F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Zweites Kapitel

Zwei Wochen waren vergangen. Nelly war in der Genesung. Ein Nervenfieber hatte sie nicht gehabt; aber sie war sehr krank gewesen. Ende April, an einem hellen, klaren Tag, stand sie vom Bett auf. Es war in der Karwoche.

Das arme Geschöpf! Ich kann meine Erzählung nicht in der früheren Anordnung fortsetzen. Es ist schon viel Zeit vergangen bis zum jetzigen Augenblick, wo ich all diese Ereignisse der Vergangenheit niederschreibe; aber bis heute kann ich nur mit schwerem, bitterem Gram an das blasse, magere Gesichtchen denken und an diesen langen, tiefen Blick ihrer schwarzen Augen, wenn wir manchmal allein waren und sie mich von ihrem Bett aus ansah, lange ansah, als ob sie mich auffordern wollte, zu erraten, was in ihrer Seele vorging; aber wenn sie sah, daß ich es nicht erriet und in meiner bisherigen Verständnislosigkeit verharrte, dann lächelte sie leise vor sich hin und streckte mir auf einmal freundlich ihr heißes Händchen mit den mageren, dünn gewordenen Fingerchen entgegen. Jetzt ist das alles vergangen, und alles ist schon bekannt geworden; aber auch jetzt kenne ich noch nicht das ganze Geheimnis dieses kranken, gequälten, beleidigten kleinen Herzens.

Ich fühle, daß ich mich von meiner Erzählung ablenken lasse; aber ich mag in diesem Augenblick einzig und allein an Nelly denken. Merkwürdig: jetzt, wo ich im Krankenhaus in meinem Bett liege, allein, von allen verlassen, die ich so viel und so innig geliebt habe, jetzt kommt mir manchmal irgendein unbedeutender Zug aus jener Zeit, den ich damals kaum beachtet und bald wieder vergessen hatte, plötzlich ins Gedächtnis und gewinnt auf einmal in meinem Geist eine ganz andere, wesentliche Bedeutung, die mir jetzt das klarmacht, was ich bisher nicht zu begreifen vermochte.

Während der ersten vier Tage ihrer Krankheit waren wir, der Arzt und ich, um sie in großer Sorge; aber am fünften Tag führte mich der Arzt beiseite und sagte mir, es sei kein Grund mehr zu Befürchtungen und sie werde sicher gesund werden. Der Arzt war eben jener mir schon lange bekannte, gutmütige und wunderliche alte Junggeselle, den ich bereits bei Nellys erster Krankheit gerufen hatte und dessen großer, am Hals hängender Stanislausorden ihr so interessant gewesen war.

»Also es ist nichts mehr zu befürchten?« sagte ich erfreut.

»Nein; sie wird jetzt gesund werden; aber dann wird sie sehr bald sterben.«

»Sterben? Aber warum denn?« rief ich, ganz starr über diesen Ausspruch.

»Ja, sie wird dann unfehlbar bald sterben. Die Patientin hat einen organischen Herzfehler und wird bei den geringsten ungünstigen Einwirkungen wieder bettlägerig werden. Vielleicht wird sie dann noch einmal genesen; aber darauf wird sie von neuem krank werden und schließlich sterben.«

»Und gibt es wirklich keine Möglichkeit, sie zu retten? Nein, es kann nicht sein!«

»Und doch muß es so kommen. Allerdings, wenn man alle ungünstigen Einwirkungen von ihr fernhielte, ihr ein ruhiges, stilles Leben verschaffte, ihr mehr Vergnügen bereitete, dann könnte die Patientin noch vor dem Tod bewahrt bleiben, und es kommen sogar Fälle vor . . . unerwartete, merkwürdige Ausnahmefälle . . . kurz, bei einer Vereinigung vieler günstiger Einwirkungen kann die Patientin sogar für lange Zeit gerettet werden; aber eine radikale Heilung ist ausgeschlossen.«

»Aber, mein Gott, was ist da zu tun?«

»Sie muß meine Weisungen befolgen, ein ruhiges Leben führen und die Pulver regelmäßig einnehmen. Ich habe gemerkt, daß dieses Mädchen launisch, von ungleichmäßigem Wesen und sogar sehr spottlustig ist; sie hat sehr wenig Lust, die Pulver regelmäßig einzunehmen, und hat das soeben deutlich bewiesen.«

