nicht und vermag sie nicht genau zu definieren. Die epileptischen Anfälle wiederholten sich bei ihr allerdings etwas häufiger als früher; aber die Hauptsache war doch eine Art von Erschöpfung und Verfall der gesamten Kräfte, ein ununterbrochener Zustand fieberhafter Spannung; dadurch war sie in den letzten Tagen dahin gekommen, daß sie nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte. Und sonderbar: je mehr sie von der Krankheit überwältigt wurde, um so sanfter, freundlicher, offenherziger wurde Nelly gegen uns. Vor drei Tagen hatte sie, als ich an ihrem Bett vorbeiging, mich bei der Hand ergriffen und mich zu sich herangezogen. Im Zimmer war niemand. Ihr Gesicht glühte (sie war schrecklich mager geworden); in ihren Augen leuchtete ein besonderes Feuer. Sie reckte sich mit krampfhafter Leidenschaftlichkeit zu mir hin, und als ich mich über sie beugte, umschlang sie meinen Hals fest mit ihren mageren braunen Ärmchen und küßte mich herzlich; dann aber wünschte sie sofort, Natascha möchte zu ihr kommen. Ich rief diese herbei; Nelly wollte durchaus, daß Natascha sich zu ihr auf das Bett setzte und sie ansähe . . .

»Ich selbst will euch beide ansehen«, sagte sie. »Ich habe gestern von euch geträumt und werde heute nacht wieder von euch träumen . . . ich träume oft von euch . . . jede Nacht . . .«

Sie wollte offenbar etwas aussprechen; ihr Gefühl drückte ihr das Herz ab; aber sie verstand wohl selbst ihre Gefühle nicht und wußte nicht, wie sie sie ausdrücken sollte . . .

Den alten Nikolai Sergejewitsch liebte sie fast am allermeisten außer mir. Es muß bemerkt werden, daß auch Nikolai Sergejewitsch sie beinah ebensosehr liebte wie seine eigene Tochter. Er besaß in erstaunlichem Maße die Fähigkeit, Nelly zu erheitern und zum Lachen zu bringen. Manchmal war er kaum zu ihr hereingekommen, so fing auch sofort das Lachen und sogar das mutwillige Treiben an. Das kranke Mädchen wurde lustig wie ein kleines Kind, kokettierte mit dem Alten, neckte ihn, erzählte ihm ihre Träume, wobei sie immer etwas hinzu erdichtete, und veranlaßte ihn, auch die seinigen zu erzählen; und der Alte war beim Anblick seines ›kleinen Töchterchens Nelly‹ so fröhlich und zufrieden, daß er täglich immer mehr über sie in Entzücken geriet.

»Gott hat sie uns geschickt zum Lohn für unsere Leiden«, sagte er mir einmal, als er von Nelly herauskam, nachdem er sie nach seiner Gewohnheit für die Nacht bekreuzt hatte.

Abends saßen wir immer alle zusammen; auch Masslobojew kam fast allabendlich; mitunter stellte sich auch der alte Arzt ein, der sich der Familie Ichmenew von ganzer Seele angeschlossen hatte; und auch Nelly wurde dann in ihrem Lehnstuhl zu uns herausgetragen und an den runden Tisch gerückt. Die Tür zur Terrasse war geöffnet. Das grüne, von der untergehenden Sonne beleuchtete Gärtchen war in seiner ganzen Ausdehnung sichtbar. Der Duft des frischen Grüns und des eben aufblühenden Flieders zog von dort ins Zimmer. Nelly saß in ihrem Lehnstuhl, sah uns alle freundlich an und hörte unserem Gespräch zu. Manchmal aber wurde sie lebhafter, und ehe wir uns dessen versahen, begann sie selbst mitzureden. Aber in solchen Fällen hörten wir alle ihr gewöhnlich nur mit starker Besorgnis zu, weil in ihren Erinnerungen Stellen vorkamen, die nicht berührt werden durften. Natascha und ich und das Ichmenewsche Ehepaar, wir alle waren uns in vollem Umfang bewußt, daß wir ihre Krankheit verschuldet hatten, als sie an jenem Tag, zitternd und abgemattet, uns ihre Geschichte hatte erzählen müssen. Besonders der Arzt war gegen diese Erinnerungen, und so bemühten wir uns denn gewöhnlich, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen. Dann gab sich wieder Nelly Mühe, uns nicht merken zu lassen, daß sie unsere Absicht durchschaue, und begann, mit dem Arzt oder mit Nikolai Sergejewitsch Scherz zu treiben.

Und doch wurde es mit ihr immer schlechter und schlechter. Sie wurde außerordentlich nervös. Ihr Herz schlug unregelmäßig. Der Arzt sagte mir sogar, es sei sehr möglich, daß sie bald sterbe.

Ich teilte dies der Ichmenewschen Familie nicht mit, um sie nicht zu beunruhigen. Nikolai Sergejewitsch war durchaus überzeugt, daß sie zur Reise wieder gesund sein werde.

»Da ist auch Papa zurückgekommen«, sagte Natascha, da sie seine Stimme hörte. »Wir wollen hineingehen, Wanja!«

 

Nikolai Sergejewitsch hatte kaum die Schwelle überschritten, als er nach seiner Gewohnheit laut zu reden anfing. Anna Andrejewna winkte ihm schleunigst mit den Armen, er möchte ruhig sein. Der Alte verstummte denn auch sofort, und als er mich und Natascha erblickte, erzählte er uns flüsternd und in eilfertiger Manier von dem Ergebnis seiner Gänge: er hatte die Stelle, um die er sich bemühte, nun sicher und war sehr zufrieden.

»In vierzehn Tagen können wir hinfahren«, sagte er, indem er sich die Hände rieb und von der Seite einen besorgten Blick auf Natascha richtete.

Aber diese antwortete ihm mit einem Lächeln und umarmte ihn, so daß seine Besorgnisse sofort zerstreut waren.

»Wir wollen hinfahren, wir wollen hinfahren, meine Lieben, wir wollen hinfahren!« sagte er hocherfreut. »Nur daß wir uns von dir trennen müssen, Wanja, tut uns leid . . .« (Ich bemerkte, daß er mich kein einziges Mal aufgefordert hatte, mit ihnen mitzuziehen, was er, nach seinem Charakter zu urteilen, unter anderen Umständen unfehlbar getan haben würde, das heißt, wenn er nicht meine Liebe zu Natascha gekannt hätte.)

»Nun, was ist da zu machen, meine Lieben, was ist da zu machen? Es tut mir leid, Wanja; aber die Ortsveränderung wird uns alle neu beleben . . . Eine Ortsveränderung, das bedeutet, daß sich alles ändert!« fügte er hinzu und blickte dabei noch einmal seine Tochter an.

Er glaubte daran und freute sich in diesem seinem Glauben.

»Aber Nelly?« fragte Anna Andrejewna.

