F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Neuntes Kapitel

Aber er hielt sie schon in seinen Armen! . . .

Er hatte sie umfaßt, hob sie wie ein kleines Kind in die Höhe, trug sie zu seinem Lehnstuhl, setzte sie hinein und fiel selbst vor ihr auf die Knie. Er küßte ihre Hände, ihre Füße; er küßte Natascha eilig und betrachtete sie immer wieder, als könne er immer noch nicht glauben, daß sie wieder bei ihm sei, daß er sie wieder sehe und höre, sie, seine Tochter, seine Natascha. Anna Andrejewna umarmte ihre Tochter schluchzend, drückte deren Kopf an ihre Brust und verharrte regungslos in dieser Umschlingung, unfähig, ein Wort zu sagen.

»Mein Herzchen! . . . Mein süßes Leben! . . . Du meine Freude! . . .« stammelte der Alte unzusammenhängend, ergriff Nataschas Hände und blickte wie ein Verliebter in ihr blasses, mageres, aber schönes Gesicht und in ihre Augen, in denen Tränen glänzten. »Du meine Freude, du mein Kind!« wiederholte er und verstummte dann wieder und schaute sie wie in einem Andachtsrausch an. »Wie hat man mir nur sagen können, daß sie ganz mager geworden sei!« sagte er hastig, immer noch vor ihr kniend und sich mit einem kindlichen Lächeln zu uns umwendend. »Ein bißchen schmaler sieht sie aus, das ist richtig, ein bißchen blaß; aber seht sie doch einmal an, wie hübsch sie ist! Noch schöner, als sie früher war, ja, noch schöner!« fügte er hinzu und verstummte unwillkürlich infolge jener aus Schmerz und Freude gemischten Empfindung, bei der einem beinahe das Herz zerspringt.

»Stehen Sie auf, Papa! So stehen Sie doch auf!« sagte Natascha. »Ich möchte Sie ja doch auch küssen . . .«

»O mein liebes, gutes Kind! Hörst du wohl, hörst du wohl, liebe Anna, wie hübsch sie das gesagt hat?«

Und er umarmte sie krampfhaft.

»Nein, Natascha, ich, ich muß so lange zu deinen Füßen liegen, bis mein Herz fühlt, daß du mir verziehen hast; denn verdienen kann ich jetzt niemals, niemals, daß du mir verzeihst! Ich habe dich verstoßen, ich habe dich verflucht; hörst du wohl, Natascha, ich habe dich verflucht – und ich habe das übers Herz gebracht! . . . Aber du, du, Natascha: hast du das glauben können, daß ich dich verflucht hätte? Du hast es geglaubt, ja, du hast es geglaubt! Das durftest du nicht glauben! Du hättest es nicht glauben sollen, es einfach nicht glauben sollen! Du grausames Herz! Warum bist du nicht zu mir gekommen? Du wußtest ja, daß ich dich freundlich aufnehmen würde . . . O Natascha, du erinnerst dich doch, wie lieb ich dich früher gehabt habe: nun, aber jetzt und während dieser ganzen Zeit habe ich dich noch einmal so lieb, tausendmal so lieb gehabt wie früher. Ich liebe dich mit jeder Fiber meines Herzens! Ich möchte mir das Herz aus dem Leib reißen und dir zu Füßen legen! . . . O du meine Lebensfreude!«

»Küssen Sie mich doch auf den Mund, Sie Grausamer; küssen Sie mich doch auf das Gesicht, so wie mich Mama küßt!« rief Natascha mit matter, schwacher, von Tränen der Freude halb erstickter Stimme.

