F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Neuntes Kapitel

Ich musterte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit, obgleich ich ihn vorher schon oft gesehen hatte; ich schaute ihm in die Augen, als ob sein Blick alle meine Zweifel lösen und mir die Frage beantworten könnte, wodurch und auf welche Weise dieses Kind sie hatte bezaubern und in ihr eine so sinnlose Liebe hatte erwecken können, daß sie darüber ihre erste Pflicht vergaß und ohne Bedenken alles zum Opfer brachte, was ihr bisher das Heiligste gewesen war. Der Fürst ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig; sein milder, klarer Blick drang mir tief ins Herz.

Ich fühlte, daß ich mich in meinem Urteil über ihn schon allein deswegen hatte irren können, weil er mein Feind war. Ja, ich liebte ihn nicht, und ich muß bekennen: ich habe ihn niemals liebgewinnen können, vielleicht als der einzige Mensch unter allen, die ihn kannten. Vieles an ihm mißfiel mir entschieden, sogar sein elegantes Äußeres, und vielleicht gerade deswegen, weil es gewissermaßen allzu elegant war. In der Folge habe ich eingesehen, daß ich in diesem Punkte parteiisch urteilte. Er war hochgewachsen, wohlgestaltet und schlank, hatte ein längliches, immer blasses Gesicht, blondes Haar und große, blaue, sanfte, nachdenkliche Augen, in denen manchmal plötzlich die gutherzigste, kindlichste Heiterkeit aufleuchtete. Seine vollen, kleinen, roten, sehr schön geschnittenen Lippen zeigten fast immer einen ernsten Zug; um so überraschender und bezaubernder wirkte ein plötzlich auf ihnen erscheinendes Lächeln, das so naiv und gutmütig war, daß der andere, in welcher Gemütsstimmung er sich auch befinden mochte, ein unmittelbares Bedürfnis empfand, zur Erwiderung ganz ebenso zu lächeln wie er. Er kleidete sich nicht auffallend, aber immer elegant; es war deutlich zu sehen, daß ihn diese Eleganz in allen Dingen nicht die geringste Mühe kostete, sondern ihm angeboren war.

Allerdings besaß er auch einige üble Eigenschaften, einige schlechte Gewohnheiten des guten Tons: Leichtsinn, Selbstgefälligkeit, höfliche Dreistigkeit. Aber er hatte ein klares, schlichtes Gemüt und war selbst der erste, diese Gewohnheiten an sich zu erkennen, sie zu bereuen und sich darüber lustig zu machen. Mir scheint, dieses Kind hätte niemals, nicht einmal im Scherze, lügen können, und selbst wenn er es getan hätte, so doch ohne zu ahnen, daß das etwas Schlechtes sei. Sogar sein Egoismus hatte etwas Reizvolles, vielleicht besonders deswegen, weil er ganz offen und nicht versteckt war. Verstecktes war überhaupt nicht an ihm. Er war schwach, zutraulich und schüchtern; an Willenskraft mangelte es ihm durchaus. Ihn zu kränken, zu betrügen wäre sündhaft und unwürdig gewesen, geradeso wie es sündhaft ist, ein Kind zu betrügen und zu kränken. Er war von einer Naivität, die zu seinem Lebensalter wenig stimmte, und verstand fast nichts vom wirklichen Leben; übrigens meine ich, daß er auch im Alter von vierzig Jahren noch nichts davon verstanden hätte. Solche Menschen sind sozusagen zu lebenslänglicher Unmündigkeit verurteilt. Ich glaube, es mußte ihn jeder Mensch liebgewinnen; er schmeichelte sich bei einem ein wie ein Kind. Natascha hatte die Wahrheit gesagt: er wäre imstande gewesen, auch eine schlechte Handlung zu begehen, wenn der starke Einfluß eines andern ihn dazu veranlaßt hätte; aber sobald er die Folgen einer solchen Handlung erkannt hätte, wäre er, meine ich, vor Reue gestorben. Natascha fühlte instinktiv, daß sie seine Herrin und Gebieterin sein werde, ja sogar er ihr Opfer. Sie kostete im voraus die Wonne, sinnlos zu lieben und den Geliebten gerade zur Strafe dafür, daß man ihn liebt, grausam zu quälen, und eilte vielleicht eben deswegen, sich ihm zuerst zum Opfer zu bringen. Aber auch in seinen Augen glänzte Liebe, und er schaute sie voll Entzücken an. Sie warf mir einen triumphierenden Blick zu. Sie hatte in diesem Augenblick alles vergessen: die Eltern und den Abschied und die Verdächtigungen . . . Sie war glücklich.