»Ja, Doktor. Sie ist in der Tat ein eigentümliches Wesen; aber ich führe das alles auf ihre krankhafte Reizbarkeit zurück. Gestern war sie sehr folgsam; heute aber, als ich ihr die Arznei reichen wollte, stieß sie, wie unabsichtlich, an den Löffel, so daß alles verschüttet wurde. Und als ich ihr ein neues Pulver zurechtmachen wollte, riß sie mir das ganze Schächtelchen weg und warf es auf den Fußboden; dann aber brach sie in Tränen aus . . . Aber anscheinend weinte sie nicht darüber, daß ich sie veranlassen wollte, die Pulver einzunehmen«, fügte ich nach kurzem Nachdenken hinzu.

»Hm! Irritation der Nerven. Das frühere große Unglück« (ich hatte dem Arzt eingehend und offenherzig vieles von Nellys Geschichte erzählt, und meine Erzählung hatte ihn sehr ergriffen), »all das hängt miteinander zusammen, und daher rührt auch ihre Krankheit. Vorläufig ist das einzige Mittel, daß sie die Pulver einnimmt; das muß sie unbedingt tun. Ich will noch einmal hingehen und ihr ernstlich auseinandersetzen, daß es ihre Pflicht ist, den ärztlichen Ratschlägen zu gehorchen und . . . ganz besonders . . . die Pulver zu nehmen.«

Wir verließen beide die Küche wieder, in welcher unser Gespräch stattgefunden hatte, und der Arzt näherte sich von neuem dem Bett der Kranken. Aber Nelly hatte, wie es schien, alles gehört: wenigstens hatte sie, während wir sprachen, den Kopf vom Kissen gehoben, ein Ohr nach unserer Seite hingewandt und die ganze Zeit über mit Anstrengung gelauscht; ich hatte das durch die Spalte der halbgeöffneten Tür bemerkt. Als wir aber zu ihr traten, war die Schelmin wieder unter die Decke geschlüpft und sah uns spöttisch lächelnd an. Das arme Kind war in diesen Tagen der Krankheit sehr abgemagert; ihre Augen waren ganz eingesunken, und die Fieberhitze war immer noch nicht gewichen. Um so seltsamer kontrastierte mit ihrem Gesicht der mutwillige Ausdruck und der streitsüchtig glänzende Blick, über den der Arzt, der gutmütigste aller Deutschen in Petersburg, sich nicht genug wundern konnte.

In ernster, eindringlicher Weise, obgleich bemüht, seiner Stimme einen möglichst milden, freundlichen, zärtlichen Klang zu geben, setzte er ihr auseinander, daß die Pulver notwendig und heilsam seien und folglich jeder Kranke die Pflicht habe, sie einzunehmen. Nelly hob schon den Kopf ein wenig in die Höhe; aber auf einmal stieß sie durch eine anscheinend ganz zufällige Bewegung des Armes an den Löffel, und die ganze Arznei floß wieder auf den Fußboden. Ich war überzeugt, daß sie es mit Absicht getan hatte.

»Das ist eine sehr unangenehme Unvorsichtigkeit«, sagte der alte Mann ruhig, »und ich vermute, daß Sie es mit Absicht getan haben, was sehr tadelnswert ist. Aber . . . wir können den Schaden reparieren und noch ein Pulver zurechtmachen.«

Nelly lachte ihm gerade ins Gesicht. Der Arzt wiegte langsam den Kopf hin und her.

»Das ist sehr häßlich«, sagte er, als er ein neues Pulver zurechtgemacht hatte, »sehr, sehr tadelnswert.«

»Ärgern Sie sich nicht über mich!« antwortete Nelly, die sich vergebens bemühte, nicht von neuem loszulachen; »ich werde die Pulver bestimmt einnehmen . . . Aber haben Sie mich lieb?«

»Wenn Sie sich lobenswert betragen, werde ich Sie sehr liebhaben.«

»Sehr lieb?«

»Ja, sehr lieb.«

»Aber jetzt haben Sie mich nicht lieb?«

»O doch, auch jetzt.«

»Aber werden Sie mich küssen, wenn ich Sie küssen will?«

»Ja, wenn Sie es verdienen werden.«

Hier konnte Nelly sich wieder nicht mehr beherrschen und brach von neuem in ein Gelächter aus.