»Nelly? Nun ja, sie ist ein bißchen krank, das Herzenskind; aber bis dahin wird sie gewiß schon wieder gesund sein. Es geht ihr ja auch jetzt schon besser: meinst du nicht auch, Wanja?« sagte er; er schien plötzlich einen Schreck bekommen zu haben und blickte mich unruhig an, als müßte gerade ich seine Zweifel beseitigen können. »Was macht sie denn? Wie hat sie geschlafen? Es ist ihr doch nichts zugestoßen? Ist sie jetzt noch nicht aufgewacht? Weißt du was, Anna Andrejewna: wir wollen den Tisch schnell auf die Terrasse stellen und den Samowar dorthin bringen lassen; wenn dann unsere Freunde kommen, setzen wir uns alle dorthin, und Nelly kommt auch zu uns heraus. Das wird wunderschön sein. Ist sie denn noch nicht aufgewacht? Ich will mal zu ihr gehen. Ich will nur nach ihr sehen; beunruhige dich nicht; ich werde sie nicht aufwecken!« fügte er hinzu, als er sah, daß Anna Andrejewna wieder mit den Armen nach ihm hin gestikulierte.

Aber Nelly war schon wach. Nach einer Viertelstunde saßen wir alle wie gewöhnlich um den Tisch herum beim Abendtee.

Nelly war in ihrem Lehnstuhl herausgetragen worden. Der Arzt erschien und dann auch Masslobojew. Dieser brachte für Nelly einen großen Fliederstrauß mit; aber er selbst hatte ein sorgenvolles und anscheinend verärgertes Gesicht.

Beiläufig bemerkt: Masslobojew kam fast täglich. Ich habe schon gesagt, daß alle, und besonders Anna Andrejewna, ihn sehr liebgewonnen hatten; aber Alexandra Semjonownas wurde bei uns niemals auch nur mit einem Wort laut Erwähnung getan; auch Masslobojew selbst erwähnte sie nicht. Da Anna Andrejewna von mir gehört hatte, daß Alexandra Semjonowna noch nicht seine legitime Gattin geworden war, so hatte sie sich die Ansicht zurechtgelegt, es sei unzulässig, dieselbe in diesem Haus zu empfangen oder auch nur von ihr zu reden; das wurde denn auch streng beobachtet. Es war dies auch für Anna Andrejewna selbst charakteristisch. Wäre übrigens nicht Natascha bei ihr gewesen und hätte sich nicht das begeben gehabt, was sich begeben hatte, so wäre sie vielleicht nicht so heikel gewesen.

Nelly schien an diesem Abend besonders trüb gestimmt und sogar mit irgendeinem sorgenvollen Gedanken beschäftigt zu sein. Es war, als habe sie einen schlimmen Traum gehabt und denke nun über ihn nach. Aber über Masslobojews Geschenk freute sie sich sehr und betrachtete mit großem Genuß die Blumen, die in einem Glas vor ihr standen.

»Also hast du Blumen sehr gern, Nelly?« sagte der Alte. »Na, dann warte!« fügte er munter hinzu, »gleich morgen . . . na, du wirst ja selbst sehen! . . .«

»Ja, ich habe Blumen gern«, antwortete Nelly, »und ich erinnere mich, wie wir Mama einmal mit Blumen überraschten. Als wir noch dort waren« (›dort‹ bedeutete bei ihr jetzt das Ausland), »war Mama einmal einen ganzen Monat lang sehr krank. Heinrich und ich verabredeten uns, wenn sie aufstehen und zum erstenmal aus ihrem Schlafzimmer herauskommen würde, das sie einen ganzen Monat lang nicht verlassen hatte, dann wollten wir alle Zimmer mit Blumen schmücken. Das taten wir denn auch. Mama hatte am Abend gesagt, sie wolle am anderen Morgen unbedingt zu uns herauskommen und mit uns frühstücken. Wir standen ganz früh auf. Heinrich brachte viele Blumen, und wir schmückten das Zimmer mit grünem Laub und Girlanden. Auch Efeu war da und noch solche breitblättrigen Pflanzen (ich weiß nicht mehr, wie sie heißen) und noch andere, die sich überall anhäkeln, und große weiße Blumen waren da, und Narzissen waren da (die liebe ich von allen Blumen am meisten), und Rosen waren da, so herrliche Rosen, und noch viele, viele Blumen. Die hängten wir alle in Girlanden auf und stellten sie in Blumentöpfen hin. Und dann waren da noch solche Gewächse, die wie ordentliche Bäume aussahen, in großen Kübeln; die stellten wir in die Ecken und neben Mamas Lehnstuhl, und als Mama hereinkam, da war sie ganz erstaunt und freute sich sehr, und auch Heinrich war froh . . . Ich habe das alles noch jetzt in der Erinnerung . . .«

An diesem Abend war Nelly besonders schwach und in nervöser Erregung. Der Arzt beobachtete sie beunruhigt. Aber sie hatte sehr große Lust zu reden. So erzählte sie denn lange, bis zum Dunkelwerden, von ihrem früheren Leben »dort«, und wir unterbrachen sie nicht. »Dort« war sie mit ihrer Mama und mit Heinrich viel umhergereist, und die alten Erinnerungen traten in ihrem Gedächtnis wieder klar zutage. Sie erzählte mit sichtlicher Erregung von dem blauen Himmel, von den hohen Bergen, von den Schnee- und Eisfeldern, die sie gesehen hatte und durch die sie hindurchgefahren war, von den Wasserfällen im Gebirge; dann von den Seen und Schluchten Italiens, von den Blumen und Bäumen, von den Landleuten, von ihrer Tracht und von ihren braunen Gesichtern und schwarzen Augen; sie erzählte von verschiedenen Begegnungen und Erlebnissen, die sie gehabt hatten. Dann von den großen Städten und Palästen, von einer großen Kirche mit einer Kuppel, die einmal über und über mit buntfarbigen Lampen illuminiert worden war; dann von einer heißen südlichen Stadt unter blauem Himmel und am blauen Meer . . . Noch nie hatte Nelly uns so ausführlich von ihrem früheren Leben erzählt. Wir hörten ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Wir alle hatten bis dahin nur anderes aus ihrer Vergangenheit gewußt, nämlich was sie in dieser unfreundlichen, finsteren Stadt erlebt hatte, in dieser Stadt mit der erstickenden, betäubenden Atmosphäre, mit der verpesteten Luft, mit den kostbaren, aber immer mit Schmutz bespritzten Palästen, mit der trüben, blassen Sonne und den bösen, halbverrückten Menschen, von denen sie und ihre Mutter soviel zu leiden gehabt hatten. Und ich stellte mir vor, wie sie beide in dem schmutzigen Kellergeschoß an einem feuchten dunklen Abend eng umschlungen auf ihrem armseligen Bett gelegen und sich an ihre Vergangenheit erinnert haben mochten, an den verstorbenen Heinrich und an die Wunder fremder Länder . . . Und weiter stellte ich mir auch vor, wie Nelly sich an all das erinnert haben mochte, als sie bereits allein war, ohne ihre Mutter, und als die Bubnowa durch Schläge und viehische Grausamkeit ihren Widerstand hatte brechen und sie zu Schlechtigkeiten hatte zwingen wollen . . .

Aber schließlich überfiel Nelly ein Unwohlsein, und sie mußte wieder in ihr Zimmer getragen werden. Der alte Ichmenew bekam einen argen Schreck und machte sich Vorwürfe, daß er sie so lange hatte reden lassen. Sie hatte eine Art von Ohnmachtsanfall. Ein derartiger Anfall war bei ihr schon einige Male dagewesen. Als er vorüber war, verlangte Nelly dringend, mit mir zu sprechen; sie wollte mir etwas unter vier Augen sagen. Sie bat so inständig darum, daß der Arzt diesmal selbst forderte, daß man ihren Wunsch erfüllen möchte. So gingen denn alle aus dem Zimmer.

