F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Viertes Kapitel

Ich war noch nicht auf die Straße gelangt und war noch nicht darüber ins klare gekommen, was ich jetzt tun solle, als ich auf einmal sah, daß vor unserem Tor eine Droschke anhielt und aus dieser Droschke Alexandra Semjonowna ausstieg, die Nelly an der Hand führte. Sie hielt sie fest, als fürchtete sie, daß sie zum zweitenmal davonlaufen könnte. Ich stürzte auf die beiden los.

»Nelly, was ist nur mit dir!« rief ich. »Wo bist du hingegangen, und warum?«

»Warten Sie, keine Überhastung; kommen Sie so schnell wie möglich in Ihre Wohnung; da sollen Sie alles erfahren«, sagte Alexandra Semjonowna mit ihrem flinken Mundwerk. »Was ich Ihnen für Dinge erzählen werde, Iwan Petrowitsch!« flüsterte sie mir eilig im Gehen zu. »Sie werden staunen! . . . Kommen Sie nur; Sie sollen sogleich alles hören.«

Man konnte ihr am Gesicht ansehen, daß sie sehr wichtige Neuigkeiten zu erzählen hatte.

»Geh, Nelly, geh, leg dich ein bißchen hin!« sagte sie, als wir in die Wohnung traten. »Du bist gewiß müde; das ist keine Kleinigkeit, wieviel du umhergelaufen bist, und nach der Krankheit strengt das an; leg dich hin, liebes Kind, leg dich hin! Wir beide aber wollen ein Weilchen hinausgehen und sie nicht stören; mag sie schlafen!«

Sie blinzelte mir zu, ich möchte mit ihr hinauskommen, in die Küche.

Aber Nelly legte sich nicht hin; sie setzte sich auf das Sofa und verbarg das Gesicht in beiden Händen.

Wir gingen hinaus, und Alexandra Semjonowna erzählte mir geschwind, was sich zugetragen hatte. Später erfuhr ich noch weitere Einzelheiten. Das Ganze hatte sich folgendermaßen begeben.

Als Nelly zwei Stunden vor meiner Rückkehr aus meiner Wohnung weggegangen war und mir den Zettel zurückgelassen hatte, lief sie zuerst zu dem alten Arzt. Seine Adresse hatte sie schon vorher in Erfahrung gebracht. Der Arzt erzählte mir, er sei ganz starr gewesen, als er Nelly bei sich erblickt habe, und habe die ganze Zeit, während sie bei ihm gewesen sei, seinen Augen nicht getraut. »Ich glaube es auch jetzt noch nicht«, fügte er am Schluß seiner Erzählung hinzu, »und werde es niemals glauben.« Und doch war Nellys Besuch bei ihm eine Tatsache. Er saß ruhig in seinem Zimmer, in seinem Lehnstuhl, im Schlafrock, beim Kaffee, als sie hereingelaufen kam und, bevor er hatte zur Besinnung kommen können, sich an seine Brust warf. Sie weinte, umarmte und küßte ihn, küßte ihm die Hände und bat ihn inständig, wiewohl in unzusammenhängenden Worten, er möchte sie zu sich ins Haus nehmen; sie sagte, sie wolle und könne nicht mehr mit mir zusammen leben; daher sei sie von mir weggegangen; es sei ihr sehr schmerzlich; sie wolle sich nie mehr über ihn lustig machen und nie mehr von neuen Kleidern reden und werde sich gut betragen und aus den Büchern lernen und werde auch lernen, ihm seine Vorhemden zu waschen und zu plätten (wahrscheinlich hatte sie sich ihre ganze Rede unterwegs zurechtgelegt, vielleicht auch schon früher), und sie werde auch gehorsam sein und sogar jeden Tag so viele Pulver einnehmen, wie er wolle. Und wenn sie früher einmal gesagt habe, daß sie ihn heiraten wolle, so sei das nur Scherz gewesen; sie denke gar nicht daran. Der alte Deutsche war so betäubt, daß er die ganze Zeit über mit offenem Mund dasaß, die Hand, in der er die Zigarre hatte, in die Höhe hielt und die Zigarre vergaß, so daß sie ihm ausging.

