F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Sechstes Kapitel

Aljoscha war schon eine Stunde vor der Zusammenkunft gekommen, um Natascha zu benachrichtigen. Ich meinerseits kam gerade in dem Augenblick, als Katjas Equipage vor der Haustür vorfuhr. Bei Katja war die alte Französin, die auf vieles Bitten hin und nach langem Zaudern endlich eingewilligt hatte, sie zu begleiten und sie sogar allein zu Natascha hinaufgehen zu lassen, aber nur, wenn Aljoscha dabei sei; sie selbst wollte unten im Wagen warten. Katja rief mich heran, und ohne aus dem Wagen zu steigen, bat sie mich, Aljoscha zu ihr zu rufen. Natascha fand ich in Tränen: Aljoscha und sie, beide weinten. Als sie hörte, daß Katja bereits da sei, stand sie von ihrem Stuhl auf, wischte sich die Tränen ab und stellte sich in großer Aufregung der Tür gegenüber hin. Sie war an diesem Morgen ganz weiß gekleidet. Ihr dunkelblondes Haar war glatt zurückgekämmt und hinten in einen festen Knoten zusammengebunden. Diese Haartracht gefiel mir an ihr immer besonders gut. Als Natascha sah, daß ich bei ihr bleiben wollte, bat sie mich, ebenfalls dem Besuch entgegenzugehen.

»Bis jetzt ist es mir nicht möglich gewesen, zu Natascha zu kommen«, sagte Katja zu mir, während wir die Treppe hinaufstiegen. »Ich wurde so beobachtet; es war schrecklich. Ganze vierzehn Tage habe ich gebraucht, um Madame Albert zu überreden; endlich hat sie eingewilligt. Und Sie, Sie, Iwan Petrowitsch, sind nicht ein einziges Mal zu mir gekommen! Schreiben konnte ich Ihnen auch nicht, und ich hatte auch keine Lust dazu, da man ja in einem Brief dem anderen doch nichts klarmachen kann. Und wie sehr verlangte mich danach, mit Ihnen zu sprechen! . . . Mein Gott, wie mir jetzt das Herz klopft . . .«

»Die Treppe ist steil«, antwortete ich.

»Nun ja . . . auch die Treppe . . . Aber was meinen Sie: wird Natascha mir auch nicht böse sein?«

»Nein, warum sollte sie das?«

»Nun ja, gewiß, warum sollte sie es? Ich werde es gleich selbst sehen; wozu frage ich erst noch?«

Ich führte sie am Arm. Sie war ganz blaß geworden und schien sich sehr zu fürchten. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen; aber dann blickte sie mich an und stieg entschlossen weiter hinauf.

An der Tür wandte sie sich noch einmal um und flüsterte mir zu: »Ich werde einfach hineingehen und ihr sagen, ich hätte ein solches Vertrauen zu ihr, daß ich ohne Besorgnisse gekommen sei . . . Übrigens, was rede ich erst noch? Ich bin ja überzeugt, daß Natascha das edelste Geschöpf der Welt ist. Nicht wahr?«

Sie trat schüchtern ein, als ob sie sich einer Schuld bewußt wäre, und blickte Natalja unverwandt an, die ihr sogleich zulächelte. Da trat Katja schnell an sie heran, faßte sie bei den Händen und drückte ihre kleinen, vollen Lippen auf Nataschas Mund. Dann, ehe sie noch ein Wort zu Natascha gesagt hatte, wandte sie sich in ernstem und sogar strengem Ton zu Aljoscha und bat ihn, uns eine halbe Stunde allein zu lassen.

»Sei nicht böse, Aljoscha!« fügte sie hinzu. »Ich wünsche das deswegen, weil ich mit Natascha über eine sehr wichtige, ernste Sache vieles zu reden habe, was du nicht zu hören brauchst. Sei verständig und geh hinaus! Sie aber, Iwan Petrowitsch, bitte ich, hierzubleiben. Sie sollen unser ganzes Gespräch mit anhören.«

»Setzen wir uns!« sagte sie zu Natascha, als Aljoscha hinausgegangen war; »ich will mich so hinsetzen, Ihnen gegenüber. Ich möchte Sie zuerst ein bißchen ansehen.« Sie setzte sich Natascha fast gerade gegenüber und betrachtete sie ein Weilchen unverwandt. Natascha antwortete darauf mit einem unwillkürlichen Lächeln.