»Was ich dir sagen wollte, Wanja, ist dies«, sagte Nelly, als wir allein geblieben waren. »Ich weiß, sie denken, daß ich mit ihnen reisen werde; aber das werde ich nicht tun, weil ich es nicht kann; ich werde einstweilen bei dir bleiben; das mußte ich dir sagen.«

Ich begann ihr freundlich zuzureden; ich sagte ihr, bei Ichmenews hätten alle sie so lieb, daß sie sie wie eine leibliche Tochter behandelten. Eine Trennung von ihr würde allen ein großer Schmerz sein. Bei mir dagegen würde sie ein schlechtes Leben haben. Ich hätte sie zwar sehr lieb; aber es sei nichts zu machen, wir würden uns trennen müssen.

»Nein, es geht nicht!« antwortete Nelly in festem Ton. »Ich sehe jetzt oft im Traum meine Mama, und sie sagt zu mir, ich solle nicht mit ihnen wegziehen, sondern hierbleiben; sie sagt, ich hätte eine schwere Sünde damit begangen, daß ich den Großvater allein gelassen hätte; und wenn sie das sagt, so weint sie immer. Ich will hierbleiben und den Großvater pflegen, Wanja.«

»Aber dein Großvater ist ja schon gestorben, Nelly«, antwortete ich erstaunt.

Sie dachte einen Augenblick nach und sah mich unverwandt an.

»Erzähle mir noch einmal, Wanja«, sagte sie, «wie der Großvater gestorben ist! Erzähle alles, und laß nichts fort!«

Ich war sehr verwundert über ihr Verlangen, begann aber doch, alles in größter Ausführlichkeit zu erzählen. Ich vermutete, daß sie irrerede oder wenigstens ihr Kopf nach dem Anfall noch nicht ganz klar geworden sei.

Sie hörte meine Erzählung aufmerksam an, und ich erinnere mich, wie ihre schwarzen, in krankem, fieberhaftem Glanz schimmernden Augen mich während meiner Erzählung starr und unverwandt ansahen. Im Zimmer war es schon dunkel.

»Nein, Wanja, er ist nicht gestorben«, sagte sie mit aller Bestimmtheit, nachdem sie alles angehört und noch einmal ein Weilchen nachgedacht hatte. »Mama spricht mit mir häufig vom Großvater, und als ich gestern zu ihr sagte: ›Aber der Großvater ist doch gestorben‹, da wurde sie sehr traurig, fing an zu weinen und sagte mir, das wäre nicht wahr; das hätte man mir absichtlich vorgeredet; er gehe jetzt auf den Straßen umher und bettle, ›so wie du und ich früher gebettelt haben‹, sagte Mama; ›und er geht immer an der Stelle umher, wo ich und du ihn das erstemal getroffen haben, als ich ihm zu Füßen fiel und Asorka mich erkannte . . .‹«

»Das ist ein Traum, Nelly, ein krankhafter Traum, weil du selbst krank bist«, entgegnete ich.

»Das habe ich auch selbst gedacht, daß es ein Traum sei«, erwiderte Nelly, »und darum habe ich es niemandem gesagt. Nur dir allein wollte ich es erzählen. Aber heute, als du nicht zum Mittagessen gekommen warst und ich dann eingeschlafen war, da sah ich im Traum auch den Großvater selbst. Er saß in seiner Wohnung und wartete auf mich und sah so unheimlich und so mager aus und sagte, er habe seit zwei Tagen nichts gegessen und Asorka auch nicht, und er war sehr böse auf mich und machte mir Vorwürfe. Er sagte mir auch, er habe gar keinen Schnupftabak, und ohne den könne er nicht leben. Das hat er auch wirklich früher einmal zu mir gesagt, Wanja, nachdem Mama schon gestorben war, als ich noch zu ihm ging. Damals war er ganz krank und verstand fast gar nichts mehr, was man zu ihm sagte. Als ich das nun heute von ihm hörte, da dachte ich: ›Ich will hingehen und mich auf eine Brücke stellen und betteln, und für das, was ich bekomme, will ich ihm Brot und gekochte Kartoffeln und Tabak kaufen.‹ Und da stand ich nun auch schon auf der Brücke und bettelte und sah, daß der Großvater in der Nähe auf und ab ging und ein Weilchen wartete und dann zu mir herantrat und sah, wieviel ich zusammenbekommen hätte, und es an sich nahm. ›Das‹, sagte er, ›ist für Brot; jetzt bettle für Tabak!‹ Ich brachte wieder etwas zusammen, und er kam wieder heran und nahm es mir weg. Ich sagte ihm, ich würde ihm auch ohne das alles abliefern und nichts heimlich für mich behalten. ›Nein‹, sagte er, ›du bestiehlst mich; auch die Bubnowa hat mir gesagt, daß du eine Diebin bist; darum werde ich dich auch niemals zu mir nehmen. Da war doch noch ein Fünfkopekenstück; wo hast du das gelassen?‹ Ich fing an zu weinen, weil er mir nicht glaubte; aber er hörte nicht auf mich und schrie immer: ›Du hast mir ein Fünfkopekenstück gestohlen!‹ Und dann schlug er mich, gleich dort auf der Brücke, und so, daß es mir sehr weh tat. Und ich weinte sehr . . . Siehst du, Wanja, darum habe ich jetzt gedacht, daß er bestimmt noch lebt und irgendwo allein umhergeht und darauf wartet, daß ich zu ihm komme . . .«

Ich begann von neuem, beruhigend auf sie einzureden und ihr zu versichern, daß ihr Großvater wirklich tot sei, und zuletzt schien es, als ob sie sich habe überzeugen lassen. Sie antwortete, sie fürchte sich jetzt einzuschlafen, weil sie von dem Großvater träumen werde. Zum Schluß umarmte sie mich herzlich . . .

»Aber verlassen kann ich dich trotzdem nicht, Wanja!« sagte sie zu mir und schmiegte sich mit ihrem Gesichtchen an mein Gesicht. »Wenn auch der Großvater nicht mehr am Leben wäre, ich würde mich doch nicht von dir trennen.«

Im Hause waren alle über Nellys Anfall erschrocken. Ich erzählte dem Arzt heimlich alle ihre Träume und fragte ihn ernstlich, was er über ihre Krankheit denke.

»Es ist noch nichts erkennbar«, antwortete er überlegend; »vorläufig stelle ich nur Hypothesen auf, ich überlege und beobachte; aber zu erkennen ist noch nichts. Nur soviel läßt sich sagen: eine völlige Genesung ist unmöglich. Sie wird sterben. Ich habe es der Familie nicht gesagt, weil Sie mich so darum baten; aber die Kleine tut mir leid, und ich schlage vor, daß wir gleich morgen auch noch andere Ärzte hinzuziehen. Vielleicht nimmt die Krankheit dann eine andere Wendung. Aber dieses Mädchen tut mir so leid, als ob sie meine Tochter wäre . . . Ein liebes, liebes Kind! Und was für einen lebhaften Geist sie hat!«

Nikolai Sergejewitsch war in besonderer Erregung.