»Mademoiselle«, sagte er endlich, nachdem er den Gebrauch seiner Zunge einigermaßen wiedererlangt hatte, »Mademoiselle, soweit ich Sie verstanden habe, bitten Sie mich, ich möchte Sie bei mir wohnen lassen. Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Sie sehen, ich wohne sehr beschränkt und habe keine große Einnahme . . . Und überhaupt, so plötzlich, ohne vorhergehende Überlegung . . . Es ist schrecklich! Und überhaupt sind Sie, soviel ich sehe, von zu Hause weggelaufen. Das ist sehr tadelnswert und unzulässig . . . Und überhaupt habe ich Ihnen nur erlaubt, ein wenig spazierenzugehen, bei heiterem Wetter, unter Aufsicht Ihres Wohltäters; und da verlassen Sie Ihren Wohltäter und kommen zu mir gelaufen, während Sie doch Ihre Gesundheit in acht nehmen sollten. Und überhaupt . . . überhaupt, ich verstehe die ganze Sache nicht . . .«

Nelly ließ ihn nicht ausreden. Sie fing von neuem an zu weinen und ihn anzuflehen; aber nichts half. Der Alte geriet in immer größeres Erstaunen und begriff die Geschichte immer weniger. Schließlich gab Nelly es auf, rief: »Ach, mein Gott!« und lief aus dem Zimmer. »Ich war den ganzen Tag krank«, fügte der Arzt am Schluß seiner Erzählung hinzu, »und mußte zur Nacht Medizin einnehmen.«

Nelly aber lief zu Masslobojews. Sie hatte sich auch deren Adresse vorher verschafft und fand zu ihnen hin, wiewohl nur mit Mühe. Masslobojew war zu Hause. Alexandra Semjonowna schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Nellys Bitte, sie zu sich zu nehmen, hörte. Auf ihre Fragen, warum sie das denn wolle, ob sie es denn bei mir so schlecht habe, gab Nelly keine Antwort und warf sich schluchzend auf einen Stuhl. »Sie schluchzte so furchtbar, so furchtbar«, erzählte mir Alexandra Semjonowna, »daß ich dachte, sie werde davon sterben.« Nelly bat, sie wenigstens als Stubenmädchen, als Köchin zu nehmen, sagte, sie werde ausfegen und werde Wäsche waschen lernen. (Auf dieses Wäschewaschen gründete sie, wie es schien, besondere Hoffnungen und hielt das aus irgendwelchem Grund für das stärkste Lockmittel zu ihrer Aufnahme.) Alexandra Semjonownas Meinung war, sie bis zur Aufklärung der Sache bei sich zu behalten und mir Nachricht zu geben. Aber Filipp Filippowitsch widersetzte sich dem entschieden und befahl, den Flüchtling sogleich wieder zu mir zu bringen. Unterwegs umarmte Alexandra Semjonowna sie und küßte sie, wovon Nelly noch heftiger zu weinen anfing. Bei diesem Anblick brach auch Alexandra Semjonowna in Tränen aus. So weinten sie beide auf dem ganzen Weg.

»Aber warum in aller Welt, warum willst du denn nicht bei ihm wohnen bleiben? Hat er dir denn etwas zuleide getan, wie?« fragte Alexandra Semjonowna, in Tränen zerfließend.

»Nein, er tut mir nichts zuleide.«

»Nun, also warum denn?«

»Einen Grund habe ich nicht; aber ich will nicht bei ihm wohnen bleiben . . . ich kann es nicht . . . ich bin immer so schlecht gegen ihn . . . und er ist so gut . . . aber bei Ihnen werde ich nicht schlecht sein; ich werde arbeiten«, sagte sie unter krampfhaftem Schluchzen.