»Ich habe schon Ihre Fotografie gesehen«, sagte Katja; »Aljoscha hat sie mir gezeigt.«

»Nun, bin ich gut getroffen?«

»Sie sind schöner«, erwiderte Katja in entschiedenem, ernstem Ton. »Ich habe mir das auch gleich gedacht, daß Sie schöner wären.«

»Wirklich? Und ich kann mich an Ihnen gar nicht satt sehen. Wie hübsch Sie sind!«

»Was reden Sie nur! Bewahre! Liebste, Beste!« rief Katja und ergriff mit ihrer zitternden Hand die Hand Nataschas; beide verstummten wieder und sahen einander an. »Wissen Sie, mein Engel«, unterbrach Katja das Schweigen, »wir können nur eine halbe Stunde zusammen sein; auch darein hat Madame Albert nur mit Mühe und Not eingewilligt, und wir haben doch soviel miteinander zu besprechen . . . Ich will . . . ich muß . . . nun, ich frage Sie ganz einfach: lieben Sie Aljoscha sehr?«

»Ja, sehr.«

»Wenn es so ist . . . wenn Sie Aljoscha sehr lieben . . . dann . . . dann müssen Sie doch auch sein Glück wünschen . . .«, sagte sie schüchtern und flüsternd.

»Ja, ich wünsche, daß er glücklich werden möge . . .«

»Das ist richtig . . . aber nun ist die Frage: Werde ich ihn glücklich machen können? Habe ich ein Recht, so zu reden, da ich ihn Ihnen doch wegnehme? Wenn es Ihnen scheint, daß er mit Ihnen glücklicher sein wird, und wir jetzt zu dieser Ansicht gelangen, dann . . . dann . . .«

»Diese Frage ist schon entschieden, Katjuscha; Sie sehen ja selbst, daß alles entschieden ist«, antwortete Natascha leise und ließ den Kopf sinken. Es war ihr offenbar peinlich, das Gespräch fortzusetzen.

Katja hatte sich anscheinend auf eine lange Erörterung des Themas vorbereitet, wer von ihnen beiden am meisten befähigt sei, Aljoscha glücklich zu machen, und wer von ihnen zurücktreten müsse. Aber nach Nataschas Antwort sah sie sofort ein, daß alles schon längst entschieden sei und es keinen Zweck habe, weiter darüber zu reden. Die hübschen Lippen halb geöffnet haltend, blickte sie erstaunt und traurig Natascha an, deren Hand sie noch immer in der ihrigen hielt.

»Lieben Sie ihn sehr?« fragte Natascha plötzlich.

»Ja; und da ist noch ein Punkt, nach dem ich Sie fragen wollte, und ich bin in dieser Absicht hergefahren: Sagen Sie mir, warum lieben Sie ihn eigentlich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Natascha, und ich glaubte aus dem Ton ihrer Antwort eine ungeduldige Bitterkeit herauszuhören.

»Ist er klug? Wie denken Sie darüber?« fragte Katja.

»Nein; ich liebe ihn einfach, ohne bestimmten Grund.«

»Mir geht es ebenso. Er tut mir immer gewissermaßen leid.«

»Mir ebenfalls«, erwiderte Natascha.

»Was sollen wir jetzt mit ihm machen? Und wie er Sie um meinetwillen hat verlassen können, das begreife ich nicht!« rief Katja. »Gerade jetzt, nachdem ich Sie gesehen habe, begreife ich es nicht!«

Natascha antwortete nichts und blickte zur Erde. Katja schwieg ein Weilchen; dann stand sie plötzlich von ihrem Stuhl auf und umarmte sie. Beide begannen, sich umschlungen haltend, zu weinen. Katja setzte sich auf die Armlehne von Nataschas Lehnstuhl, ohne sie aus ihren Armen zu lassen, und begann, ihr die Hände zu küssen.

»Wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie liebe!« sagte sie weinend. »Wir wollen Schwestern sein; wir wollen immer aneinander schreiben . . . und ich werde Sie mein Leben lang lieben; ich werde Sie so lieben, so lieben . . .«

»Hat er Ihnen gesagt, daß im Juni unsere Hochzeit sein soll?« fragte Natascha.

»Ja. Er sagte, auch Sie seien damit einverstanden. Aber das haben Sie doch alles nur so gesagt, um ihn zu trösten, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Das habe ich mir gleich gedacht. Ich werde ihn sehr lieben, Natascha, und Ihnen alles schreiben. Ich glaube, er wird jetzt bald mein Mann werden; es sieht ganz so aus. Und sie reden alle in diesem Sinn. Nataschenka, Sie werden dann wohl wieder . . . in das Haus Ihrer Eltern zurückkehren?«

Natascha antwortete nichts, sondern gab ihr schweigend einen herzlichen Kuß.

»Werden Sie glücklich!« sagte sie.

»Und Sie . . . Sie . . . ebenfalls!« versetzte Katja.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Aljoscha trat ein. Es war über seine Kraft gegangen, diese halbe Stunde zu warten, und als er nun sah, wie die beiden einander in den Armen lagen und weinten, sank er ganz kraftlos, mit einer Miene tiefsten Leides vor Natascha und Katja auf die Knie.