»Hör mal, Wanja«, sagte er, »was ich mir ausgedacht habe; sie hat ja Blumen so gern. Weißt du was? Wir wollen ihr morgen, wenn sie aufwacht, einen ebensolchen Empfang mit Blumen bereiten, wie sie und dieser Heinrich es für ihre Mama getan haben; du weißt ja, was sie heute erzählt hat . . . Sie war in solcher Aufregung, als sie das erzählte . . .«

»Das ist es eben, daß sie in Aufregung war«, antwortete ich. »Aufregungen sind ihr jetzt schädlich . . .«

»Ja, aber angenehme Aufregungen, das ist eine andere Sache! Glaube mir nur, Wanjuscha, verlaß dich auf meine Erfahrung: angenehme Aufregungen tun dem Menschen nichts; angenehme Aufregungen können einen sogar kurieren, heilsam auf den Gesundheitszustand wirken . . .«

Kurz, der Alte war von seinem Einfall so entzückt, daß er ordentlich in Begeisterung geriet. Es ihm auszureden war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich fragte den Arzt um Rat; aber ehe dieser noch hatte eine Ansicht äußern können, griff der Alte schon nach seiner Mütze und schickte sich an, wegzulaufen, um die Sache ins Werk zu setzen.

»Weißt du was?« sagte er zu mir, als er schon auf dem Sprunge stand; »hier ganz in der Nähe ist eine Gärtnerei, mit Treibhäusern, großartigen Treibhäusern. Die Inhaber verkaufen jetzt ihre Blumen aus; da kann man welche bekommen, und billig. Sogar ganz erstaunlich billig! . . . Teile du das nur meiner Frau so unterderhand mit; sonst wird sie gleich ärgerlich wegen der Ausgaben . . . Na also, das wollen wir machen . . . Ja, noch eins, lieber Freund; wo willst du jetzt hin? Du bist ja mit deiner Arbeit fertig; also hast du keine Eile, nach Hause zu kommen. Schlafe doch bei uns, oben in der Giebelstube: du weißt noch, wie früher manchmal. Dein Bett und deine Matratze, alles ist da noch am früheren Fleck; kein Mensch hat es angerührt. Du wirst da schlafen wie der König von Frankreich. Ja? Bleib hier! Morgen stehen wir recht früh auf; dann werden die Blumen gebracht, und um acht Uhr schmücken wir zusammen das ganze Zimmer. Auch Natascha wird uns helfen; sie hat ja doch mehr Geschmack als ich und du . . . Na, einverstanden? Bleibst du die Nacht hier?«

Ich willigte ein, und der Alte ordnete das Erforderliche an. Der Arzt und Masslobojew empfahlen sich und gingen fort; denn bei Ichmenews legte man sich früh schlafen, um elf Uhr. Beim Weggehen war Masslobojew sehr nachdenklich und wollte mir etwas sagen, schob es dann aber doch auf ein andermal auf. Als ich aber den alten Leuten gute Nacht gesagt hatte und nach meiner Giebelstube hinaufgestiegen war, sah ich ihn dort zu meiner Verwunderung wieder. Er saß, auf mich wartend, an einem Tischchen und blätterte in einem Buch.

»Ich bin unterwegs wieder umgekehrt, Wanja; denn es ist doch besser, wenn ich es dir gleich erzähle. Setz dich hin! Siehst du, es ist eine so dumme, verdrießliche Geschichte . . .«

»Aber was gibt es denn?«

»Dein Schurke von Fürst hat mich geärgert, schon vor zwei Wochen, und zwar dermaßen, daß ich noch jetzt wütend bin.«

»Was ist denn los? Stehst du denn mit dem Fürsten immer noch in Verbindung?«

»Na, siehst du wohl, da schreist du nun gleich: ›Was ist denn los?‹, als ob Gott weiß was passiert wäre! Du bist darin, lieber Freund Wanja, genauso wie meine Alexandra Semjonowna und wie dieses ganze unerträgliche Weibervolk überhaupt . . . Ich kann dieses Weibervolk gar nicht ausstehen! . . . Wenn eine Krähe schreit, dann heißt es gleich: ›Was ist denn los?‹«

»Na, sei nur nicht böse!«

»Ich bin auch gar nicht böse; aber man muß doch alle Dinge mit bloßen Augen ansehen und nicht durch ein Vergrößerungsglas . . . Siehst du wohl!«

Er schwieg ein Weilchen, als ob er immer noch auf mich böse wäre. Ich unterbrach ihn nicht.

»Siehst du, lieber Freund«, begann er wieder, »ich bin da auf eine Spur geraten . . . das heißt, eigentlich bin ich gar nicht darauf geraten, und es war auch gar keine Spur da; aber es schien mir so . . . das heißt, ich habe aus gewissen Erwägungen beinahe geschlossen, daß Nelly . . . vielleicht . . . Na, kurz, daß sie die legitime Tochter des Fürsten ist.«

»Was sagst du?«

»Na, nun schreist du gleich: ›Was sagst du?‹ Mit solchen Leuten ist doch überhaupt gar nicht zu reden!« schrie er wütend mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Habe ich dir etwa etwas Positives gesagt, du leichtfertiger Mensch? Habe ich dir gesagt, sie sei bewiesenermaßen die legitime Tochter des Fürsten? Habe ich dir das gesagt?«

»Hör mal, mein Bester«, unterbrach ich ihn in starker Erregung, »schrei nur nicht so und sprich in bestimmten, klaren Ausdrücken! Dann werde ich dich schon verstehen. Du mußt dir doch selbst sagen, welche Wichtigkeit das haben würde, und welche Folgen . . .«

»Na ja, Folgen; aber woraus? Wo sind die Beweise? Ohne Beweise läßt sich nichts machen, und ich sage dir das alles jetzt nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Warum ich aber mit dir darüber zu reden angefangen habe, das werde ich dir später erklären. Es war eben notwendig. Schweig still und höre zu und vergiß nicht, daß ich dir das alles nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit sage . . . Also die Sache ist diese. Schon im Winter, noch ehe der alte Smith starb, begann der Fürst, gleich nach seiner Rückkehr aus Warschau, in dieser Angelegenheit Schritte zu tun. Das heißt, begonnen hatte er damit schon viel früher, schon im vorigen Jahr. Aber das Ziel seiner Nachforschungen war damals ein anderes gewesen als jetzt. Die Hauptsache war, daß er die Spur verloren hatte. Vor dreizehn Jahren hatte er sich in Paris von Smith' Tochter getrennt und sie im Stich gelassen; aber diese ganzen dreizehn Jahre über hatte er sie unaufhörlich im Auge behalten; er hatte gewußt, daß sie mit jenem Heinrich zusammen lebte, von dem Nelly heute erzählte; er hatte gewußt, daß sie Nelly bei sich hatte; er hatte gewußt, daß sie selbst krank war; na, kurz gesagt, er hatte alles gewußt; aber auf einmal hatte er die Spur verloren. Das war ihm, wie es scheint, bald nach Heinrichs Tod passiert, als Smith' Tochter nach Petersburg reiste. In Petersburg hätte er sie selbstverständlich bald ausfindig gemacht, unter welchem Namen auch immer sie nach Rußland zurückgekehrt sein mochte; aber die Sache war die, daß seine ausländischen Agenten ihn durch eine falsche Angabe irregeführt hatten; sie hatten ihn in den Glauben versetzt, sie wohne in irgendeinem abgelegenen süddeutschen Städtchen; sie hatten sich nämlich selbst aus Nachlässigkeit geirrt und eine Personenverwechselung begangen. So verging ein Jahr oder noch mehr. Nach Verlauf des Jahres kamen dem Fürsten Zweifel: auf Grund einiger Tatsachen hatte es ihm schon früher so geschienen, als ob jenes nicht die richtige Person sei. Nun entstand die Frage: wo war die wirkliche Tochter Smith' geblieben? Und da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf (so ganz von selbst, ohne jeden äußeren Anhalt), ob sie auch nicht in Petersburg sei. Während nun im Ausland die eine Nachforschung noch im Gange war, stellte er hier bereits eine andere an; aber er wollte sich offenbar nicht eines allzu offiziellen Weges bedienen und trat daher mit mir in Beziehung. Man hatte mich ihm empfohlen: ›Soundso‹, hatte man ihm über mich gesagt; ›er befaßt sich mit allerlei Geschäften; es ist eine besondere Liebhaberei von ihm‹, na und so weiter und so weiter . . .