»Und auf die lieben Augen! Und auf die lieben Augen! Erinnerst du dich noch, wie ich es früher immer tat«, sagte der Alte nach einer langen, wonnigen Umarmung mit seiner Tochter. »O Natascha! hast du denn auch wohl manchmal von uns geträumt? Ich habe von dir fast jede Nacht geträumt, und jede Nacht bist du zu mir gekommen, und ich habe um dich geweint. Und einmal kamst du als kleines Mädchen; erinnerst du dich? als du eben erst zehn Jahre alt warst und eben erst anfingst, Klavier zu spielen; du kamst in einem kurzen Kleidchen, mit hübschen Schuhchen und mit roten Händchen . . . sie hatte ja doch damals solche roten Händchen, weiß du noch, liebe Anna? Du kamst zu mir und setztest dich auf meinen Schoß und umarmtest mich . . . Und du, und du, du böses Mädchen, du hast denken können, ich hätte dich verflucht und ich würde dich nicht aufnehmen, wenn du zu mir kämst! Und dabei bin ich (hörst du wohl, Natascha?), dabei bin ich so oft zu dir hingegangen; deine Mutter hat es nicht gewußt, und kein Mensch hat es gewußt; und da stand ich dann unter deinen Fenstern und wartete; einen halben Tag lang habe ich manchmal auf dem Trottoir bei deiner Haustür gewartet, ob du nicht herauskommen würdest, damit ich dich auch nur von weitem sähe! Und abends brannte bei dir manchmal eine Kerze auf dem Fensterbrett; wie oft bin ich da abends zu dir gegangen, Natascha, um wenigstens nach deiner Kerze hinzusehen, um wenigstens deinen Schatten am Fenster zu erblicken und dich für die Nacht zu segnen. Hast du mich auch für die Nacht gesegnet? Hast du an mich gedacht? Hat dein Herz es gefühlt, daß ich da unter deinem Fenster stand? Und wie oft bin ich im Winter spätabends deine Treppe hinaufgestiegen, habe auf dem dunklen Flur gestanden und durch die Tür gehorcht, ob ich nicht deine liebe Stimme hören könne! Lachst du mich nicht aus? Und ich hätte dich verflucht? Ich war ja neulich abends zu dir gegangen, um dir zu sagen, daß ich dir verziehe, und erst an der Tür bin ich wieder umgekehrt . . . O Natascha!«

Er stand auf, hob sie aus dem Lehnstuhl in die Höhe und drückte sie fest und innig an sein Herz.

»Sie ist hier; sie ist wieder an meinem Herzen!« rief er. »Oh, ich danke dir, Gott, für alles, für alles, für deinen Zorn und für deine Gnade! Und für deine Sonne, die jetzt nach dem Gewitter wieder auf uns herniederstrahlt! Für dieses ganze Glück danke ich dir! Oh, wenn wir auch erniedrigt und beleidigt sind, aber wir sind doch wieder zusammen; mögen die stolzen, hochmütigen Menschen, die uns erniedrigt und beleidigt haben, jetzt immerhin triumphieren! Mögen sie uns mit Steinen werfen! Fürchte dich nicht, Natascha! . . . Wir werden Arm in Arm gehen, und ich werde ihnen sagen: ›Das ist meine teure, geliebte Tochter, das ist meine unschuldige Tochter, die ihr beleidigt und erniedrigt habt, aber die ich liebe und für alle Ewigkeit segne!‹«

»Wanja, Wanja! . . .«; sagte Natascha mit schwacher Stimme und streckte mir aus der Umarmung des Vaters ihre Hand hin.

Oh, nie werde ich es vergessen, daß sie in diesem Augenblick sich meiner erinnerte und mich rief!

»Wo ist denn Nelly?« fragte der Alte, um sich schauend.

»Ach, wo ist sie denn?« rief die alte Frau. »Mein liebes Kind! Wir haben sie ja ganz vergessen!«

Aber sie war nicht im Zimmer; sie war unbemerkt ins Schlafzimmer geschlüpft. Wir gingen alle dorthin. Nelly stand in einem Winkel hinter der Tür und suchte sich ängstlich vor uns zu verstecken.

»Nelly, was ist dir, mein Kind?« rief der Alte und wollte sie umarmen.

Aber sie sah ihn lange eigentümlich an . . .

»Mama, wo ist meine Mama?« sagte sie wie geistesabwesend. »Wo ist meine Mama?« schrie sie noch einmal und streckte ihre zitternden Hände nach uns aus.

Auf einmal brach ein schrecklicher, unheimlicher Schrei aus ihrer Brust hervor; ein krampfhaftes Zucken lief über ihr Gesicht, und sie fiel in einem furchtbaren Anfall auf den Fußboden . . .


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