»Warum weinst du denn?« sagte Natascha zu ihm. »Wegen der Trennung von mir? Aber es ist ja nicht auf lange; im Juni kommst du ja doch wieder?«

»Und dann wird eure Hochzeit sein«, fügte, ebenfalls um Aljoscha zu trösten, Katja eilig mitten zwischen ihren Tränen hinzu.

»Aber ich bin nicht imstande, nicht imstande, dich auch nur für einen Tag zu verlassen, Natascha. Ich sterbe, wenn ich von dir fern bin . . . du weißt gar nicht, wie teuer du mir jetzt bist! Gerade jetzt! . . .«

»Nun, weißt du, wie du es dann machen kannst?« sagte Natascha, die auf einmal lebhafter wurde. »Die Gräfin bleibt ja wohl eine Zeitlang in Moskau?«

»Ja, fast eine Woche«, fiel Katja ein.

»Eine Woche! Dann wäre doch das beste, du begleitest die beiden Damen morgen nach Moskau (das dauert nur einen Tag) und fährst gleich wieder hierher zurück. Und sobald sie von Moskau abreisen müssen, dann nehmen wir voneinander vollständig, auf einen Monat, Abschied, und du kehrst nach Moskau zurück, um sie aufs Land zu begleiten.«

»So ist's richtig, so ist's richtig . . . Ihr könnt dann noch vier Tage zusammen verleben!« rief Katja entzückt und wechselte mit Natascha einen vielsagenden Blick.

Ich kann Aljoschas Entzücken über diesen neuen Plan gar nicht schildern. Er fühlte sich auf einmal völlig getröstet; sein Gesicht strahlte vor Freude; er umarmte Natascha, küßte Katja die Hände und umarmte mich. Natascha blickte ihn mit einem traurigen Lächeln an; aber Katja konnte es nicht ertragen. Sie wechselte mit mir einen Blick, bei dem ihre Augen in heißem Zorn funkelten, umarmte Natascha und erhob sich, um aufzubrechen. Gerade in diesem Augenblick schickte die Französin den Diener mit der Bitte, das Zusammensein schleunigst zu beenden, da die verabredete halbe Stunde schon verflossen sei.

Natascha stand auf. Beide standen einander gegenüber, hielten sich an den Händen gefaßt, und es schien, als suchten sie mit ihren Blicken all das auszudrücken, was ihre Seelen erfüllte.

»Wir werden uns wohl niemals wiedersehen«, sagte Katja.

»Niemals, Katja«, antwortete Natascha.

»Nun, dann wollen wir voneinander Abschied nehmen!«

Beide umarmten sich.

»Fluchen Sie mir nicht!« flüsterte Katja hastig; »ich aber . . . ich werde immer . . . seien Sie überzeugt . . . er wird glücklich werden . . . Komm, Aljoscha, begleite mich!« sagte sie schnell und ergriff seine Hand.

»Wanja!« sagte Natascha aufgeregt und erschöpft zu mir, als sie hinausgegangen waren; »begleite auch du sie und . . . komm nicht zurück; Aljoscha wird bis zum Abend bei mir sein, bis acht Uhr; den Abend über kann er nicht bleiben, er muß fortgehen. Ich werde dann allein sein . . . Komm um neun Uhr her! Ich bitte dich darum!«

Als ich um neun Uhr Nelly nach der Geschichte mit der zerbrochenen Tasse in Alexandra Semjonownas Obhut verlassen hatte und zu Natascha kam, war sie schon allein und erwartete mich mit Ungeduld. Mawra brachte uns den Samowar; Natascha goß mir Tee ein, setzte sich auf das Sofa und forderte mich auf, nahe bei ihr Platz zu nehmen.

»Nun ist alles zu Ende«, sagte sie, mich starr anblickend. Niemals werde ich diesen Blick vergessen.

»Nun ist unsere Liebe zu Ende. Ein halbes Jahr hat es gedauert, und nun ist's fürs ganze Leben vorbei«, fügte sie hinzu und drückte mir die Hand.

Ihre Hand war heiß. Ich redete ihr zu, sich etwas Warmes anzuziehen und sich ins Bett zu legen.