Na, da setzte er mir denn nun die Sache auseinander; aber bei dieser Auseinandersetzung ließ der raffinierte Patron absichtlich vieles dunkel und undeutlich. Es kamen darin viele Fehler vor; manches wiederholte er mehrmals; einige Tatsachen stellte er gleichzeitig in verschiedener Weise dar . . . Na, natürlich, wenn einer auch noch so schlau ist, alle Fäden kann er doch nicht verbergen. Ich begann selbstverständlich damit, eine sklavische Ergebenheit und Herzenseinfalt zu fingieren; aber zufolge eines Grundsatzes, den ich mir ein für allemal zu eigen gemacht habe, und zugleich auch nach einem Naturgesetz (denn ein Naturgesetz ist es) fragte ich mich, erstens: hat er mir auch sein wirkliches Motiv ausgesprochen? und zweitens: verbirgt sich nicht hinter dem ausgesprochenen Motiv ein anderes, unausgesprochenes? Denn im letzteren Fall (und das kannst wahrscheinlich auch du, lieber Sohn, mit deinem Dichterkopf begreifen) bestahl er mich geradezu; denn wenn die Erfüllung seines Wunsches bei dem einen Motiv, sagen wir einmal, einen Rubel wert war und bei dem anderen vier Rubel, so wäre ich doch ein Narr gewesen, wenn ich ihm für einen Rubel die Auskunft verschafft hätte, die in Wirklichkeit vier Rubel wert war. Ich begann aufzumerken und zu kombinieren und kam allmählich auf eine Spur. Das eine erfuhr ich von ihm selbst, das andere von diesem und jenem Unbeteiligten, wieder anderes brachte ich durch eigenes Nachdenken heraus. Du fragst vielleicht, was mich eigentlich auf den Gedanken gebracht habe, so zu verfahren. Ich antworte: schon allein der Umstand, daß der Fürst sich gar zu sehr interessiert zeigte und vor irgend etwas große Angst hatte. Denn in der Tat: was hatte er für Grund, ängstlich zu sein, hätte man meinen sollen. Er hatte seine Geliebte ihrem Vater entführt; sie war in andere Umstände gekommen, und er hatte sie sitzenlassen. Na, was war daran Ungewöhnliches? Das war ein hübscher, vergnüglicher Streich, weiter nichts. Deswegen braucht ein solcher Mensch wie der Fürst noch keine Furcht zu haben! Aber doch hatte er Furcht. Das war's, was mich argwöhnisch machte. Und da, lieber Freund, geriet ich auf einige sehr interessante Spuren, unter anderem durch jenen Heinrich. Er war ja allerdings gestorben; aber von einer seiner Cousinen (sie ist jetzt hier in Petersburg mit einem Bäcker verheiratet), die früher leidenschaftlich in ihn verliebt gewesen ist und ihn fünfzehn Jahre lang weitergeliebt hat, trotz ihres Gatten, des dicken Bäckers, dem sie ganz unversehens acht Kinder geboren hat – also von dieser Cousine erfuhr ich glücklich mittels verschiedener komplizierter Manöver eine wichtige Tatsache. Heinrich hatte ihr nach deutscher Gewohnheit lange, tagebuchartige Briefe geschrieben und ihr vor seinem Tod allerlei ihm gehörige Papiere übersandt. Das dumme Frauenzimmer hatte das, was diese Briefe Wichtiges enthielten, nicht verstanden; verstanden hatte sie darin nur die Stellen, an denen vom Mond, von ›meinem lieben Augustin‹ und ich glaube auch noch von Wieland die Rede war. Ich aber erhielt auf diese Weise wichtige Nachrichten und kam durch diese Briefe auf eine neue Spur. Ich erfuhr zum Beispiel etwas über den alten Smith, über das Kapital, das ihm seine Tochter entwendet hatte, und über die Art, wie es der Fürst in seine Hände zu bringen gewußt hatte; endlich trat mir unter all den Ausrufen, Weitläufigkeiten und schwärmerischen Redensarten in diesen Briefen der eigentliche Hauptpunkt entgegen; das heißt, Wanja, du verstehst: nichts Positives! Der verdrehte Heinrich hatte das absichtlich verheimlicht und sich nur Andeutungen entschlüpfen lassen; aber aus diesen Andeutungen, aus allem zusammengenommen, ergab sich für mich eine himmlische Harmonie: der Fürst war mit der Tochter Smith' verheiratet! Wo er sie aber geheiratet hat, wie und wann, im Ausland oder hier, wo die Dokumente darüber stecken, das blieb völlig im dunkeln. Ich riß mir vor Ärger die Haare aus, Wanjuscha, und suchte und suchte, Tag und Nacht.

Endlich machte ich den alten Smith ausfindig; aber da starb er plötzlich. Ich habe ihn nicht mehr lebend zu sehen bekommen. Da erfuhr ich auf einmal durch einen reinen Zufall, daß auf der Wassili-Insel eine Frau, die ich schon auf dem Strich hatte, gestorben sei; ich forschte nach – und da kam ich auf die richtige Spur. Ich eilte nach der Wassili-Insel und traf da, wie du dich erinnern wirst, mit dir zusammen. Damals brachte ich ziemlich viel heraus; in vieler Hinsicht half mir dabei auch Nelly . . .«

»Höre mal«, unterbrach ich ihn, »glaubst du wirklich, daß Nelly weiß . . .«

»Was soll sie wissen?«

»Daß sie die Tochter des Fürsten ist?«

»Aber das weißt du ja selbst, daß sie die Tochter des Fürsten ist«, antwortete er, indem er mich ärgerlich und vorwurfsvoll ansah. »Wozu stellst du denn so unnütze Fragen, du Hohlkopf? Das ist nicht die Hauptsache; sondern die Hauptsache ist, daß sie nicht bloß einfach die Tochter des Fürsten, sondern seine legitime Tochter ist, verstehst du wohl?«

»Das ist unmöglich!« rief ich.

