F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Dritter Teil

Erstes Kapitel

Erst als schon längst die Dämmerung eingetreten und es Abend geworden war, erwachte ich wie aus einem schweren Traum und kehrte in die Wirklichkeit zurück.

»Nelly«, sagte ich, »du bist jetzt krank und erregt; aber ich muß dich allein und in Tränen verlassen. Liebes Kind! verzeih es mir und wisse, daß es auch hier ein geliebtes, der Verzeihung entbehrendes Wesen gibt, ein unglückliches, gekränktes, verlassenes Wesen. Sie erwartet mich. Und auch ich selbst fühle mich jetzt nach deiner Erzählung unwiderstehlich zu ihr hingezogen; mir ist, als müßte ich zugrunde gehen, wenn ich sie nicht sogleich, diesen Augenblick, sehe . . .«

Ich weiß nicht, ob Nelly alles verstand, was ich zu ihr sagte. Ich befand mich in heftiger Aufregung, sowohl infolge der Erzählung als auch infolge der soeben durchgemachten Krankheit; aber ich eilte zu Natascha. Es war schon spät, zwischen acht und neun, als ich zu ihrem Haus gelangte.

Schon auf der Straße, am Tor des Hauses, in welchem Natascha wohnte, bemerkte ich eine Equipage, und es schien mir, daß es die des Fürsten sei. Der Eingang zu Nataschas Wohnung war vom Hof aus. Kaum hatte ich angefangen, die Stufen hinaufzusteigen, als ich vor mir, eine Treppe höher, einen Menschen hörte, der offenbar mit der Örtlichkeit unbekannt war und sich vorsichtig tastend hinaufarbeitete. Ich sagte mir, es müsse der Fürst sein, wurde aber alsbald wieder an dieser Meinung irre. Der Unbekannte schimpfte und fluchte beim Hinaufsteigen laut über diese Passage, und zwar in um so kräftigeren, energischeren Ausdrücken, je höher er kam. Gewiß, die Treppe war eng, schmutzig, steil, nirgends beleuchtet; aber solche Schimpfworte, wie sie beim dritten Stockwerk anfingen, hätte ich dem Fürsten nie zuschreiben können: der hinaufsteigende Herr schimpfte wie ein Droschkenkutscher. Aber nach dem dritten Stockwerk wurde es wenigstens hell; denn an Nataschas Tür im vierten Stock brannte ein kleines Lämpchen. Unmittelbar an der Tür holte ich meinen Unbekannten ein, und wie groß war mein Erstaunen, als ich in ihm wirklich den Fürsten erkannte! Es schien ihm sehr unangenehm zu sein, daß er so unerwartet mit mir zusammentraf. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht; aber dann veränderte sich auf einmal sein Gesicht. Sein ursprünglich zorniger, feindseliger Blick wurde auf einmal höflich und heiter, und mit dem Ausdruck außerordentlicher Freude streckte er mir beide Hände hin.

»Ah, Sie sind es! Ich wollte eben auf die Knie fallen und Gott um Rettung meines Lebens bitten. Haben Sie gehört, wie ich geschimpft habe?«

Und er lachte in der gutmütigsten Art. Aber plötzlich nahm sein Gesicht einen ernsten, bekümmerten Ausdruck an.

»Wie hat Aljoscha nur Natalja Nikolajewna in einer solchen Wohnung unterbringen können!« sagte er, den Kopf hin und her wiegend. »Diese sogenannten Kleinigkeiten charakterisieren den Menschen. Ich bin um ihn recht besorgt. Er ist ein guter Mensch und hat ein edles Herz; aber da haben Sie gleich ein Pröbchen: er liebt sinnlos und bringt diejenige, die er liebt, in einem so elenden Quartier unter! Ich habe sogar gehört, daß manchmal kein Brot dagewesen ist«, fügte er flüsternd hinzu, während er den Klingelgriff suchte. »Mir wird angst und bange, wenn ich an seine Zukunft denke und namentlich an Anna Nikolajewnas Zukunft, wenn sie seine Frau sein wird . . .«

Er hatte sich im Vornamen geirrt und es nicht gemerkt, da er sich offenbar darüber ärgerte, daß er den Klingelzug nicht fand. Aber ein Klingelzug war überhaupt nicht da. Ich rüttelte ein wenig an der Türklinke, und Mawra öffnete uns sofort und empfing uns geschäftig. In der Küche, die von dem winzigen Vorzimmer nur durch eine hölzerne Halbwand abgeteilt war, waren durch die offenstehende Tür mancherlei Vorbereitungen zu bemerken; alles war mit besonderer Sauberkeit abgewischt und gereinigt; im Herd brannte Feuer; auf dem Tisch stand etwas neues Geschirr. Es war deutlich, daß wir erwartet worden waren. Mawra nahm uns eifrig die Überzieher ab.