»Gleich, Wanja, gleich, mein lieber Freund! Laß mich nur noch ein bißchen reden und der Vergangenheit gedenken! . . . Ich bin jetzt wie zerschlagen . . . Morgen werde ich ihn zum letztenmal sehen, um zehn Uhr . . . zum letztenmal!«

»Natascha, du fieberst; gleich wird der Schüttelfrost kommen; schone dich! . . .«

»Was tut's? Ich habe jetzt diese halbe Stunde seit seinem Fortgehen auf dich gewartet, Wanja, und was meinst du, woran ich gedacht habe, welche Frage ich mir vorgelegt habe? Ich habe mich gefragt: habe ich ihn geliebt oder nicht, und von welcher Art ist unsere Liebe gewesen? Es kommt dir wohl lächerlich vor, Wanja, daß ich mir diese Frage erst jetzt vorlege?«

»Rege dich nicht auf, Natascha . . .«

»Siehst du, Wanja, ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich ihn nicht wie einen mir Gleichstehenden geliebt habe, so wie gewöhnlich eine Frau einen Mann liebt. Ich habe ihn geliebt wie . . . beinahe wie eine Mutter. Ich meine sogar, daß es überhaupt auf der Welt keine solche Liebe gibt, bei der beide einander wie Gleichgestellte lieben. Wie denkst du darüber?«

Ich betrachtete sie beunruhigt und fürchtete, daß bei ihr ein Nervenfieber im Anzug sei. Es war, als treibe sie ein unwiderstehlicher innerer Drang, als fühle sie ein besonderes Bedürfnis zu reden; manches, was sie sagte, hatte gar keinen Zusammenhang, und sie sprach die Worte manchmal sogar mangelhaft aus. Ich war in großer Besorgnis.

»Er war mein«, fuhr sie fort. »Fast seit der ersten Begegnung mit ihm wurde damals in mir der unwiderstehliche Wunsch rege, daß er mein werden möchte, recht bald mein, und daß er keine andere Frau ansehen, keine andere Frau kennen möchte als mich, mich allein . . . Katja hat vorhin etwas ganz Richtiges gesagt: ich habe ihn wirklich so geliebt, als ob er mir die ganze Zeit über aus irgendwelchem Grund leid täte . . . Ich hatte, wenn ich allein geblieben war, immer den heißen, ja qualvollen Wunsch, daß er im höchsten Grad und lebenslänglich glücklich sein möchte. Ich konnte sein Gesicht (du kennst ja den Ausdruck seines Gesichtes, Wanja), ich konnte sein Gesicht nicht ruhig ansehen: ein solcher Ausdruck ist bei keinem anderen Menschen zu finden, und wenn er lachte, so lief mir ein kaltes Zittern über den Leib . . . Wahrhaftig! . . .«

»Natascha, höre . . .«

»Da sagten die Leute nun«, unterbrach sie mich, »und auch du hast es gesagt, daß er charakterlos sei und . . . und nicht viel mehr Verstand habe als ein Kind. Nun, gerade das habe ich an ihm am allermeisten geliebt . . . solltest du es glauben? Ich weiß übrigens nicht, ob ich eigentlich dies allein an ihm geliebt habe; ich liebte ihn einfach ganz so, wie er war, und wäre er in irgendeiner Hinsicht ein anderer gewesen, charakterfest oder verständiger, so hätte ich ihn vielleicht nicht so stark geliebt. Weißt du, Wanja, ich will dir noch ein Bekenntnis ablegen; erinnerst du dich, ich hatte mit ihm vor drei Monaten einen Streit, als er bei jener . . . wie hieß sie doch? . . . bei dieser Minna gewesen war . . . Ich erfuhr es und verhörte ihn, und solltest du es glauben: es war mir sehr schmerzlich, gleichzeitig aber auch gewissermaßen angenehm . . . ich weiß nicht, warum . . . schon der Gedanke, daß er sich amüsierte . . . oder nein, das war es nicht: daß auch er wie ein Erwachsener mit anderen Erwachsenen zu schönen Frauen fuhr, daß auch er diese Minna besuchte! Ich . . . Welch einen Genuß empfand ich damals bei diesem Streit; und dann ihm zu verzeihen . . . o lieber Freund!«

Sie sah mir ins Gesicht und lachte in einer ganz eigentümlichen Weise. Dann schien sie nachdenklich zu werden, als ob sie alle Erinnerungen noch einmal an ihrer Seele vorüberziehen ließe. Lange saß sie so, mit einem Lächeln auf den Lippen, da und dachte an die Vergangenheit.

»Es war mir die größte Freude, ihm zu verzeihen, Wanja«, fuhr sie fort. »Weißt du was: Wenn er mich dann allein gelassen hatte, ging ich oft im Zimmer auf und ab und grämte mich und weinte; aber ich dachte manchmal: ›Je schuldiger er vor mir dasteht, um so besser . . .‹, ja! Und weißt du: ich hatte immer die Vorstellung, als ob er ein kleiner Junge wäre und ich dasäße und er mir seinen Kopf auf die Knie legte, einschliefe und ich ihm sachte über den Kopf striche und ihn liebkoste . . . So stellte ich ihn mir immer vor, wenn er nicht bei mir war . . . Höre, Wanja«, fügte sie auf einmal hinzu, »was für ein reizendes Wesen ist Katja!«

Es schien mir, als reiße sie selbst absichtlich ihre Wunde auf, als fühle sie eine Art von Bedürfnis danach, ein Bedürfnis, zu leiden und zu verzweifeln . . . Das kommt bei Herzen, die viel verloren haben, so oft vor!