»Warum bist du denn gegen ihn so schlecht, Nelly?«

»Einen Grund habe ich nicht . . .«

»Weiter als dieses ›einen Grund habe ich nicht‹ konnte ich von ihr nichts herausbekommen«, schloß Alexandra Semjonowna ihren Bericht und wischte sich die Tränen ab. »Was ist sie für ein armes, unglückliches Wesen! Das ist wohl eine Art von Kinderkrankheit? Wie denken Sie darüber, Iwan Petrowitsch?«

Wir gingen zu Nelly hinein; sie lag auf dem Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben, und weinte. Ich kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und küßte sie. Sie entriß mir ihre Hände und begann noch heftiger zu schluchzen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In diesem Augenblick trat der alte Ichmenew ins Zimmer.

»Guten Tag, Wanja, ich komme in einer besonderen Angelegenheit«, sagte er, während er uns alle musterte und mich mit Erstaunen auf den Knien liegen sah.

Der alte Mann war die ganze letzte Zeit über krank gewesen. Er war blaß und mager, machte aber den Eindruck, als wolle er vor jemand den Tapferen spielen. Er hatte seine Krankheit vernachlässigt, auf Anna Andrejewnas Ermahnungen nicht gehört und sich nicht ins Bett gelegt, sondern seine Geschäftsgänge fortgesetzt.

»Adieu einstweilen«, sagte Alexandra Semjonowna, indem sie den Alten aufmerksam ansah. »Filipp Filippowitsch hat mir befohlen, so bald wie möglich zurückzukommen. Es ist bei uns viel zu tun. Aber am Abend, so in der Dämmerzeit, werde ich wieder herkommen und ein paar Stündchen hier sitzen.«

»Wer ist das?« flüsterte mir der Alte zu, der aber anscheinend mit anderen Gedanken beschäftigt war.

Ich gab ihm Auskunft.

»Hm! Ich bin in einer besonderen Angelegenheit hergekommen, Wanja . . .«

Ich wußte, was das für eine Angelegenheit war, und hatte seinen Besuch schon erwartet. Er kam, um sich mit mir und Nelly zu besprechen und mich zu bitten, ich möchte Nelly zu ihnen ziehen lassen. Anna Andrejewna hatte endlich eingewilligt, die Waise in ihr Haus zu nehmen. Hierzu hatte sie sich infolge unserer geheimen Gespräche entschlossen: ich hatte Anna Andrejewna zu der Ansicht gebracht, daß der Anblick der Waise, deren Mutter ebenfalls von ihrem Vater verflucht worden war, vielleicht das Herz unseres Alten umstimmen werde. Ich hatte ihr meinen Plan so überzeugend entwickelt, daß sie jetzt selbst in ihren Mann drang, die Waise ins Haus zu nehmen. Der Alte machte sich bereitwillig ans Werk: er wollte erstens seiner Anna Andrejewna gefällig sein, und zweitens hatte er seine besonderen Absichten . . . Aber all das werde ich später ausführlicher darlegen.

Ich sagte bereits, daß Nelly den alten Mann schon seit seinem ersten Besuch nicht leiden konnte. Später bemerkte ich, daß sich sogar eine Art von Haß auf ihrem Gesicht ausprägte, wenn Ichmenews Name in ihrer Gegenwart genannt wurde. Der Alte kam sofort, ohne Umschweife, zur Sache. Er trat ohne weiteres zu Nelly heran, die immer noch dalag und ihr Gesicht in die Kissen drückte, faßte sie an der Hand und fragte sie, ob sie zu ihm ziehen und wie eine Tochter bei ihm leben wolle.

»Ich hatte eine Tochter, die ich mehr liebte als mich selbst«, schloß der Alte; »aber jetzt ist sie nicht mehr bei mir. Sie ist gestorben. Willst du ihren Platz in meinem Haus und . . . in meinem Herzen einnehmen?«

Und in seinen von der Fieberhitze trockenen und entzündeten Augen glänzte eine Träne.