»Ist Aljoscha hier?« fragte ich sie.

»Er ist nicht hier gewesen«, flüsterte sie mir geheimnisvoll zu.

Wir gingen zu Natascha hinein. In ihrem Zimmer waren keine besonderen Vorbereitungen sichtbar; alles war wie gewöhnlich. Übrigens war bei ihr immer alles so sauber und nett, daß nicht erst besonders aufgeräumt zu werden brauchte. Natascha empfing uns an der Tür stehend. Ich erschrak über die krankhafte Magerkeit und außerordentliche Blässe ihres Gesichtes, obgleich für einen Augenblick eine Röte auf ihren totenbleichen Wangen aufflammte. Ihre Augen waren fieberhaft.

Schweigend streckte sie dem Fürsten eilig die Hand hin, in sichtlicher Beängstigung und Verwirrung. Mich sah sie überhaupt nicht an. Ich stand da und wartete schweigend.

»Da bin ich!« begann der Fürst in freundschaftlichem, heiterem Ton. »Erst vor einigen Stunden bin ich zurückgekehrt. Diese ganze Zeit über sind Sie mir nicht aus dem Kopf gekommen« (er küßte ihr zärtlich die Hand); »wieviel, wieviel habe ich an Sie gedacht! Wieviel habe ich Ihnen zu sagen und mitzuteilen! . . . Nun, jetzt wollen wir uns nach Herzenslust aussprechen! Erstens, mein Leichtfuß, der, wie ich sehe, noch nicht hier ist . . .«

»Erlauben Sie, Fürst«, unterbrach ihn Natascha, verlegen errötend; »ich muß ein paar Worte mit Iwan Petrowitsch sprechen. Komm, Wanja . . . nur ein paar Worte . . .«

Sie faßte mich bei der Hand und führte mich hinter den Wandschirm.

»Wanja«, sagte sie flüsternd, indem sie mich in die dunkelste Ecke zog, »verzeihst du mir?«

»Aber ich bitte dich, Natascha, was redest du da!«

»Nein, nein, Wanja, du hast mir ja sehr oft und sehr vieles verziehen; aber jede Geduld hat doch schließlich ein Ende. Du wirst nie aufhören, mich zu lieben, das weiß ich; aber du wirst mich undankbar nennen, und ich war auch gestern und vorgestern gegen dich undankbar, egoistisch, grausam . . .«

Sie brach plötzlich in Tränen aus und drückte ihr Gesicht an meine Schulter.

»Hör auf, Natascha!« suchte ich sie eilig zu beruhigen. »Ich bin die ganze Nacht über sehr krank gewesen und kann mich auch jetzt kaum auf den Beinen halten; das ist der Grund, weshalb ich weder gestern abend noch heute hergekommen bin; und da denkst du nun, ich sei dir böse! Meine teure Freundin, ich weiß ja doch, was jetzt in deiner Seele vorgeht!«

»Nun gut . . . also du hast mir verziehen wie immer«, sagte sie; sie lächelte durch ihre Tränen und drückte mir die Hand, so daß es mich schmerzte. »Das übrige nachher! Ich habe dir viel zu sagen, Wanja. Aber jetzt will ich zu ihm . . .«

»Recht schnell, Natascha; wir haben ihn so plötzlich verlassen . . .«

»Du wirst sehen, du wirst sehen, was geschehen wird«, flüsterte sie mir hastig zu. »Ich weiß jetzt alles; ich habe alles durchschaut. An allem ist er schuld, er allein. Heute abend wird sich vieles entscheiden. Komm!«

Ich verstand sie nicht, hatte aber zum Fragen keine Zeit mehr. Natascha ging mit heiterem Gesicht auf den Fürsten zu. Er stand immer noch mit dem Hut in der Hand da. Sie entschuldigte sich in munterem Ton bei ihm, nahm ihm den Hut ab, rückte ihm selbst einen Stuhl zurecht, und wir setzten uns alle drei um ihr Tischchen.