»Anfangs habe auch ich mir gesagt: ›Das ist unmöglich!‹ und auch jetzt noch sage ich mir manchmal: ›Das ist unmöglich!‹ Aber das ist ja eben die Sache, daß es doch möglich und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar wahr ist.«

»Nein, Masslobojew, das ist nicht so; da hat dich deine Phantasie zu weit geführt!« rief ich. »Sie weiß das nicht nur nicht, sondern sie ist auch tatsächlich keine legitime Tochter. Hätte denn die Mutter, wenn sie irgendwelche Dokumente in Händen gehabt hätte, ein so jammervolles Dasein, wie sie es hier in Petersburg hatte, ertragen und überdies ihr Kind als bettelarme Waise zurückgelassen? Wie kannst du das glauben? Das ist nicht möglich!«

»Das habe ich ebenfalls gedacht, das heißt, das ist mir auch jetzt noch ein reines Rätsel. Aber es ist doch wieder zu erwägen, daß Smith' Tochter das unverständigste, verrückteste Frauenzimmer der ganzen Welt war. Sie war ein ganz eigentümliches Wesen; vergegenwärtige dir doch nur alle Umstände: das ist eben bei ihr Romantik, eine dumme Verstiegenheit im tollsten, sinnlosesten Maß. Nimm nur das eine: Zuerst hat sie von einem Himmel auf Erden geträumt, die Menschen für Engel gehalten, sich unsinnig verliebt und grenzenlos vertraut; und ich bin überzeugt, sie hat nicht darüber den Verstand verloren, daß er aufhörte, sie zu lieben, und sie im Stich ließ, sondern darüber, daß sie sich in ihm getäuscht hatte, daß er fähig gewesen war, sie zu täuschen und im Stich zu lassen, darüber, daß ihr Engel sich in ein schmutziges Subjekt verwandelt und sie gemein und unwürdig behandelt hatte. Ihre romantische, unverständige Seele ertrug diese Verwandlung nicht. Und dazu kam nun noch die Beleidigung: du verstehst, welche Beleidigung ich meine? Erschrocken und vor allen Dingen von Stolz und grenzenloser Verachtung erfüllt, sagte sie sich von ihm los. Sie zerriß alle Bande, die sie an ihn knüpften, zerriß auch möglicherweise alle Dokumente; sie ließ geringschätzig das Geld fahren, vergaß dabei sogar, daß es nicht ihr, sondern ihrem Vater gehörte, und verzichtete darauf, als wenn es Schmutz oder Staub wäre, um den Menschen, der sie betrogen hatte, durch ihre Seelengröße zu erdrücken, um ihn für einen Dieb erklären zu können und das Recht zu haben, ihn lebenslänglich zu verachten; und wahrscheinlich hat sie damals auch gesagt, sie halte es für eine Schande, seine Frau zu heißen. Es gibt bei uns keine Ehescheidung; aber de facto waren sie geschieden; und da hätte sie ihn nachher um Hilfe anflehen sollen? Erinnere dich, daß sie in ihrer Geistesgestörtheit noch auf dem Totenbett zu Nelly gesagt hat: »Geh nicht zu ihnen hin, arbeite, geh lieber zugrunde; aber geh nicht zu ihnen hin, wer auch immer dich ruft!« Also dachte sie auch da noch, daß man ihre Tochter rufen und diese somit Gelegenheit haben werde, sich noch einmal zu rächen, indem sie den Rufenden durch ihre Verachtung zu Boden drücke; kurz gesagt, sie nährte sich statt von Brot von ihren haßerfüllten Träumereien. Vielmals habe ich auch Nelly auszufragen versucht, lieber Freund; selbst jetzt probiere ich es noch manchmal. Gewiß, ihre Mutter war krank, sie hatte die Schwindsucht, und das ist eine Krankheit, die in besonderem Maße die Eigenschaft besitzt, Erbitterung und Reizbarkeit zu erzeugen und zur Entwicklung zu bringen; aber doch weiß ich durch eine Gevatterin bei der Bubnowa bestimmt, daß sie einen Brief an den Fürsten geschrieben hatte: jawohl, an den Fürsten, an den Fürsten selbst . . .«

»So hat sie einen Brief geschrieben! Und ist der Brief in seine Hände gelangt?« rief ich ungeduldig.

»Das ist es ja eben, daß ich nicht weiß, ob er in seine Hände gelangt ist! Einmal hatte Smith' Tochter mit dieser Gevatterin eine Verabredung getroffen (du erinnerst dich wohl, bei der Bubnowa, das geschminkte Mädchen? Jetzt ist sie im Arbeitshaus) und wollte durch sie diesen Brief hinschicken; sie hatte ihn auch schon geschrieben und dem Mädchen eingehändigt, ließ ihn sich dann aber wieder zurückgeben; das war drei Wochen vor ihrem Tod . . . Das ist eine bedeutsame Tatsache: Wenn sie sich einmal bereits dazu entschlossen hatte, ihn abzusenden, so kann sie ihn, wenn sie ihn auch damals zurücknahm, doch ein andermal abgesandt haben. Und so weiß ich denn nicht, ob sie den Brief abgesandt hat oder nicht; aber ich habe einen bestimmten Grund zu der Annahme, daß sie ihn nicht abgesandt hat, weil der Fürst, wie es scheint, sichere Kenntnis davon, daß sie sich in Petersburg befinde und wo genauer, erst nach ihrem Tod erlangt hat. Darüber hat er sich gewiß sehr gefreut!«

»Ja, ich erinnere mich, daß Aljoscha von einem Brief sprach, über den sein Vater sich sehr gefreut habe; aber das war erst vor kurzem, erst vor ungefähr zwei Monaten. Nun, erzähle doch weiter; wie stehst du dich denn mit dem Fürsten?«

»Wie ich mich mit dem Fürsten stehe? Sieh mal: ich habe die vollste moralische Überzeugung und keinen positiven Beweis, keinen einzigen, wie sehr ich mich auch abgemüht habe. Eine kritische Lage! Ich müßte im Ausland Nachforschungen anstellen; aber wo im Ausland? Das ist mir ganz schleierhaft. Ich sagte mir natürlich, daß mir ein Kampf bevorstehe, daß ich den Fürsten nur durch Andeutungen einschüchtern könne, indem ich so täte, wie wenn ich mehr wüßte, als ich tatsächlich weiß . . .«

»Nun, und das Resultat?«

»Er ließ sich nicht täuschen; aber er bekam es doch mit der Angst, und zwar so sehr, daß er auch jetzt noch ängstlich ist. Wir haben mehrere Zusammenkünfte gehabt: er stellte es so dar, als sei ihm viel Leid widerfahren! Einmal begann er von selbst, mir in freundschaftlicher Weise alles zu erzählen. Das war damals, als er dachte, ich wüßte alles. Er erzählte sehr geschickt, offenherzig und mit Gefühl – natürlich log er schamlos. Eben daran konnte ich ermessen, wie sehr er mich fürchtete. Ich stellte mich ihm gegenüber eine Zeitlang so an, als sei ich der schrecklichste Einfaltspinsel, der sich dabei einbilde, wunder wie schlau zu manövrieren. Ich machte ungeschickte Einschüchterungsversuche, das heißt absichtlich ungeschickte, warf ihm absichtlich Grobheiten an den Hals, fing an, ihm zu drohen – alles, damit er mich für einen Einfaltspinsel halten und infolgedessen unachtsamerweise ein Wort zu viel über die Lippen springen lassen möchte. Aber er durchschaute mich, der Schuft! Ein andermal stellte ich mich betrunken; aber es kam wieder nichts Gescheites dabei heraus: er ist eben zu schlau! Mach dir das nur klar, Wanjuscha: ich mußte vor allen Dingen in Erfahrung bringen, in welchem Grad er mich fürchte, und zweitens bei ihm die Vorstellung erwecken, daß mir mehr bekannt sei, als tatsächlich der Fall war.«