»Katja kann ihn, wie mir scheint, glücklich machen«, fuhr sie fort. »Sie besitzt Charakter und spricht aus fester, innerer Überzeugung und verkehrt mit ihm so ernst und selbstbewußt; immer redet sie von verständigen Dingen wie eine Erwachsene. Und dabei ist sie selbst noch das reine Kind! Ein liebes, liebes Geschöpf! Oh, mögen sie glücklich werden! Das ist mein heißer Wunsch!«

Die Tränen strömten ihr aus den Augen; ein Schluchzen drang aus ihrem Herzen. Eine halbe Stunde lang konnte sie nicht zu sich kommen und sich auch nur einigermaßen beruhigen.

Welch ein lieber Engel war Natascha! Trotz ihres eigenen Leides vermochte sie es noch an diesem selben Abend, auch an meinen Sorgen Anteil zu nehmen; denn als ich sah, daß sie sich ein wenig beruhigt hatte oder, richtiger gesagt, müde geworden war, erzählte ich, um sie zu zerstreuen, ihr von Nelly . . . Wir trennten uns an diesem Abend erst spät; ich wartete, bis sie eingeschlafen war, und bat beim Fortgehen Mawra, die ganze Nacht über nicht von der Seite ihrer kranken Herrin zu weichen.

»Oh«, rief ich auf dem Heimweg aus, »wenn doch diese Qualen recht bald, recht bald ein Ende nehmen möchten! Mag das Ende sein, wie es will, aber nur schnell, nur schnell!«

Am anderen Morgen war ich Punkt neun Uhr schon wieder bei ihr. Gleichzeitig mit mir kam auch Aljoscha, um Abschied zu nehmen. Ich mag an diese Szene nicht zurückdenken und werde sie nicht schildern. Natascha hatte sich offenbar vorgenommen, sich stark und fest zu machen und heiter und gleichmütig zu erscheinen, vermochte es aber nicht durchzuführen. Sie umarmte Aljoscha krampfhaft, mit festem Druck. Sie sprach nur wenig mit ihm, sah ihn aber lange und unverwandt mit dem Blick einer Märtyrerin, ja einer Geisteskranken an. Gierig hörte sie auf jedes Wort von ihm, verstand aber nichts von dem, was er zu ihr sagte. Ich erinnere mich, daß er sie bat, ihm zu verzeihen, ihm diese Liebe zu verzeihen und alles, womit er sie während dieser Zeit gekränkt habe, die Fälle von Untreue, seine Liebe zu Katja, seine Abreise . . . Er sprach in abgerissenen Sätzen; Tränen erstickten seine Stimme. Manchmal versuchte er sie zu trösten, indem er sagte, er reise nur auf einen Monat oder höchstens auf fünf Wochen weg, er werde im Sommer wiederkommen, dann werde ihre Hochzeit sein, und sein Vater werde seine Einwilligung geben; und endlich, was die Hauptsache sei, er werde übermorgen aus Moskau zurückkommen, und dann würden sie noch vier volle Tage zusammen verleben, und somit dauere ihre jetzige Trennung nur einen Tag . . .

Merkwürdig: er selbst war fest davon überzeugt, daß er die Wahrheit sprach und unfehlbar übermorgen aus Moskau zurückkehren werde – aber warum weinte er dann so und verging fast vor Schmerz?

Endlich schlug es elf. Ich konnte ihn nur mit Mühe zum Aufbruch überreden. Der Zug nach Moskau ging Punkt zwölf ab. Es blieb ihm nur noch eine Stunde Zeit. Natascha hat mir selbst nachher gesagt, sie könne sich nicht daran erinnern, wie sie ihn zum letzten Male angesehen habe. Ich erinnere mich, daß sie ihn bekreuzte und küßte und dann, das Gesicht in den Händen verbergend, in das Zimmer zurückstürzte. Ich aber mußte Aljoscha ganz bis zu seiner Equipage bringen; sonst wäre er bestimmt wieder umgekehrt und nie die Treppe hinuntergekommen.