»Ich fing an, von meinem Leichtfuß zu reden«, fuhr der Fürst fort; »ich habe ihn nur einen Augenblick gesehen, und zwar auf der Straße, als er in den Wagen stieg, um zur Gräfin Sinaida Fjodorowna zu fahren. Er hatte es furchtbar eilig, und denken Sie: er wollte nach vier Tagen der Trennung nicht einmal mit mir in die Wohnung hinaufkommen! Und ich glaube, Natalja Nikolajewna, ich bin selbst daran schuld, daß er jetzt nicht bei Ihnen ist und ich vor ihm hergekommen bin; ich habe nämlich die Gelegenheit benutzt und, da ich selbst heute nicht bei der Gräfin sein konnte, ihm einen Auftrag mitgegeben. Aber er wird jeden Augenblick erscheinen.«

»Hat er Ihnen bestimmt versprochen, heute herzukommen?« fragte Natascha, den Fürsten mit der harmlosesten Miene anblickend.

»Ach, mein Gott, wie sollte er denn nicht herkommen? Wie können Sie nur so fragen!« rief er, sie erstaunt anblickend. »Übrigens, ich verstehe: Sie sind über ihn aufgebracht. Und in der Tat, es ist dumm von ihm, daß er von allen zuletzt kommt. Aber ich wiederhole: ich bin schuld daran. Seien Sie ihm nicht böse! Er ist leichtsinnig, ein Windhund; ich verteidige ihn nicht; aber gewisse besondere Umstände verlangen, daß er die Besuche im Hause der Gräfin und in einigen anderen Familien jetzt nicht einstellt, sondern im Gegenteil sich dort recht oft zeigt. Nun, und da er wahrscheinlich jetzt nicht von Ihrer Seite weicht und alles andere in der Welt vergessen hat, so werden Sie es vielleicht nicht übelnehmen, wenn ich ihn Ihnen manchmal auf ein paar Stunden, nicht für längere Zeit, durch meine Aufträge entziehe. Ich bin überzeugt, daß er seit jenem Abend noch nicht ein einziges Mal bei der Fürstin K. gewesen ist, und ärgere mich, daß ich vorhin keine Zeit gehabt habe, ihn danach zu fragen! . . .«

Ich blickte Natascha an. Sie hörte dem Fürsten mit einem leisen, ein wenig spöttischen Lächeln zu. Aber er sprach so offen, so ungekünstelt. Es war, wie es schien, gar nicht möglich, irgendwelchen Verdacht gegen ihn zu hegen.

»Und Sie haben wirklich nicht gewußt, daß er diese ganzen Tage her auch nicht ein einziges Mal bei mir gewesen ist?« fragte Natascha mit leiser, ruhiger Stimme, als ob sie von einem Vorgang spräche, der ihr vollkommen gleichgültig sei.

»Wie? Er ist kein einziges Mal hier gewesen? Erlauben Sie, was sagen Sie da!« rief der Fürst, anscheinend auf das äußerste überrascht.

»Sie waren am Dienstag spätabends bei mir; am andern Morgen ist er auf eine halbe Stunde zu mir gekommen, und seitdem habe ich ihn kein einziges Mal gesehen.«

»Aber das ist unglaublich!« (Er geriet in immer größeres Erstaunen.) »Und ich glaubte geradezu, er wiche nicht von Ihrer Seite. Entschuldigen Sie, das ist so seltsam . . . einfach unglaublich.«

»Aber doch ist es wahr. Und wie schade: ich hatte gerade auf Sie gewartet, weil ich von Ihnen zu erfahren hoffte, wo er sich eigentlich befindet!«

»Ach, mein Gott! Nun, er wird ja gleich hier sein! Aber das, was Sie mir gesagt haben, hat mich dermaßen überrascht, daß ich . . . ich muß gestehen, ich hätte alles mögliche von ihm erwartet, aber das nicht . . . das nicht!«

»Wie erstaunt Sie sind! Und ich hatte gedacht, Sie würden sich gar nicht wundern, ja Sie hätten sogar im voraus gewußt, daß es so kommen werde.«

»Gewußt! Ich? Aber ich versichere Ihnen, Natalja Nikolajewna, daß ich ihn heute nur einen Augenblick gesehen und mich bei niemand nach ihm erkundigt habe; es befremdet mich, daß Sie mir anscheinend nicht glauben«, fuhr er fort, indem er uns beide abwechselnd ansah.