»Wanja«, rief sie, »ich habe ihm unrecht getan und bin seiner nicht wert! Ich dachte, du würdest nicht mehr kommen, Aljoscha. Vergiß meine schlechten Gedanken, Wanja! Ich werde es wiedergutmachen!« fügte sie, ihn mit grenzenloser Liebe anblickend, hinzu.

Er lächelte, küßte ihr die Hand und sagte, ohne ihre Hand loszulassen, zu mir gewendet:

»Denken Sie auch von mir nicht schlecht! Schon längst hatte ich gewünscht, Sie wie einen Bruder zu umarmen; sie hat mir soviel von Ihnen erzählt! Wir sind ja bisher kaum miteinander bekannt geworden und einander noch nicht nähergetreten. Wir werden Freunde sein, und . . . verzeihen Sie uns!« fügte er halblaut, ein wenig errötend, hinzu, aber mit einem so prächtigen Lächeln, daß ich nicht anders konnte, als seine Begrüßung von ganzem Herzen zu erwidern.

»Ja, ja, Aljoscha«, sagte Natascha, »er ist der Unsrige; er ist unser Bruder; er hat uns schon verziehen, und ohne ihn können wir nicht glücklich sein. Das habe ich dir schon gesagt . . . Ach, wir sind schlimme Kinder, Aljoscha! Aber wir werden zu dreien leben . . . Wanja«, fuhr sie fort, und ihre Lippen bebten, »kehre du jetzt gleich zu ihnen nach Hause zurück; du hast ein so goldenes Herz: wenn sie sehen, daß du mir verziehen hast, werden auch sie vielleicht, wenn sie mir auch nicht verzeihen, doch wenigstens etwas milder gegen mich gestimmt werden. Erzähle ihnen alles, alles, in deiner eigenen, herzlichen Ausdrucksweise; du wirst schon die richtigen Worte finden . . . Verteidige mich, rette mich; teile ihnen alle Gründe mit; lege ihnen alles so dar, wie du es selbst verstanden hast. Weißt du, Wanja, ich hätte mich zu diesem Schritt vielleicht nicht entschlossen, wenn es sich nicht zufällig so getroffen hätte, daß du heute mit mir gingst! Du bist meine Rettung: ich habe gleich auf dich meine Hoffnung gesetzt, daß du verstehen würdest, ihnen die Sache so mitzuteilen, daß ihnen wenigstens der erste Schreck etwas gemildert wird. O mein Gott, mein Gott! . . . Bestelle ihnen von mir, ich wüßte, daß ich jetzt keine Verzeihung mehr finden kann und daß, wenn sie mir auch verziehen, Gott mir nicht verzeihen wird; aber wenn sie mich auch verfluchten, so würde ich sie doch mein Leben lang segnen und für sie beten. Mein ganzes Herz ist bei ihnen! Ach, warum können wir nicht alle glücklich sein! Warum nicht, warum nicht! . . . O Gott, was habe ich getan!« rief sie plötzlich, als ob sie zur Besinnung käme, und am ganzen Leib vor Angst zitternd, verbarg sie das Gesicht in den Händen.

Aljoscha umarmte sie und drückte sie, ohne zu reden, fest an seine Brust. Eine Weile schwiegen wir alle.

»Wie konnten Sie nur ein solches Opfer von ihr verlangen!« sagte ich, indem ich ihn vorwurfsvoll anblickte.