»Nein, ich will nicht«, antwortete Nelly, ohne den Kopf in die Höhe zu heben.

»Warum denn nicht, mein Kind? Du hast ja niemanden auf der Welt. Wanja kann dich nicht lebenslänglich bei sich behalten; bei mir aber wirst du wie im Elternhaus sein.«

»Ich will nicht, weil Sie ein schlechter Mensch sind. Ja, ein schlechter Mensch, ein schlechter Mensch«, wiederholte sie, indem sie den Kopf aufhob und sich auf dem Bett, dem Alten gegenüber, aufrecht setzte. »Ich bin selbst schlecht, schlechter als alle; aber Sie sind noch schlechter als ich! . . .«

Bei diesen Worten wurde Nelly ganz blaß; ihre Augen funkelten; sogar ihre zitternden Lippen erblaßten und verzogen sich unter der Einwirkung des starken Affekts. Der Alte sah sie erstaunt an.

»Ja, noch schlechter als ich; denn Sie wollen Ihrer Tochter nicht verzeihen; Sie wollen sie ganz vergessen und nehmen ein anderes Kind zu sich; aber kann man denn etwa sein eigenes Kind vergessen? Werden Sie mich etwa lieben können? Sobald Sie mich ansehen, werden Sie sich ja erinnern, daß ich Ihnen eine Fremde bin und daß Sie eine eigene Tochter hatten, die Sie selbst vergessen haben, weil Sie ein grausamer Mensch sind. Ich will aber nicht bei grausamen Menschen leben; ich will es nicht, ich will es nicht! . . .«

Nelly schluchzte und sah mit einem kurzen Blick nach mir hin.

»Übermorgen ist Christi Auferstehungsfest; alle Menschen umarmen sich und küssen sich; alle versöhnen sich; alle Vergehen werden verziehen . . . Das weiß ich recht wohl . . . Nur Sie . . . nur Sie . . . oh, Sie grausamer Mensch! Gehen Sie weg!«

Sie zerfloß in Tränen. Diese Rede hatte sie sich, wie es schien, schon lange vorher zurechtgelegt und auswendig gelernt, für den Fall, daß der alte Mann sie noch einmal auffordern sollte, zu ihm zu ziehen. Der Alte war überrascht; er war ganz blaß geworden. Eine tiefschmerzliche Empfindung prägte sich auf seinem Gesicht aus.

»Und wozu, wozu, warum kümmern sich alle soviel um mich? Ich mag das nicht, ich mag das nicht!« rief Nelly auf einmal in einem Wutanfall. »Ich werde betteln gehen!«

»Nelly, was ist dir? Nelly, mein liebes Kind!« rief ich unwillkürlich, goß aber durch meinen Ausruf nur Öl ins Feuer.

»Ja, ich werde lieber auf den Straßen umhergehen und betteln; aber hier werde ich nicht bleiben!« schrie sie schluchzend. »Auch meine Mutter hat gebettelt, und als sie starb, hat sie selbst zu mir gesagt: ›Sei arm und bettle lieber, als daß du . . .‹ Zu betteln ist keine Schande; ich bitte ja nicht einen einzelnen, ich bitte alle, und alle sind nicht ein einzelner. Einen einzelnen zu bitten, das ist eine Schande; aber alle zu bitten, das ist keine Schande; das hat mir eine Bettlerin gesagt. Ich bin ja noch klein und kann mir mein Brot nicht verdienen. Ich werde alle bitten; ich will nicht, ich will nicht; ich bin schlecht; ich bin schlechter als alle; seht nur, wie schlecht ich bin!«

Und Nelly ergriff auf einmal, für uns alle ganz unerwartet, eine auf dem Tisch stehende Tasse und warf sie auf den Fußboden.