»Die Patientin hat ein heiteres Temperament; aber jetzt merken wir an ihr nur Nervosität und Launenhaftigkeit«, flüsterte mir der Arzt mit sehr ernstem Gesicht zu.

»Nun gut, ich werde das Pulver schlucken!« rief Nelly auf einmal mit ihrem schwachen Stimmchen. »Aber wenn ich erwachsen und groß bin, werden Sie mich dann auch heiraten?«

Wahrscheinlich gefiel ihr dieser neue mutwillige Einfall sehr; ihre Augen brannten nur so, und ihre Lippen zuckten vor Lachen in Erwartung der Antwort des etwas erstaunten Arztes.

»Nun ja«, antwortete er, über diesen neuen Einfall unwillkürlich lächelnd, »nun ja, wenn Sie ein gutes, wohlerzogenes Mädchen sein werden, und wenn Sie folgsam sein und . . .«

». . . und die Pulver nehmen werden?« fiel Nelly ein.

»Ei, ei! Nun ja, auch die Pulver nehmen!« – »Ein prächtiges Mädchen«, flüsterte er mir von neuem zu; »in ihr steckt viel Herzensgüte und Verstand; aber, allerdings . . . heiraten . . . was für ein sonderbarer Einfall!«

Er brachte ihr von neuem die Medizin. Aber diesmal wandte Nelly nicht einmal List an, sondern stieß einfach mit der Hand von unten nach oben gegen den Löffel, so daß die ganze Medizin hinausflog, dem armen alten Mann gerade auf das Vorhemd und ins Gesicht. Nelly lachte laut auf, aber nicht mit dem früheren gutmütigen, heiteren Lachen. In ihrem Gesicht blitzte ein harter, böser Ausdruck auf. Diese ganze Zeit über hatte sie meinen Blick vermieden und nur den Arzt angesehen und wartete nun mit einem spöttischen Lächeln, durch das jedoch ihre innere Unruhe nur schlecht verdeckt wurde, was der ›komische Alte‹ jetzt tun werde.

»Oh! Also doch wieder! . . . Wie schade! Aber . . . ich kann ja noch ein Pulver zurechtmachen!« sagte der alte Mann, indem er sich mit dem Taschentuch das Gesicht und das Vorhemd abwischte.

Das machte auf Nelly einen starken Eindruck. Sie hatte erwartet, daß wir zornig werden würden; sie hatte gemeint, wir würden sie schelten und ihr Vorwürfe machen, und hatte dies vielleicht in diesem Augenblick unbewußtermaßen sogar gewünscht, damit sie einen Grund hätte, sogleich loszuweinen, krampfhaft loszuschluchzen, die Pulver wieder wie vorher zu verschütten, sogar vor Ärger etwas zu zerschlagen und durch all das ihrem launenhaften, kranken Herzchen eine Art von Erleichterung zu verschaffen. Solche Launen kommen vor, und nicht allein bei Kranken, und nicht allein bei Nelly. Wie oft bin ich im Zimmer auf und ab gegangen mit dem unbewußten Wunsch, es möchte mich doch jemand recht schnell beleidigen oder ein Wort sagen, das sich als Beleidigung auffassen ließe, damit ich recht schnell an etwas meinem Herzen Luft machen könnte! Frauen aber, die auf diese Weise ›ihrem Herzen Luft machen‹, vergießen die aufrichtigsten Tränen, und die gefühlvollsten unter ihnen verfallen sogar in Weinkrämpfe. Das ist ein sehr einfacher, ganz gewöhnlicher, überaus häufiger Vorgang, wenn ein anderer, oft niemandem bekannter Kummer im Herzen sitzt, den der Betreffende wohl aussprechen möchte, aber niemandem aussprechen darf.

Aber überrascht durch die engelhafte Güte des von ihr beleidigten alten Mannes und durch die Geduld, mit der er ihr von neuem ein drittes Pulver zurechtmachte, ohne ihr auch nur ein Wort des Vorwurfs zu sagen, wurde Nelly auf einmal sanft und still. Das spöttische Lächeln verschwand von ihren Lippen; eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht; die Augen wurden ihr feucht: sie blickte mich flüchtig an und wandte sich sofort wieder ab. Der Arzt brachte ihr die Medizin. Sie schluckte sie friedlich und schüchtern hinunter, ergriff die rote, dicke Hand des alten Mannes, hob langsam den Kopf in die Höhe und blickte ihm in die Augen.