»Nun, und was war schließlich das Resultat?«

»Das Resultat war Null. Ich brauchte Beweise, und Beweise hatte ich keine. Nur eines sah er ein: daß ich ihn doch zum Mittelpunkte eines öffentlichen Skandals machen konnte. Ein solcher Skandal war das einzige, wovor er sich fürchtete; und davor fürchtete er sich um so mehr, da er hier Beziehungen anzuknüpfen begonnen hat. Du weißt doch wohl, daß er sich verheiraten will?«

»Nein . . .«

»Im nächsten Jahr! Eine Braut hat er sich schon im vorigen Jahr ausgesucht; sie war damals erst vierzehn Jahre alt; jetzt ist sie schon fünfzehn; ich glaube, sie geht noch im Kinderschürzchen, das arme Ding. Die Eltern sind darüber selig! Begreifst du nun, wieviel ihm daran gelegen war, daß seine Frau starb? Die Braut ist eine Generalstochter und schwerreich; es ist ein gehöriger Batzen Geld vorhanden! Du und ich, Wanjuscha, werden niemals solche Partien machen . . . Aber was ich mir in meinem ganzen Leben nicht verzeihen werde«, rief Masslobojew und schlug dabei heftig mit der Faust auf den Tisch, »das ist, daß er mich eingewickelt hat, vor vierzehn Tagen . . . der Schurke!«

»Wieso denn?«

»Das ging so zu. Ich sah, daß er sich über meinen Mangel an positivem Beweismaterial klar war, und fühlte ferner im stillen, daß, je länger ich die Sache hinzog, er um so deutlicher meine Machtlosigkeit durchschaute. Na, und da ließ ich mich bereitfinden, von ihm zweitausend Rubel anzunehmen.«

»Du hast zweitausend Rubel von ihm angenommen?«

»Allerdings, Wanja, mit blutendem Herzen. Zweitausend Rubel, ist das ein Preis für eine so prächtige Sache? Tief gedemütigt nahm ich das Geld hin. Ich stand vor ihm wie ein begossener Pudel; er sagte: ›Ich habe Ihnen für Ihre früheren Bemühungen noch nichts gegeben, Masslobojew‹ (aber für meine früheren Bemühungen hatte er mir schon längst der Abrede gemäß hundertfünfzig Rubel bezahlt); ›ich verreise jetzt; hier sind zweitausend Rubel, und ich hoffe, daß nun alle unsere Angelegenheiten vollständig erledigt sind.‹ Und ich antwortete ihm: ›Gewiß, vollständig erledigt, Fürst.‹ Aber ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen; denn ich dachte, da steht gewiß darauf geschrieben: ›Na, viel hast du bei der Geschichte gerade nicht herausgeschlagen. Und ich gebe dir dummem Kerl auch das nur so aus Großmut!‹ Ich weiß gar nicht mehr, wie ich aus seinem Zimmer hinauskam.«

»Aber das war ja gemein, Masslobojew!« rief ich. »Damit hast du ja unserer Nelly aufs schwerste geschadet!«

»Das war nicht einfach gemein; das war ein Verbrechen, eine Scheußlichkeit . . . Das . . . das . . . es gibt gar keine Worte, um das auszudrücken!«

»Mein Gott! Er müßte Nelly doch wenigstens in materieller Hinsicht sicherstellen!«

»Gewiß müßte er das. Aber wodurch kann man ihn dazu zwingen? Wodurch kann man ihn einschüchtern? Da kannst du sicher sein: der läßt sich nicht einschüchtern; ich habe ja das Geld von ihm angenommen. Ich selbst, ich selbst habe damit ihm gegenüber bekannt, daß mein ganzes Einschüchterungsmaterial nur zweitausend Rubel wert ist; ich habe mich selbst auf diese Summe abgeschätzt! Womit soll man ihm jetzt angst machen?«

»Und ist denn Nellys Sache damit wirklich ganz verloren?« rief ich fast in Verzweiflung.

»Durchaus nicht!« rief Masslobojew hitzig und zitterte ordentlich am ganzen Leib vor Erregung. »Nein, ich werde ihm das nicht so hingehen lassen! Ich werde eine neue Aktion beginnen, Wanja; ich habe mir das schon vorgenommen! Was macht das aus, daß ich die zweitausend Rubel angenommen habe? Gar nichts macht das aus! Wenn man es richtig auffaßt, so habe ich das Geld als Entschädigung für eine Beleidigung genommen, weil dieser Nichtswürdige mich übers Ohr gehauen, somit sich über mich lustig gemacht hatte. Übers Ohr hat er mich gehauen und obendrein sich über mich noch lustig gemacht! Nein, ich dulde das nicht, daß sich jemand über mich lustig macht . . . Jetzt, Wanja, werde ich die Sache so angreifen, daß ich mich an Nelly selbst heranmache. Auf Grund gewisser Beobachtungen bin ich fest davon überzeugt, daß es vollständig in ihrer Macht steht, diese Sache klarzustellen. Sie weiß alles, alles . . . Ihre Mutter hat es ihr selbst erzählt. Im Fieber und in ihrem Kummer konnte sie dazu kommen, es ihr zu erzählen. Und vielleicht werden wir dabei auch auf irgendwelche Dokumente stoßen«, fügte er ganz glückselig hinzu und rieb sich die Hände. »Verstehst du jetzt, Wanja, warum ich mich hier soviel umhertreibe? Erstens aus Freundschaft zu dir, das versteht sich von selbst; hauptsächlich aber beobachte ich Nelly; und drittens, Wanjuscha, mußt du, ob du es nun willst oder nicht, mir behilflich sein, weil du großen Einfluß auf Nelly besitzt!«

»Das werde ich unfehlbar tun, ich verspreche es dir«, rief ich; »und ich hoffe, Masslobojew, daß du dich hauptsächlich um Nellys willen bemühen wirst, um der armen, geschädigten Waise willen, und nicht einzig und allein um deines eigenen Vorteils willen . . .«

»Ach, was geht es dich an, wessen Vorteil ich bei meinen Bemühungen im Auge habe, du Mann nach dem Herzen Gottes? Wenn wir nur unser Ziel erreichen – das ist die Hauptsache! Gewiß, hauptsächlich um der Waise willen; das ist ja schon ein Gebot der Menschenliebe. Aber du, Wanjuscha, verdamme mich nicht in Grund und Boden, wenn ich dabei auch für mich sorge! Ich bin ein armer Mensch, und er soll arme Menschen nicht ungestraft beleidigen. Er nimmt mir mein Eigentum weg, und obendrein hat mich der Schurke noch hinters Licht geführt. Und da soll ich einem solchen Gauner etwas schenken? Fällt mir nicht im Traum ein!«

Aber unser Blumenfest am anderen Tage mißlang. Nellys Befinden hatte sich verschlechtert, und sie konnte das Zimmer nicht verlassen.

Sie verließ dieses Zimmer überhaupt nicht mehr.

Zwei Wochen darauf starb sie. In diesen zwei Wochen ihrer Agonie war sie fast nie mehr imstande, völlig zu sich zu kommen und sich von ihren seltsamen Phantasien frei zu machen. Ihr Geist war getrübt. Sie war bis zum Augenblick ihres Todes fest davon überzeugt, daß ihr Großvater sie zu sich rufe und auf sie böse sei, weil sie nicht komme, und daß er mit dem Stock aufstoße und ihr befehle, bei gutherzigen Menschen um Geld und Brot und Tabak für ihn zu betteln. Oft begann sie im Schlaf zu weinen und erzählte dann nach dem Aufwachen, daß sie ihre Mama gesehen habe.