»Meine ganze Hoffnung beruht auf Ihnen«, sagte er zu mir beim Hinuntersteigen. »Mein Freund Wanja! Ich habe mich gegen dich nicht so benommen, wie ich es hätte tun sollen, und bin deiner Liebe niemals wert gewesen; aber sei mir bis zum Ende ein Bruder: liebe sie, verlaß sie nicht, schreib mir alles, möglichst ausführlich und eingehend, schreib möglichst eingehend, damit recht viel darin steht! Übermorgen bin ich wieder hier, bestimmt, ganz bestimmt! Aber dann, wenn ich weg sein werde, dann schreib!«

Ich half ihm beim Einsteigen in den Wagen.

»Auf übermorgen!« rief er mir, schon im Fahren, zu. »Bestimmt!«

Mit stockendem Herzschlag kehrte ich nach oben zu Natascha zurück. Sie stand mit verschränkten Armen mitten im Zimmer und blickte mich ganz fremd an, als ob sie mich nicht erkenne. Ihr Haar hatte sich unordentlich verschoben; ihr Blick war trüb und unstet. Mawra stand ganz fassungslos in der Tür und sah sie voller Angst an.

Auf einmal funkelten Nataschas Augen auf.

»Ah, du bist es! Du!« schrie sie mich an. »Du bist jetzt der einzige, der hiergeblieben ist. Du hast ihn gehaßt! Du hast es ihm nie verzeihen können, daß ich ihn liebte. Jetzt stellst du dich wieder bei mir ein! Was willst du? Bist du gekommen, um mich wieder zu trösten, um mich zu überreden, ich möchte zu meinem Vater gehen, der sich von mir losgesagt und mich verflucht hat? Das wußte ich schon gestern, schon seit zwei Monaten! Aber ich will nicht, ich will nicht! Ich selbst verfluche sie! . . . Geh weg, geh weg, ich mag dich nicht sehen! Weg, weg!«

Ich sah, daß ich eine Rasende vor mir hatte und daß mein Anblick sie in sinnlose Wut versetzte; ich sagte mir, daß es nicht anders hatte kommen können, und hielt es für das beste, hinauszugehen. Ich setzte mich auf die Treppe, auf die oberste Stufe, und wartete. Manchmal stand ich auf, öffnete die Tür, rief Mawra zu mir und befragte sie; Mawra weinte.

So vergingen anderthalb Stunden. Ich kann nicht schildern, welche Qualen ich in dieser Zeit durchmachte. Mein Herz war von grenzenlosem Schmerz zerrissen und wollte fast sterben. Auf einmal öffnete sich die Tür, und Natascha kam auf die Treppe herausgelaufen, in Hut und Mantel. Sie war wie von Sinnen und sagte mir später selbst, daß sie sich kaum daran erinnere und nicht wisse, wohin sie habe laufen wollen und was sie vorgehabt habe.

Ich hatte nicht Zeit gehabt, von meinem Platz aufzuspringen und mich irgendwo vor ihr zu verstecken, als sie mich plötzlich erblickte und überrascht vor mir regungslos stehenblieb. »Es kam mir plötzlich zum Bewußtsein«, erzählte sie mir später, »daß ich Wahnsinnige, ich Grausame dich hatte von mir wegtreiben können, dich, meinen Freund, meinen Bruder, meinen Retter! Und als ich sah, daß du Armer, den ich so gekränkt hatte, auf meiner Treppe saßest und nicht fortgingst und wartetest, bis ich dich wieder rufen würde – o Gott, wenn du wüßtest, Wanja, wie mir da ward! Es war mir, als stieße mir jemand ein Messer ins Herz . . .«

»Wanja, Wanja!« rief sie und streckte mir die Hände entgegen. »Du hier! . . .«

Sie fiel in meine Arme.

Ich fing sie auf und trug sie ins Zimmer. Sie war ohnmächtig. ›Was soll ich tun?‹ dachte ich. ›Sie wird ein Nervenfieber bekommen; das ist sicher!‹

Ich beschloß, zum Arzt zu eilen; wir mußten der Krankheit vorbeugen. Ich konnte schnell hinfahren; bis zwei Uhr war mein alter Deutscher gewöhnlich zu Hause. Ich fuhr zu ihm, nachdem ich Mawra beschworen hatte, keine Minute, keine Sekunde von Nataschas Seite zu weichen und sie nirgends hinzulassen. Gott half mir: wäre ich einen Augenblick später gekommen, so hätte ich meinen Alten nicht mehr angetroffen. Er hatte seine Wohnung bereits verlassen und begegnete mir auf der Straße. Sofort, ehe er noch hatte von seinem Erstaunen zu sich kommen können, nahm ich ihn in meine Droschke, und wir fuhren zu Natascha zurück.