»Sie . . . sind mir gewiß böse, weil ich so schlecht bin«, begann sie, konnte aber nicht weiterreden, kroch unter die Bettdecke, verbarg ihr Köpfchen und fing laut und krampfhaft zu schluchzen an.

»O mein Kind, weinen Sie nicht . . . das tut nichts . . . das sind die Nerven; trinken Sie etwas Wasser!«

Aber Nelly hörte nicht auf ihn.

»Beruhigen Sie sich; regen Sie sich nicht so auf!« fuhr er fort; er beugte sich über sie und schluchzte selbst beinah; denn er war ein sehr gefühlvoller Mensch. »Ich verzeihe Ihnen und werde Sie heiraten, wenn Sie sich gut betragen werden und ein braves Mädchen sein und . . .«

». . . die Pulver nehmen werden!« erscholl es unter der Bettdecke hervor mit einem feinen, wie ein Glöckchen klingenden, nervösen, von Schluchzen unterbrochenen, mir wohlbekannten Lachen.

»Ein gutes, dankbares Kind!« sagte der Arzt triumphierend und fast mit Tränen in den Augen. »Armes Mädchen!«

Seitdem bildete sich zwischen ihm und Nelly eine seltsame, wunderliche Freundschaft heraus. Mir gegenüber wurde Nelly dagegen immer finsterer, nervöser und reizbarer. Ich wußte nicht, worauf ich das zurückführen sollte, und wunderte mich darüber, um so mehr, da dieser Umschwung in ihrem Verhalten ganz plötzlich erfolgt war. In den ersten Tagen ihrer Krankheit hatte sie sich gegen mich überaus zärtlich und freundlich benommen; sie schien sich an mir gar nicht satt sehen zu können, ließ mich nicht von ihrer Seite, ergriff meine Hand mit ihrem heißen Händchen, zog mich auf den Stuhl neben ihrem Bett nieder, und wenn sie bemerkte, daß ich finster und aufgeregt war, so bemühte sie sich, mich zu erheitern, scherzte und spielte mit mir und lächelte mir zu, indem sie augenscheinlich ihre eigenen Leiden unterdrückte. Sie wollte nicht, daß ich nachts arbeitete oder aufsaß, um sie zu warten, und wurde traurig, als sie sah, daß ich nicht auf sie hörte. Manchmal bemerkte ich an ihr eine sorgenvolle Miene; sie fragte mich über mich selbst aus, warum ich traurig sei und was ich auf dem Herzen hätte; aber merkwürdig: sobald das Gespräch auf Natascha kam, verstummte sie sofort oder begann von etwas anderem zu reden. Sie vermied es anscheinend, von Natascha zu sprechen, und das überraschte mich. Wenn ich nach Hause kam, freute sie sich. Wenn ich nach meinem Hut griff, so machte sie ein betrübtes Gesicht und verfolgte mich in eigentümlicher Weise, gewissermaßen vorwurfsvoll, mit den Augen.

Am vierten Tag ihrer Krankheit saß ich den ganzen Abend über und sogar noch lange nach Mitternacht bei Natascha. Wir hatten damals etwas miteinander zu besprechen. Als ich von zu Hause wegging, hatte ich meiner Patientin gesagt, ich würde sehr bald zurückkommen; denn ich hatte selbst damit gerechnet. Als es sich nun zufällig so traf, daß ich länger bei Natascha bleiben mußte, war ich wegen Nelly beruhigt: sie war nicht allein geblieben. Alexandra Semjonowna saß bei ihr. Diese hatte von Masslobojew, der auf einen Augenblick zu mir gekommen war, erfahren, daß Nelly krank sei und ich, so vollständig allein, viel Mühe und Sorge hätte. O Gott, in welche Aufregung die gute Alexandra Semjonowna da geriet!