»Da, jetzt ist sie zerbrochen!« sagte sie dann und blickte mich mit einer Art von herausforderndem Triumph an. »Es sind überhaupt nur zwei Tassen da«, fuhr sie fort; »ich werde auch die andere zerschlagen . . . Woraus werden Sie dann Ihren Tee trinken?«

Sie war wie eine Rasende und schien geradezu einen Genuß an dieser Raserei zu finden, wie wenn sie sich der Häßlichkeit und Schändlichkeit eines solchen Benehmens bewußt wäre, gleichzeitig aber sich selbst zu weiteren derartigen Tollheiten aufreizte.

»Sie ist krank, Wanja; das ist's!« sagte der Alte; »oder ich verstehe nicht mehr, was das für ein Kind ist. Leb wohl!«

Er ergriff seinen Hut und drückte mir die Hand. Er war ganz niedergeschlagen; Nelly hatte ihn furchtbar gekränkt. Mein ganzes Gefühl empörte sich.

»Und du hast kein Mitleid mit ihm gehabt, Nelly!« rief ich, als wir allein geblieben waren. »Und du schämst dich nicht, du schämst dich nicht! Nein, du bist nicht gut; du bist wirklich schlecht!«

Und ohne Hut, wie ich war, lief ich hinter dem alten Mann her. Ich wollte ihn bis ans Tor bringen und ihm wenigstens ein paar tröstende Worte sagen. Während ich die Treppe hinunterlief, glaubte ich immer noch Nellys Gesicht vor mir zu sehen, das bei meinen Vorwürfen erschreckend blaß geworden war.

Ich holte den alten Ichmenew bald ein.

»Das arme Mädchen hat Schweres durchgemacht; sie hat ihren eigenen Kummer, das kannst du mir glauben, Wanja; und ich fing zu ihr von dem meinigen zu reden an!« sagte er mit bitterem Lächeln. »Ich habe ihre Wunde wieder aufgerissen. Man sagt, der Satte versteht den Hungrigen nicht; aber ich füge hinzu, Wanja, auch der Hungrige versteht den Hungrigen nicht immer. Nun, adieu!«

Ich wollte noch von etwas anderem zu reden anfangen; aber der Alte winkte mir mit der Hand ab.

»Versuche mich nicht aufzuheitern; gib lieber acht, daß dir deine Kleine nicht davonläuft; sie sah geradeso aus«, fügte er mit einer Art von Erbitterung hinzu und entfernte sich von mir mit schnellen Schritten, indem er mit seinem Stock umherschwenkte und auf die Trottoirplatten stieß.

Er ahnte selbst nicht, daß er richtig prophezeit hatte.

Wie wurde mir, als ich bei der Rückkehr in meine Wohnung zu meinem Schrecken Nelly wieder nicht zu Hause fand! Ich stürzte auf den Flur hinaus, suchte sie auf der Treppe, rief, klopfte sogar bei den Nachbarn an und fragte nach ihr; ich konnte und wollte nicht glauben, daß sie wieder weggelaufen sei. Und wie hatte sie weglaufen können? Das Haus hatte nur ein Tor; sie mußte an uns vorbeigelaufen sein, während ich mit dem Alten sprach. Aber bald darauf kombinierte ich zu meiner großen Betrübnis, daß sie sich möglicherweise vorher irgendwo auf der Treppe versteckt und dort gewartet hatte, bis ich auf dem Rückweg nach oben wieder vorbeigekommen war; dann mochte sie davongelaufen sein, so daß ich ihr nicht hatte begegnen können. Jedenfalls konnte sie noch nicht weit gekommen sein.

In starker Unruhe lief ich wieder hinaus auf die Suche; die Wohnung ließ ich für alle Fälle offen.