»Gott behüte!« fiel Natascha ein. »Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß Sie die Wahrheit gesagt haben.«

Sie lachte wieder, diesmal dem Fürsten gerade ins Gesicht, so daß er unwillkürlich zusammenzuckte.

»Erklären Sie sich deutlicher!« sagte er in einiger Verwirrung.

»Zu erklären ist hier eigentlich nichts. Ich rede doch einfach und verständlich. Sie wissen ja, wie leichtsinnig und vergeßlich er ist. Nun, und da ihm jetzt volle Freiheit gelassen war, hat er sich eben gehenlassen.«

»Aber sich so gehenzulassen, das ist doch unerhört; da muß irgend etwas dahinterstecken, und sowie er kommt, werde ich ihn veranlassen, die Sache aufzuklären. Aber am meisten wundere ich mich darüber, daß Sie auch mir eine gewisse Schuld beizumessen scheinen, obwohl ich doch gar nicht hier gewesen bin. Übrigens sehe ich, Natalja Nikolajewna, daß Sie auf ihn sehr erzürnt sind, und das ist ja auch begreiflich! Sie haben dazu ein volles Recht, und . . . und . . . selbstverständlich geht es in erster Linie über mich her, wenn auch nur deswegen, weil ich als erster hier erschienen bin, nicht wahr?« fuhr er, sich mit einem gereizten Lächeln an mich wendend, fort.

Natascha fuhr auf und wurde dunkelrot.

»Erlauben Sie, Natalja Nikolajewna«, fuhr er in würdigem Ton fort; »ich gebe zu, daß mich eine gewisse Schuld trifft, aber nur darin, daß ich gleich am nächsten Tag nach unserer Bekanntschaft weggereist bin, so daß Sie bei der Neigung zum Mißtrauen, die ich an Ihrem Charakter wahrnehme, schon Zeit gefunden haben, Ihre Meinung über mich zu ändern, und zwar um so leichter, da die Umstände dazu mitwirkten. Wäre ich nicht weggereist, so hätten Sie mich besser kennengelernt, und auch Aljoscha hätte sich unter meiner Aufsicht nicht so leichtsinnig benommen. Sie werden aber gleich heute hören, was ich ihm sagen werde.«

»Das heißt, Sie werden bewirken, daß er das Verhältnis zu mir als Last zu empfinden anfängt. Unmöglich können Sie bei Ihrer Klugheit wirklich meinen, daß ein solches Mittel mir helfen werde.«

»Wollen Sie etwa damit andeuten, daß ich absichtlich darauf ausginge, zu bewirken, daß er Ihrer überdrüssig werde? Sie beleidigen mich, Natalja Nikolajewna!«

»Ich bemühe mich, möglichst wenig in Andeutungen zu sprechen, wen auch immer ich mir gegenüber habe«, erwiderte Natascha. »Ich bin vielmehr immer bestrebt, mich recht klar auszudrücken, und vielleicht werden Sie sich noch heute davon überzeugen. Beleidigen wollte ich Sie nicht; das ist ausgeschlossen, schon deswegen, weil Sie sich durch meine Worte, mag ich sagen, was ich will, nicht beleidigt fühlen können. Davon bin ich fest überzeugt, da ich unsere wechselseitigen Beziehungen völlig klar erkenne: Sie können ja diese Beziehungen nicht ernst nehmen, nicht wahr? Sollte ich Sie aber wirklich beleidigt haben, so bin ich bereit, um Verzeihung zu bitten, um Ihnen gegenüber alle Pflichten der Gastfreundschaft zu erfüllen.«

Trotz des leichten, ja scherzhaften Tones, in welchem Natascha dies mit einem Lächeln auf den Lippen vorbrachte, hatte ich sie doch noch nie so gereizt gesehen. Erst jetzt begriff ich, wie weh ihr in diesen drei Tagen ums Herz gewesen war. Ihre rätselhaften Worte, daß sie jetzt alles wisse und alles durchschaut habe, erschreckten mich; sie bezogen sich direkt auf den Fürsten. Sie hatte ihre Meinung über ihn geändert und betrachtete ihn als ihren Feind; das war augenscheinlich. Die üble Wendung, die ihre Beziehungen zu Aljoscha genommen hatten, führte sie offenbar auf den Einfluß des Fürsten zurück und hatte vielleicht guten Grund dazu. Ich fürchtete, es könne zwischen ihnen zu einer heftigen Szene kommen. Die wahre Bedeutung ihres scherzhaften Tones lag gar zu offen am Tage, war gar zu wenig verhüllt. Ihre letzten Worte an den Fürsten, er könne ihre wechselseitigen Beziehungen nicht ernst nehmen, die Redensart von der Bitte um Verzeihung wegen der Pflicht der Gastfreundschaft, ihre wie eine Drohung klingende Ankündigung, sie werde ihm noch an diesem Abend den Beweis dafür liefern, daß sie deutlich zu reden verstehe: dies alles war so offensiv und so wenig maskiert, daß der Fürst es unmöglich mißverstehen konnte. Ich sah, daß in seinem Gesicht eine Veränderung vorging; aber er verstand es, sich zu beherrschen. Er stellte sich sogleich, als habe er diese Worte nicht beachtet, ihren wirklichen Sinn nicht verstanden, und half sich selbstverständlich mit einem Scherz heraus.