Ja, Gott half mir! In der halben Stunde meiner Abwesenheit hatte sich bei Natascha etwas zugetragen, was ihr hätte den Tod bringen können, wenn ich mit dem Arzt nicht noch rechtzeitig eingetroffen wäre. Nach meinem Weggehen war noch nicht eine Viertelstunde vergangen, als der Fürst ins Zimmer trat. Er hatte die Seinigen soeben zum Bahnhof gebracht und war von dort direkt zu Natascha gefahren. Diesen Besuch hatte er vielleicht schon lange vorher beschlossen und überlegt. Natascha selbst erzählte mir später, daß sie im ersten Augenblick über das Kommen des Fürsten nicht einmal verwundert gewesen sei. »Mein Geist war gestört«, sagte sie.

Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie mit freundlichen, teilnahmsvollen Blicken an.

»Meine Liebe«, sagte er seufzend, »ich verstehe Ihren Kummer; ich wußte, wie schwer Ihnen in diesem Augenblick ums Herz sein mußte, und hielt es daher für meine Pflicht, Sie zu besuchen. Trösten Sie sich, wenn Sie es vermögen, wenigstens mit dem Bewußtsein, daß Sie durch Ihren Verzicht auf Aljoscha sein Glück geschaffen haben. Aber Sie wissen das besser als ich, da Sie sich ja zu dieser Handlung der Großmut entschlossen haben . . .‹

»Ich saß da und hörte ihn reden«, erzählte mir Natascha; »aber am Anfang verstand ich ihn wirklich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich ihn starr und unverwandt ansah. Er ergriff meine Hand und drückte sie in der seinigen. Das war ihm anscheinend eine sehr angenehme Empfindung. Ich aber war meines Geistes so wenig mächtig, daß ich gar nicht auf den Gedanken kam, ihm meine Hand zu entreißen.«

»Sie haben eingesehen«, fuhr er fort, »daß Aljoscha, wenn Sie seine Frau geworden wären, möglicherweise in der Folgezeit eine Abneigung gegen Sie empfunden hätte, und haben genug edlen Stolz besessen, um den Entschluß zu fassen . . . aber ich bin ja nicht hergekommen, um Sie zu loben. Ich wollte Ihnen nur versichern, daß Sie nie und nirgends einen besseren Freund finden werden als mich. Ich empfinde Teilnahme für Sie und bedaure Sie. Ich habe wider meinen Willen bei dieser ganzen Angelegenheit mitwirken müssen; aber – ich habe meine Pflicht erfüllt. Ihr schönes Herz wird das verstehen und sich mit dem meinigen aussöhnen. Es war mir schmerzlicher als Ihnen; das können Sie mir glauben.«

»Genug, Fürst!« sagte Natascha. »Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Gewiß; ich werde sehr bald wieder gehen«, erwiderte er; »aber ich liebe Sie wie eine Tochter und bitte um die Erlaubnis, Sie besuchen zu dürfen. Sehen Sie mich jetzt für Ihren Vater an, und erlauben Sie mir, Ihnen nützlich zu sein!«

»Ich habe nichts nötig; verlassen Sie mich!« unterbrach ihn Natascha wieder.

»Ich weiß, daß Sie stolz sind . . . Aber ich spreche aufrichtig, von Herzen. Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun? Sich mit Ihren Eltern zu versöhnen? Das wäre ja eine sehr gute Handlungsweise; aber Ihr Vater ist ungerecht, stolz und despotisch; verzeihen Sie mir, daß ich das sage; aber es ist so. In Ihrem Elternhaus werden Ihrer jetzt nur Vorwürfe und neue Qualen warten . . . Sie müssen unabhängig bleiben, und es ist meine Pflicht, meine heilige Pflicht, jetzt für Sie zu sorgen und Ihnen beizustehen. Aljoscha hat mich beschworen, Sie nicht zu verlassen und Ihr Freund zu sein. Aber auch außer mir gibt es noch Leute, die Ihnen außerordentlich ergeben sind. Ich meine, Sie werden mir erlauben, Ihnen den Grafen N. vorzustellen. Er besitzt ein vorzügliches Herz und ist ein Verwandter von uns, ja man kann sogar sagen der Wohltäter unserer ganzen Familie; er hat viel für Aljoscha getan. Aljoscha hat ihn sehr verehrt und geliebt. Er ist ein sehr vielvermögender Mann, von großem Einfluß, schon sehr bejahrt, und Sie können ihn als junges Mädchen unbedenklich empfangen. Ich habe ihm bereits von Ihnen gesprochen. Er kann Ihre Verhältnisse ordnen und wird Ihnen, wenn Sie wollen, eine schöne Stelle bei einer seiner Verwandten verschaffen. Ich habe ihm schon vor längerer Zeit unsere ganze Angelegenheit offen und unverhohlen vorgetragen, und in der Güte und dem Edelmut seines Herzens bittet er mich jetzt selbst, ich möchte ihn Ihnen möglichst bald vorstellen. Er ist ein Mann, der für alles Schöne Sympathie empfindet, glauben Sie mir das, ein freigebiger, achtungswerter alter Herr, der das Verdienst zu schätzen weiß und sich sogar erst kürzlich gegen Ihren Vater bei einem gewissen Vorfall in der hochherzigsten Weise benommen hat.«

Natascha richtete sich, tief beleidigt, auf. Jetzt hatte sie ihn endlich verstanden.