Zuallererst begab ich mich zu Masslobojews. Diese traf ich nicht zu Hause, weder ihn noch Alexandra Semjonowna. Ich hinterließ für sie einen Zettel, in dem ich sie von dem neuen Unglück benachrichtigte und bat, wenn Nelly zu ihnen käme, es mich unverzüglich wissen zu lassen. Dann ging ich zu dem Arzt; dieser war ebenfalls nicht zu Hause; die Magd sagte mir, daß Nelly nach ihrem ersten Besuch nicht wieder dagewesen sei. Was sollte ich nun tun? Ich begab mich zur Bubnowa und erfuhr von der mir bekannten Sargtischlerfrau, daß die Wirtin seit dem vorhergehenden Tag wegen irgendeines Deliktes auf der Polizei in Arrest sitze, Nelly aber dort ›seit jener Zeit‹ nicht wieder gesehen worden sei. Müde und erschöpft lief ich wieder zu Masslobojews; dieselbe Antwort: es war niemand dagewesen, und auch sie selbst waren noch nicht zurückgekehrt. Mein Zettel lag auf dem Tisch. Was sollte ich anfangen?

In tödlicher Angst machte ich mich spätabends auf den Heimweg. Ich sollte an diesem Abend bei Natascha sein; sie selbst hatte mich schon am Vormittag um meinen Besuch bitten lassen. An diesem Tag hatte ich nicht einmal etwas gegessen; der Gedanke an Nelly hatte meine ganze Seele in Unruhe versetzt.

›Was soll das nur bedeuten?‹ dachte ich. ›Ist das wirklich eine seltsame Folge ihrer Krankheit? Ist sie vielleicht irrsinnig oder im Begriff, irrsinnig zu werden? Aber, mein Gott, wo mag sie jetzt sein? Wo soll ich sie suchen?‹ Kaum hatte ich das überlegt, als ich plötzlich Nelly einige Schritte von mir entfernt auf der Wosnessenskibrücke erblickte. Sie stand an einer Laterne und sah mich nicht. Ich wollte zu ihr hineilen, blieb aber doch stehen. ›Was tut sie denn hier?‹ dachte ich erstaunt, und da ich wußte, daß ich sie jetzt nicht wieder verlieren würde, so beschloß ich, zu warten und sie zu beobachten. Es vergingen zehn Minuten; sie stand immer noch da und musterte die Passanten. Endlich kam ein gut gekleideter, älterer Herr vorbei, und Nelly trat an ihn heran: ohne stehenzubleiben nahm er etwas aus der Tasche und reichte es ihr hin. Sie verbeugte sich vor ihm. Ich bin nicht imstande auszudrücken, was ich in diesem Augenblick empfand. Mein Herz zog sich qualvoll zusammen, wie wenn etwas Teures, das ich geliebt und gehegt und gepflegt hatte, vor meinen Augen entehrt und beschimpft worden wäre; aber zugleich liefen mir die Tränen über die Wangen.

Ja, Tränen über die arme Nelly, obwohl ich gleichzeitig von heftiger Entrüstung erfüllt war; sie hatte nicht aus Not gebettelt; niemand hatte sie im Stich gelassen und den Launen des Schicksals preisgegeben; sie war nicht von grausamen Verfolgern weggelaufen, sondern von ihren Freunden, die sie geliebt und für sie gesorgt hatten. Sie wollte anscheinend jemanden durch ihre argen Streiche in Erstaunen oder in Schrecken versetzen; es war, als prahle sie vor jemand damit! Aber etwas Geheimnisvolles reifte in ihrer Seele heran . . . Ja, der Alte hatte recht: sie hatte Schweres erlitten; ihre Wunde konnte nicht vernarben, und sie suchte absichtlich durch dieses geheimnisvolle Verhalten und durch dieses Mißtrauen gegen uns alle diese ihre Wunde aufzureißen; es war, als fände sie selbst einen Genuß in ihrem Schmerz, in diesem Egoismus des Leidens, wenn man sich so ausdrücken kann. Diese Erneuerung des Schmerzes und der dadurch erzielte Genuß waren mir verständlich: diesen Genuß bereiten sich viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergetreten sind und sich der Ungerechtigkeit desselben bewußt sind. Aber über welche Ungerechtigkeit von unserer Seite konnte sich Nelly beklagen? Sie wollte uns anscheinend durch ihre argen Streiche, ihre Launen und wilden Exzentrizitäten in Angst und Schrecken versetzen; es war, als prahle sie tatsächlich vor uns damit . . . Aber nein! Sie war jetzt allein; niemand von uns sah, daß sie bettelte. Fand sie wirklich so ganz für sich allein einen Genuß darin? Wozu hatte sie Almosen nötig? Wozu wollte sie das Geld gebrauchen?