»Dann wird er also auch nicht zum Mittagessen zu uns kommen! . . . Ach, mein Gott! Und er ist ganz allein, der arme Mensch, ganz allein! Nun, da wollen wir uns ihm jetzt behilflich zeigen. Jetzt bietet sich eine Gelegenheit; die dürfen wir nicht unbenutzt lassen.«

Sogleich erschien sie bei uns und brachte in der Droschke ein ganz großes Bündel mit. Nachdem sie mir schnell mit kurzen Worten erklärt hatte, sie werde jetzt nicht wieder fortgehen und sei gekommen, um mir zu helfen, band sie das Bündel auf. Darin waren Obstgelees, Eingemachtes, wie es eine Kranke essen kann, junge Hühner und eine Henne, für den Fall, daß die Kranke zu genesen beginne, Äpfel zum Braten, Apfelsinen, Kiewer getrocknete Früchte (falls der Arzt es erlauben sollte), endlich Wäsche, Bettücher, Servietten, Frauenhemden, Binden, Kompressen – als sollte ein ganzes Lazarett damit versorgt werden.

»Wir haben ja bei uns zu Hause alles vorrätig«, sagte sie eilig und geschäftig zu mir, als ob sie schnell wieder irgendwo anders hin müßte. »Na, und Sie leben hier so als Junggeselle und haben von alledem gewiß wenig. Also erlauben Sie mir schon . . . auch Filipp Filippowitsch hat es befohlen. Nun, was soll ich jetzt zuerst . . . nur schnell, nur schnell! Was muß jetzt getan werden? Was macht sie? Ist sie bei Bewußtsein? Ach, wie schlecht sie liegt; das Kissen muß in Ordnung gebracht werden, damit sie mit dem Kopf niedriger liegt. Aber wissen Sie: wäre nicht das beste ein Lederkissen? Leder kühlt. Ach, wie dumm ich bin! Daß es mir nicht eingefallen ist, eins mitzubringen! Ich werde hinfahren und es holen . . . Muß nicht Feuer gemacht werden? Ich werde Ihnen meine Alte herschicken. Ich habe eine zuverlässige alte Magd. Sie haben ja hier gar keine weibliche Bedienung . . . Nun, was soll ich jetzt tun? Was ist das? Wohl Brusttee, den der Arzt verschrieben hat? Ich will gleich Feuer anmachen.«

Aber ich beruhigte sie, und sie war sehr erstaunt und sogar betrübt darüber, daß überhaupt nicht so viel zu tun war. Übrigens ließ sie sich dadurch ganz und gar nicht die Laune verderben. Sie befreundete sich sehr bald mit Nelly und half mir während der Krankheit derselben viel; sie besuchte uns fast täglich und kam immer mit einer Miene, als ob etwas vergessen oder verabsäumt sei und so schnell wie möglich nachgeholt werden müsse. Sie fügte immer hinzu, auch Filipp Filippowitsch habe es befohlen. Nelly fand an ihr großes Gefallen. Sie gewannen einander lieb wie Schwestern, und ich glaube, daß Alexandra Semjonowna in vieler Hinsicht noch ein ebensolches Kind war wie Nelly. Sie erzählte ihr allerlei Geschichten, brachte sie zum Lachen, und Nelly fühlte sich nachher oft einsam, wenn Alexandra Semjonowna nach Hause gefahren war. Ihr erstes Erscheinen bei uns erregte die Verwunderung meiner Kranken; aber sie erriet sogleich, warum der uneingeladene Gast gekommen war, machte nach ihrer Gewohnheit sogar ein finsteres Gesicht und wurde schweigsam und unfreundlich.

»Warum ist sie denn zu uns gekommen?« fragte Nelly mit unzufriedener Miene, als Alexandra Semjonowna wieder weggefahren war.

»Um dir zu helfen, Nelly, und dich zu pflegen.«

»Aber wofür will sie sich damit bedanken? Ich habe ihr ja doch nichts Gutes getan.«

»Gute Menschen warten nicht, bis man ihnen zuerst Gutes tut, Nelly. Sie helfen auch ohne das gern denen, die der Hilfe bedürfen. Glaube nur, Nelly: es gibt auf der Welt sehr viele gute Menschen. Es ist dein besonderes Unglück gewesen, daß du mit solchen nicht zusammengekommen bist, nicht damals mit ihnen zusammengekommen bist, als es nötig war.«

Nelly schwieg; ich trat von ihr weg. Aber eine Viertelstunde darauf rief sie mich selbst mit schwacher Stimme zu sich, bat mich, ihr zu trinken zu geben, umarmte mich plötzlich herzlich, drückte sich an meine Brust und ließ mich lange Zeit nicht aus ihren Armen. Als Alexandra Semjonowna am anderen Tag wiederkam, empfing Nelly sie mit freudigem Lächeln, aber als wenn sie sich immer noch über etwas schäme.


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