»Schelten Sie mich nicht!« versetzte er; »ich versichere Ihnen, daß alle diese Leiden, so drückend sie jetzt auch sind, doch nur einen Augenblick dauern werden. Ich bin davon fest überzeugt. Man muß nur die nötige Festigkeit besitzen, um diesen Augenblick zu ertragen; dasselbe hat auch sie mir gesagt. Sie wissen wohl: schuld an alledem ist dieser Familienstolz, dieser ganz unnötige Streit und dann noch dieser Prozeß! . . . Aber (ich habe lange darüber nachgedacht, versichere ich Sie) . . . all das wird in Bälde ein Ende finden. Wir alle werden wieder einig werden und dann völlig glücklich sein; sogar die Väter werden sich versöhnen, wenn sie uns junges Paar ansehen. Wer kann's wissen, vielleicht wird gerade unsere Verheiratung den Ausgangspunkt für ihre Versöhnung bilden. Ich glaube, es kann gar nicht anders sein. Was meinen Sie?«

»Sie sagen Verheiratung. Wann werden Sie sich denn trauen lassen?« fragte ich und blickte dabei zu Natascha hin.

»Morgen oder übermorgen; spätestens übermorgen, bestimmt. Sehen Sie, ich weiß es selbst noch nicht genau und habe, die Wahrheit zu sagen, noch keine Veranstaltungen dazu getroffen. Ich dachte, Natascha würde heute vielleicht noch gar nicht kommen. Außerdem wollte mich mein Vater heute durchaus zu einer jungen Dame führen (er möchte, daß ich sie heirate; Natascha hat Ihnen wohl davon gesagt; aber ich will nicht). Na also, darum habe ich alles noch nicht bestimmt in Aussicht nehmen können. Aber dennoch werden wir uns bestimmt übermorgen trauen lassen. Wenigstens ist das meine Ansicht, weil es ja auch nicht anders sein kann. Gleich morgen wollen wir auf der Pskower Chaussee wegfahren. Da habe ich nicht weit von hier auf einem Gut einen Schulkameraden vom Lyzeum her, einen sehr guten Menschen; vielleicht kann ich Sie mit ihm bekannt machen. Dort in dem Dorf ist auch ein Geistlicher; übrigens weiß ich nicht genau, ob einer da ist. Ich hätte mich vorher erkundigen sollen, aber ich bin nicht dazu gekommen. Aber im Grunde sind das Kleinigkeiten. Man muß nur die Hauptsache im Auge behalten. Man kann ja auch aus irgendeinem benachbarten Kirchdorf einen Geistlichen holen lassen; was meinen Sie? Es wird ja doch da in der Nachbarschaft Kirchdörfer geben! Schade ist nur, daß ich bisher nicht dazu gekommen bin, ein paar Zeilen dorthin zu schreiben; ich hätte meinen Freund vorher benachrichtigen sollen. Vielleicht ist er jetzt gar nicht zu Hause . . . Aber das ist alles nicht von Wichtigkeit! Wenn man nur Entschlossenheit besitzt, dann macht sich das alles ganz von selbst, nicht wahr? Inzwischen aber, bis morgen oder höchstens bis übermorgen, wird sie hier bei mir bleiben. Ich habe eine eigene Wohnung gemietet, in der wir nach unserer Rückkehr wohnen wollen. Bei meinem Vater möchte ich nicht mehr wohnen; habe ich nicht recht? Ich hoffe, Sie werden uns da besuchen. Ich habe die Wohnung allerliebst eingerichtet. Meine früheren Schulkameraden werden auch hinkommen; ich werde Abendgesellschaften geben . . .«

Ich blickte ihn erstaunt und kummervoll an. Natascha flehte mich mit einem Blick an, ihn nicht zu streng zu richten und mit ihm Nachsicht zu haben. Sie hörte sein Gerede mit einem traurigen Lächeln an und betrachtete ihn gleichzeitig mit einer Art von liebevollem Wohlgefallen, wie man ein liebenswürdiges, heiteres Kind ansieht und sein unverständiges, aber nettes Geplauder anhört. Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Das Herz wurde mir unerträglich schwer.