Nachdem sie die Gabe empfangen hatte, ging sie von der Brücke weg und trat an die hell erleuchteten Fenster eines Ladens. Hier machte sie sich daran, ihre Beute zu zählen; ich stand zehn Schritte von ihr entfernt. Sie hatte eine ziemliche Menge Geld in der Hand; offenbar hatte sie gleich vom Vormittag an gebettelt. Das Geld fest in der Hand haltend, ging sie über die Straße hinüber und trat in einen Kramladen. Ich begab mich sofort an die Tür des Ladens, die weit offen stand, und blickte hinein, was sie da wohl tun werde.

Ich sah, daß sie Geld auf den Ladentisch legte und daß man ihr eine Tasse gab, eine einfache Teetasse, sehr ähnlich derjenigen, die sie vorher zerschlagen hatte, um mir und dem alten Ichmenew zu zeigen, wie schlecht sie von Charakter sei. Die Tasse kostete vielleicht fünfzehn Kopeken, vielleicht noch weniger. Der Kaufmann schlug sie in Papier, band einen Bindfaden herum und reichte sie Nelly hin, die eilig mit zufriedener Miene den Laden verließ.

»Nelly!« rief ich, als sie dicht bei mir war. »Nelly!«

Sie fuhr zusammen, erblickte mich, die Tasse glitt ihr aus den Händen, fiel auf das Pflaster und zerbrach. Nelly war blaß; aber als sie mich ansah und erkannte, daß ich alles gesehen hatte und wußte, errötete sie auf einmal; in dieser Röte bekundete sich ein unerträgliches, qualvolles Gefühl der Scham. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie nach Hause; es war nicht weit zu gehen. Wir redeten unterwegs kein Wort. Als wir nach Hause gekommen waren, setzte ich mich hin; Nelly stand vor mir, in Gedanken versunken und verlegen, blaß wie vorher, mit niedergeschlagenen Augen. Sie war nicht imstande, mich anzusehen.

»Nelly, du hast gebettelt?«

»Ja«, flüsterte sie und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Du wolltest Geld zusammenbringen, um für die heute zerschlagene Tasse eine andere zu kaufen?«

»Ja . . .«

»Aber habe ich dir denn etwa wegen dieser Tasse Vorwürfe gemacht und dich gescholten? Siehst du denn wirklich nicht, Nelly, wieviel Schlechtigkeit, selbstzufriedene Schlechtigkeit in deiner Handlungsweise steckt? Ist das recht von dir? Schämst du dich wirklich nicht?«

»Ich schäme mich«, flüsterte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, und ein Tränchen rollte über ihre Wange.

»Du schämst dich . . .« wiederholte ich. »Nelly, liebe Nelly, wenn ich dir etwas zuleide getan habe, so verzeihe mir und laß uns wieder gute Freunde sein!«

Sie sah mich an; die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und sie warf sich an meine Brust.

In diesem Augenblick trat Alexandra Semjonowna eilig ins Zimmer.

»Was! Ist sie zu Hause? Wieder da? Ach, Nelly, Nelly, was ist nur mit dir los? Na, nur gut, daß du wenigstens wieder zu Hause bist! . . . Wo haben Sie sie denn gefunden, Iwan Petrowitsch?«

Ich gab ihr einen Wink mit den Augen, sie möchte nicht weiter fragen, und sie verstand mich. Ich nahm zärtlich Abschied von Nelly, die immer noch bitterlich weinte, und bat die gute Alexandra Semjonowna, bis zu meiner Rückkehr bei ihr zu bleiben; ich selbst aber lief zu Natascha. Ich hatte mich verspätet und beeilte mich daher.