»Gott soll mich davor bewahren, eine Bitte um Entschuldigung zu verlangen!« erwiderte er lachend. »Das lag überhaupt nicht in meiner Absicht; und von einer Frau zu verlangen, daß sie mich um Entschuldigung bitte, das entspricht nicht meinen Grundsätzen. Schon als wir uns das erstemal sahen, habe ich Ihnen im voraus meinen Charakter geschildert, und deshalb werden Sie mir hoffentlich eine Bemerkung nicht übelnehmen, um so weniger, da sie sich auf die Frauen im allgemeinen bezieht; auch Sie werden dieser Bemerkung wahrscheinlich zustimmen«, fuhr er, sich liebenswürdig zu mir wendend, fort. »Ich habe nämlich beobachtet, daß es im weiblichen Charakter eine bestimmte Eigenheit gibt: wenn eine Frau sich irgendwie schuldig fühlt, so wird sie eher dazu bereit sein, in der Folgezeit ihre Schuld durch tausend Liebenswürdigkeiten wieder gutzumachen, als im gegenwärtigen Augenblick, im Augenblick ihrer evidenten Überführung, ihre Schuld zu bekennen und um Verzeihung zu bitten. Daher wünsche ich, selbst angenommen, daß ich von Ihnen beleidigt bin, dennoch jetzt, im gegenwärtigen Augenblick, absichtlich keine Bitte um Entschuldigung; es ist für mich vorteilhafter zu warten, bis Sie später in Erkenntnis Ihres Fehlers ihn mir gegenüber durch tausend Liebenswürdigkeiten werden wieder gutmachen wollen. Und Sie haben eine so gute, reine, frische, offene Seele, daß der Augenblick, wo Sie bereuen werden, ein ganz entzückender sein wird. Sagen Sie mir, statt um Entschuldigung zu bitten, jetzt lieber: kann ich gleich heute durch irgend etwas Ihnen den Beweis erbringen, daß ich Ihnen gegenüber weit offener und aufrichtiger verfahre, als Sie es von mir glauben?«

Natascha errötete. Auch ich hatte die Empfindung, daß die Antwort des Fürsten in gar zu ungeniertem, sogar lässigem Ton gegeben war, ja, daß darin sogar eine unziemliche Spötterei lag.

»Sie wollen mir beweisen, daß Sie gegen mich offen und ehrlich sind?« fragte Natascha, ihn mit herausfordernder Miene anblickend.

»Ja.«

»Dann erfüllen Sie mir eine Bitte!«

»Ich verspreche es Ihnen im voraus.«

»Meine Bitte ist: Aljoscha meinetwegen mit keinem Wort, mit keiner Andeutung aufzuregen, weder heute noch morgen. Keinen Vorwurf deswegen, weil er mich vergessen hat; keine Strafpredigt! Ich will ihn absichtlich so empfangen, als ob zwischen uns nichts vorgefallen sei; er soll von meinen Gefühlen nichts merken. Darauf lege ich Wert. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete der Fürst; »und erlauben Sie mir, aus tiefster Überzeugung hinzuzufügen, daß ich nur selten bei jemand eine so vernünftige, klare Auffassung auf diesem Gebiet angetroffen habe . . . Aber da ist Aljoscha, wie es scheint.«

Wirklich wurde im Vorzimmer Geräusch vernehmbar. Natascha fuhr zusammen und schien sich auf etwas vorzubereiten. Der Fürst saß mit ernster Miene da und wartete, was nun kommen werde; er betrachtete Natascha unverwandt. Die Tür öffnete sich, und Aljoscha kam zu uns hereingeflogen.


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