»Aber Ihr Vater?« fragte ich. »Sind Sie denn so fest davon überzeugt, daß er Ihnen verzeihen wird?«

»Unbedingt; was soll er denn sonst tun? Das heißt, zuerst wird er mich selbstverständlich verfluchen; davon bin ich sogar überzeugt. Das liegt eben in seinem Wesen; und er ist überhaupt streng gegen mich. Kurz, er wird seine väterliche Gewalt zur Anwendung bringen. Aber all das braucht man nicht ernst zu nehmen. Er liebt mich sinnlos; er wird ein bißchen zürnen und dann verzeihen. Dann werden sich alle versöhnen, und wir werden alle glücklich sein. Auch Nataschas Vater.«

»Aber wenn er Ihnen nun nicht verzeiht? Haben Sie auch diesen Fall in Erwägung gezogen?«

»Er wird mir unfehlbar verzeihen, nur vielleicht nicht so bald. Nun wohl, dann werde ich ihm zeigen, daß auch ich Charakterfestigkeit besitze. Er schilt mich immer, ich hätte keine Charakterfestigkeit, ich sei leichtsinnig. Jetzt soll er einmal sehen, ob ich leichtsinnig bin oder nicht. Ehemann zu werden, das ist ja kein Spaß; dann werde ich kein Knabe mehr sein . . . das heißt, ich wollte sagen: ich werde dann ebenso ein Mensch sein wie die andern . . . wie die Ehemänner. Ich werde von meiner Arbeit leben. Natascha sagt, daß das viel besser ist, als aus fremder Tasche zu leben, wie wir das alle tun. Wenn Sie nur wüßten, wieviel Gutes und Kluges sie zu mir sagt! Ich wäre auf diesen Gedanken niemals gekommen; ich bin in einer anderen Anschauung aufgewachsen und anders erzogen worden. Ich weiß freilich selbst, daß ich leichtsinnig und fast zu nichts tauglich bin; aber wissen Sie, vorgestern ist mir ein wunderbarer Gedanke gekommen. Es ist jetzt allerdings nicht recht Zeit dazu; aber ich will es Ihnen doch mitteilen, weil auch Natascha es hören muß und Sie uns Rat geben sollen. Sehen Sie, ich will Novellen schreiben und sie an die Journale verkaufen, so wie Sie das tun. Sie werden mir bei den Redakteuren der Journale behilflich sein, nicht wahr? Ich habe auf Sie gerechnet und gestern die ganze Nacht über einen Roman nachgedacht, so probeweise, und wissen Sie: er könnte sehr hübsch werden. Den Stoff habe ich einem Scribeschen Lustspiel entnommen . . . Aber das werde ich Ihnen ein andermal erzählen. Die Hauptsache ist, daß man Geld dafür bekommt; Sie bekommen ja doch auch welches!«

Ich konnte mich nicht enthalten zu lächeln.

»Sie lachen«, sagte er, ebenfalls lächelnd. »Nein, hören Sie«, fügte er mit unbegreiflicher Naivität hinzu, »beurteilen Sie mich nicht nach dem äußeren Schein; ich besitze wirklich eine außerordentlich gute Beobachtungsgabe; nun, Sie werden ja selbst sehen. Warum sollte ich nicht den Versuch machen? Vielleicht kommt etwas Hübsches dabei heraus . . . Übrigens, Sie mögen recht haben: ich verstehe ja nichts vom wirklichen Leben; Natascha sagt mir das auch; und das sagen mir alle Leute; was werde ich da als Schriftsteller leisten? Lachen Sie mich aus, lachen Sie mich aus, aber verhelfen Sie mir zur Besserung; Sie werden das ja auch für sie tun, und Sie lieben sie ja. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: ich bin ihrer nicht wert; das fühle ich; das bedrückt mich sehr, und ich weiß nicht, weswegen sie mich so liebgewonnen hat. Aber ich glaube, ich könnte mein ganzes Leben für sie hingeben! Wirklich, ich habe bis auf diesen Augenblick keine Furcht gehabt, aber jetzt habe ich Furcht: was beginnen wir da! O Gott! Wenn ein Mensch sich mit Leib und Seele seiner Pflicht hingibt, ist es dann möglich, daß es ihm unglücklicherweise gerade an der zur Erfüllung dieser seiner Pflicht erforderlichen Klugheit und Charakterfestigkeit mangelt? Helfen wenigstens Sie uns, Sie, unser Freund! Sie sind der einzige Freund, der uns geblieben ist. Ich verstehe ja nichts, wenn ich auf mich allein angewiesen bin! Verzeihen Sie, daß ich in dieser Weise auf Sie rechne; ich halte Sie für einen sehr vornehm denkenden Menschen und glaube, daß Sie weit besser sind als ich. Aber ich werde mich bessern, davon mögen Sie überzeugt sein, und werde Ihrer und Nataschas würdig werden.«

Hier drückte er mir wieder die Hand, und aus seinen schönen Augen leuchtete ein gutes, edles Gefühl. Vertrauensvoll streckte er mir die Hand hin, in der Überzeugung, daß ich sein Freund sei.