An diesem Abend entschied sich unser Schicksal: ich hatte zwar vieles mit Natascha zu besprechen, kam aber doch auch auf Nelly zu reden und erzählte ihr alles Vorgefallene mit den geringsten Einzelheiten. Meine Erzählung interessierte Natascha sehr und machte ihr sogar einen tiefen Eindruck.

»Weißt du was, Wanja?« sagte sie nach kurzem Nachdenken; »ich glaube, sie liebt dich.«

»Was? Wie meinst du das?« fragte ich erstaunt.

»Ja, das ist der Anfang der Liebe, der weiblichen Liebe . . .«

»Was redest du, Natascha! Ich bitte dich! Sie ist ja noch ein Kind!«

»Das bald vierzehn Jahre alt ist. Diese Verbitterung kommt daher, daß du ihre Liebe nicht verstehst und sie sich vielleicht selbst nicht versteht; es steckt in dieser Verbitterung viel Kindisches; aber doch ist sie eine ernstliche Qual. Die Hauptsache ist: sie ist auf mich eifersüchtig und gönnt dich mir nicht. Du liebst mich so, daß du dir sicherlich auch zu Hause nur um mich Sorgen machst, nur an mich denkst, nur von mir redest und ihr darum nur wenig Aufmerksamkeit zuwendest. Sie hat das gemerkt und fühlt sich dadurch gekränkt. Sie möchte vielleicht mit dir reden; sie fühlt das Bedürfnis, dir ihr Herz zu erschließen, weiß das aber nicht anzufangen, schämt sich, versteht sich selbst nicht, wartet auf eine Gelegenheit; du aber, statt ihr diese Gelegenheit möglichst bald zu bieten, ziehst dich von ihr zurück, läufst von ihr weg zu mir und hast sie sogar, als sie krank war, ganze Tage lang allein gelassen. Sie weint darüber; sie fühlt, daß sie ohne dich nicht leben kann, und am schmerzlichsten ist es ihr, daß du das nicht bemerkst. Auch jetzt, in einem solchen Augenblick, hast du sie um meinetwillen allein gelassen. Morgen wird sie davon krank sein. Und wie hast du sie auch verlassen können? Geh so schnell wie möglich zu ihr!«

»Ich hätte sie auch nicht verlassen, aber . . .«

»Nun ja, ich hatte dich selbst gebeten, zu mir zu kommen. Jetzt aber geh hin!«

»Ich will hingehen; aber selbstverständlich glaube ich nichts von dem, was du gesagt hast.«

»Das kommt daher, daß sie sich anders benimmt als andere Menschen. Aber erinnere dich an ihr Vorleben, halte alles zusammen, und du wirst mir glauben. Sie ist anders aufgewachsen als du und ich . . .«

Es war trotz aller Eile doch schon spät, als ich zurückkehrte. Alexandra Semjonowna erzählte mir, Nelly habe wieder wie an jenem Abend sehr viel geweint und sei wie damals unter Tränen eingeschlafen.

»Aber nun will ich weggehen, Iwan Petrowitsch; so hat es auch Filipp Filippowitsch befohlen. Er wartet auf mich, der Arme.«

Ich dankte ihr und setzte mich an das Kopfende von Nellys Bett. Ich machte mir selbst Vorwürfe darüber, daß ich sie in einem solchen Augenblick hatte verlassen können. Lange, bis spät in die Nacht hinein, saß ich so neben ihr und überließ mich meinen Gedanken . . . Es war eine verhängnisvolle Zeit.

Aber ich muß erzählen, was in diesen vierzehn Tagen geschehen war.


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