Nur selten kehrte ihr die Denkkraft in vollem Umfang wieder. Eines Tages war ich mit ihr im Zimmer allein geblieben; da reckte sie sich zu mir hin und ergriff meine Hand mit ihrem mageren, von der Fieberglut heißen Händchen.

»Wanja«, sagte sie zu mir, »wenn ich sterbe, dann heirate Natascha.«

Das schien schon lange ihr beständiger Gedanke zu sein. Ich lächelte ihr schweigend zu. Als sie mein Lächeln sah, lächelte sie selbst, drohte mir schelmisch mit ihrem mageren Fingerchen und begann sogleich, mich zu küssen.

Drei Tage vor ihrem Tod, an einem wunderschönen Sommerabend, bat sie, wir möchten in ihrem Schlafzimmer das Rouleau in die Höhe ziehen und das Fenster öffnen. Das Fenster ging auf den Garten hinaus; sie blickte lange in das dichte Grün, nach der untergehenden Sonne und bat dann auf einmal, man möchte sie mit mir allein lassen.

»Wanja«, sagte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, da sie schon sehr schwach war, »ich werde bald sterben, sehr bald, und ich möchte dich bitten, mich nicht zu vergessen. Zum Andenken hinterlasse ich dir dies hier« (sie zeigte mir ein großes Amulett, das sie nebst ihrem Taufkreuz auf der Brust hängen hatte). »Das hat mir Mama hinterlassen, als sie starb. Also wenn ich sterbe, dann nimm du dieses Amulett als dein Eigentum und lies, was darin geschrieben steht! Ich werde auch allen heute noch sagen, daß sie dir dieses Amulett zu alleinigem Besitz überlassen sollen. Und wenn du gelesen haben wirst, was darin geschrieben steht, dann geh zu ihm und sage ihm, daß ich gestorben bin, ihm aber nicht verziehen habe. Sage ihm auch, daß ich kürzlich das Neue Testament gelesen habe. Da ist gesagt, daß wir allen unseren Feinden verzeihen sollen. Ja, ich habe das gelesen; aber ihm habe ich dennoch nicht verziehen; denn als Mama im Sterben lag und noch reden konnte, da war das Letzte, was sie sagte: »Ich verfluche ihn!«, und darum verfluche ich ihn auch; nicht um meinetwillen, sondern um Mamas willen verfluche ich ihn . . . Erzähle ihm, wie Mama gestorben ist, wie ich allein bei der Bubnowa zurückgeblieben bin; alles, alles erzähle ihm, und sage ihm zugleich, daß ich lieber bei der Bubnowa geblieben als zu ihm gegangen sein würde . . .«

Während Nelly das sagte, war sie ganz blaß geworden; ihre Augen funkelten, und ihr Herz begann so heftig zu schlagen, daß sie auf die Kissen zurücksank und einige Minuten lang kein Wort herausbringen konnte.

»Rufe sie her, Wanja!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme; »ich will von ihnen allen Abschied nehmen. Leb wohl, Wanja!«

Sie umarmte mich krampfhaft zum letztenmal. Die Unsrigen kamen alle herein. Der Alte konnte es gar nicht fassen, daß sie so bald sterben solle; er konnte diesem Gedanken gar nicht Raum geben. Er stritt bis zum letzten Augenblick mit uns allen und versicherte, sie werde unfehlbar wieder gesund werden. Er wurde vor Sorge ganz mager und saß ganze Tag über und sogar nachts an Nellys Bett. In den letzten Nächten machte er kein Auge zu. Er suchte Nellys geringste Wünsche im voraus zu erraten, und wenn er aus ihrem Zimmer zu uns kam, so weinte er bitterlich, fing aber einen Augenblick darauf schon wieder an, zu hoffen und uns zu versichern, daß sie wieder genesen werde. Er stellte ihr ganzes Zimmer voll Blumen. Einmal kaufte er einen großen Strauß der prächtigsten weißen und roten Rosen, die er von irgendwoher für seine liebe, kleine Nelly geholt hatte . . . Durch all dies regte er sie sehr auf. Eine solche allgemeine Liebe erweckte in ihrem Herzen mit Notwendigkeit die gleichen Gefühle. An diesem Abend, dem Abend, an dem sie uns Lebewohl sagte, wollte der Alte durchaus nicht für immer von ihr Abschied nehmen. Nelly lächelte ihm zu und bemühte sich den ganzen Abend, heiter zu scheinen, scherzte mit ihm und lachte sogar . . . Wir alle hatten, als wir von ihr hinausgingen, beinahe wieder etwas Hoffnung; aber am anderen Tag konnte Nelly nicht mehr reden. Zwei Tage darauf starb sie.

Ich erinnere mich, wie der alte Mann ihren kleinen Sarg mit Blumen schmückte und voller Verzweiflung ihr abgemagertes, totes Gesichtchen, ihr totes Lächeln und ihre auf der Brust kreuzweise zusammengelegten Arme betrachtete. Er beweinte sie wie ein eigenes Kind. Natascha, ich und alle suchten ihn zu trösten; aber er war untröstlich und wurde nach Nellys Begräbnis ernstlich krank.

Anna Andrejewna händigte mir selbst das Amulett aus, das sie der Toten von der Brust genommen hatte. In diesem Amulett befand sich ein Brief von Nellys Mutter an den Fürsten. Ich las ihn an Nellys Todestag durch. Sie wandte sich an den Fürsten mit einem Fluch, sagte, daß sie ihm nicht verzeihen könne, schilderte ihr ganzes Leben in der letzten Zeit und das schreckliche Los, für das sie Nelly zurückließ, und beschwor ihn, wenigstens für das Kind etwas zu tun. ›Es ist Ihr Kind‹, schrieb sie, ›es ist Ihre Tochter, und Sie wissen selbst, daß sie Ihre legitime Tochter ist. Ich habe ihr befohlen, nach meinem Tod zu Ihnen zu gehen und Ihnen diesen Brief zu übergeben. Wenn Sie Nelly nicht verstoßen, dann werde ich Ihnen vielleicht in jener Welt verzeihen und am Tag des Gerichtes selbst vor Gottes Thron treten und den Richter anflehen, Ihnen Ihre Sünden zu vergeben. Nelly kennt den Inhalt meines Briefes; ich habe ihn ihr vorgelesen; ich habe ihr alles erklärt; sie weiß alles, alles . . .«

Aber Nelly hatte die Weisung der Sterbenden nicht erfüllt; sie hatte alles gewußt; aber sie war nicht zum Fürsten gegangen, sondern war unversöhnt gestorben.

Als wir von Nellys Begräbnis zurückgekehrt waren, gingen Natascha und ich in den Garten. Es war ein warmer, strahlend heller Tag. In einer Woche sollten sie fortziehen. Natascha sah mich mit einem langen, eigentümlichen Blick an.

»Wanja«, sagte sie, »Wanja, es war ja nur ein Traum.«

»Was war ein Traum?« fragte ich.

»Alles, alles«, antwortete sie, »alles in diesem ganzen Jahr. Wanja, warum habe ich dein Glück zerstört?«

Und in ihren Augen las ich den Gedanken:

»Wir hätten das ganze Leben miteinander glücklich sein können!«

 


 


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