»Sie wird mir helfen, mich zu bessern«, fuhr er fort. »Denken Sie übrigens von uns nichts Schlechtes, und ängstigen Sie sich um uns nicht allzusehr! Ich habe doch viele gute Aussichten, und in materieller Hinsicht werden wir völlig gesichert sein. Wenn es mir mit dem Roman nicht gelingen sollte (und um die Wahrheit zu gestehen, ich habe schon vorhin gedacht, daß der Roman eine Dummheit ist, und habe Ihnen jetzt davon nur erzählt, um Ihre Meinung zu hören), wenn es mir mit dem Roman nicht gelingen sollte, so kann ich schlimmstenfalls Musikstunden geben. Sie haben wohl nicht gewußt, daß ich musikalisch bin? Ich werde mich nicht schämen, auch von solcher Arbeit zu leben. Ich bin in diesem Punkt durchaus ein Anhänger der neuen Ideen. Und außerdem besitze ich eine Menge wertvoller Schmucksachen und Toilettengegenstände; was habe ich von denen? Ich werde sie verkaufen, und Sie sollen mal sehen, wie lange wir von dem Erlös leben werden! Schließlich, im allerschlimmsten Fall, werde ich vielleicht wirklich in den Staatsdienst treten. Darüber wird sich mein Vater sogar freuen: er drängt mich immer, ein Amt zu übernehmen, und ich habe mich bisher immer mit Kränklichkeit ausgeredet. (Übrigens werde ich in irgendeinem Ressort bereits in den Listen geführt.) Aber wenn er sehen wird, daß die Heirat mir Vorteil gebracht und mich zu einem gesetzten Menschen gemacht hat und daß ich tatsächlich in den Dienst getreten bin, wird er sich freuen und mir verzeihen . . .«

»Aber, Alexej Petrowitsch, haben Sie auch wohl bedacht, wie schrecklich sich jetzt das Verhältnis zwischen Ihrem und Nataschas Vater gestalten wird? Was meinen Sie, wie es heute abend in Nataschas Elternhaus zugehen wird?«

Ich wies dabei auf Natascha hin, die bei meinen Worten leichenblaß geworden war. Ich war erbarmungslos.

»Ja, ja, Sie haben recht; es ist schrecklich!« antwortete er. »Ich habe schon daran gedacht, und das Herz hat mir weh getan . . . Aber was soll ich tun? Sie haben recht: wenn doch wenigstens ihre Eltern uns verziehen! Wenn Sie wüßten, wie ich sie beide liebe! Haben sie mich doch ganz so behandelt, als ob sie meine Eltern wären, und nun vergelte ich es ihnen so! Ach, diese Streitigkeiten, diese Prozesse! Sie glauben gar nicht, wie unangenehm uns das jetzt ist! Und um was streiten sie sich! Wir alle lieben einander ja so sehr, und doch streiten wir uns! Sie sollten sich versöhnen; dann wäre die Sache erledigt! Wirklich, so würde ich an ihrer Stelle handeln . . . Ihre Worte haben mir einen ordentlichen Schreck eingejagt. Natascha, es ist etwas Schreckliches, was wir beide jetzt vorhaben! Ich habe das auch schon früher gesagt . . . Du bestehst selbst darauf . . . Aber hören Sie, Iwan Petrowitsch, vielleicht kann das alles zum Guten führen; was meinen Sie? Endlich müssen sie sich ja doch versöhnen! Wir werden die Versöhnung herbeiführen. So wird es sein, unfehlbar; sie werden gegen unsere Liebe nicht standhalten . . . Mögen sie uns verfluchen; wir werden doch fortfahren, sie zu lieben, und sie werden nicht standhalten können. Sie glauben gar nicht, was für ein gutes Herz mein Vater manchmal hat! Er sieht ja oft so finster aus; aber zu anderen Zeiten ist er wieder außerordentlich nett. Wenn Sie wüßten, wie freundlich er heute zu mir gesprochen und mich zu überreden gesucht hat! Und gerade heute handle ich seinem Willen zuwider; das macht mich sehr traurig. Und alles wegen dieser abgeschmackten vorgefaßten Meinungen! Es ist der reine Wahnsinn! Wenn er sie nur einmal ordentlich sähe und auch nur eine halbe Stunde mit ihr zusammen wäre! Dann würde er uns sofort alles erlauben.«

Bei diesen Worten blickte Aljoscha zärtlich und leidenschaftlich Natascha an.

»Tausendmal habe ich es mir mit Entzücken vorgestellt«, fuhr er in seinem Geplauder fort, »wie lieb er sie gewinnen wird, wenn er sie kennenlernt, und wie sie alle in Erstaunen versetzen wird. Es hat ja keiner von ihnen jemals ein solches Mädchen gesehen! Mein Vater ist der Überzeugung, daß sie einfach eine Intrigantin ist. Es ist meine Pflicht, ihre Ehre wiederherzustellen, und das werde ich tun! Ach, Natascha! Alle werden sie dich lieben, alle; es gibt keinen Menschen, der es fertigbringen könnte, dich nicht zu lieben«, fügte er entzückt hinzu. »Ich bin deiner zwar unwert, aber liebe mich trotzdem, Natascha; dann werde ich schon . . . du kennst mich ja! Und brauchen wir denn viel zu unserm Glück? Nein, ich glaube, ich glaube fest, daß dieser Abend uns allen Glück und Frieden und Eintracht bringen wird! Gesegnet sei dieser Abend! Nicht wahr, Natascha? Aber was ist dir? Mein Gott, was ist dir?«

Sie war leichenblaß. Die ganze Zeit über, während Aljoscha schwatzte, hatte sie ihn unverwandt angesehen; aber ihr Blick war immer trüber und starrer geworden, ihr Gesicht immer blasser und blasser. Es kam mir vor, als ob sie zuletzt gar nichts mehr vernähme, sondern sich in einem Zustand der Geistesabwesenheit befände. Aljoschas Ausruf schien sie plötzlich aufzuwecken. Sie kam zur Besinnung, blickte um sich und stürzte plötzlich auf mich zu. Schnell und hastig, und wie wenn sie es vor Aljoscha verbergen wollte, zog sie einen Brief aus der Tasche und reichte ihn mir. Der Brief war an ihre Eltern gerichtet und schon am vorhergehenden Abend geschrieben. Während sie ihn mir gab, blickte sie mich starr an, als ob sie ihren Blick nicht von mir losreißen könne. In diesem Blicke sprach sich die vollste Verzweiflung aus; ich werde diesen furchtbaren Blick nie vergessen. Eine namenlose Angst packte mich; ich sah, daß ihr erst jetzt die Tragweite ihres Schrittes in seiner ganzen Furchtbarkeit zum Bewußtsein kam. Sie machte Anstrengungen, mir etwas zu sagen, und begann auch wirklich zu reden, fiel aber auf einmal in Ohnmacht. Ich konnte sie noch auffangen. Aljoscha wurde blaß vor Schrecken; er rieb ihr die Schläfen, küßte ihr die Hände und den Mund. Nach etwa zwei Minuten kam sie wieder zu sich. Nicht weit davon hielt die Droschke, in der Aljoscha gekommen war; er rief sie herbei. Als Natascha einstieg, ergriff sie, wie von Sinnen, meine Hand, und eine heiße Träne brannte auf meinen Fingern. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich stand noch lange auf demselben Fleck und folgte ihm mit den Augen. Dieser Augenblick vernichtete mein ganzes Glück und zerstörte mein Leben. Das fühlte ich mit Schmerz . . . Langsam wanderte ich denselben Weg zurück zu den alten Eltern. Ich wußte nicht, was ich ihnen sagen, wie ich zu ihnen hereintreten sollte. Meine Denkkraft war erstorben; die Beine wankten mir . . .

Das ist die ganze Geschichte meines Glückes; so endete und schloß meine Liebe. Jetzt werde ich in der unterbrochenen Erzählung fortfahren.


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