»Verlassen Sie mich, verlassen Sie mich augenblicklich!« rief sie.

»Aber, liebe Freundin, Sie vergessen, daß der Graf auch Ihrem Vater nützlich sein kann . . .«

»Mein Vater wird nichts von ihm annehmen. Verlassen Sie mich!« rief Natascha noch einmal.

»O mein Gott, wie hitzig und mißtrauisch Sie sind! Womit habe ich das verdient?« sagte der Fürst und blickte mit einiger Unruhe um sich. »Aber jedenfalls werden Sie mir erlauben«, fuhr er fort, indem er ein ziemlich großes Päckchen aus der Tasche zog, »Ihnen diesen Beweis meiner Teilnahme für Sie hierzulassen, und namentlich auch der Teilnahme des Grafen N., der mich mit seinem Rat dazu angeregt hat. Hier in diesem Päckchen befinden sich zehntausend Rubel. Warten Sie, meine Freundin«, fügte er schnell hinzu, als er sah, daß sich Natascha zornig von ihrem Platz erhob, »hören Sie geduldig zu Ende: Sie wissen, daß Ihr Vater seinen Prozeß gegen mich verloren hat, und diese zehntausend Rubel sind eine Entschädigung, die . . .«

»Weg!« rief Natascha; »weg mit diesem Geld! Ich durchschaue Sie vollständig . . . Sie gemeiner, gemeiner, gemeiner Mensch!«

Blaß vor Wut erhob sich der Fürst vom Stuhl.

Wahrscheinlich war er in der Absicht gekommen, das Terrain zu sondieren, die derzeitige Lage kennenzulernen, und hatte wahrscheinlich fest darauf gerechnet, daß diese zehntausend Rubel auf die bettelarme, von allen verlassene Natascha ihre Wirkung nicht verfehlen würden. Gemein und roh, wie er war, hatte er dem wollüstigen alten Grafen N. schon zu wiederholten Malen in derartigen Angelegenheiten Dienste geleistet. Aber er haßte Natascha, und da er merkte, daß die Sache nicht nach Wunsch ging, änderte er sogleich seinen Ton und beeilte sich mit boshafter Freude, sie zu beleidigen, um wenigstens nicht ungerächt wegzugehen.

»Das ist nicht hübsch von Ihnen, meine Liebe, daß Sie so heftig werden«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig in der ungeduldigen Vorfreude auf die Wirkung seiner Beleidigung; »das ist nicht hübsch von Ihnen. Man bietet Ihnen Protektion an, und Sie heben stolz das Näschen in die Höhe. Sie wissen wohl nicht, daß Sie allen Anlaß haben, mir dankbar zu sein; denn als Vater eines von Ihnen verführten und ausgebeuteten jungen Mannes hätte ich schon längst Ihre Überführung ins Arbeitshaus veranlassen können. Aber ich habe es nicht getan . . . hehehe!«

Aber in diesem Augenblick hatten der Arzt und ich die Wohnung bereits betreten. Schon in der Küche vernahm ich Stimmen, hielt den Arzt einen Augenblick zurück und hörte den letzten Satz des Fürsten mit an. Darauf erscholl sein widerliches Gelächter und ein verzweifelter Aufschrei Nataschas: »O mein Gott!« Schnell öffnete ich die Tür und stürzte mich auf den Fürsten.

Ich spie ihm ins Gesicht und schlug ihn aus voller Kraft auf die Backe. Er wollte sich auf mich werfen; aber als er sah, daß wir unser zwei waren, ergriff er die Flucht, nachdem er vorher noch sein auf dem Tisch liegendes Geldpäckchen an sich gerafft hatte. Ja, das tat er; ich sah es mit eigenen Augen. Ich warf ihm noch das Mangelholz nach, das ich in der Küche auf dem Tisch zu fassen bekam . . . Als ich wieder ins Zimmer kam, sah ich, daß der Arzt Natascha festhielt, die um sich schlug und sich aus seinen Händen losreißen wollte, wie wenn sie einen Krampfanfall hätte. Lange Zeit vermochten wir sie nicht zu beruhigen; endlich gelang es uns, sie zu Bett zu bringen; sie war irre wie bei einem hitzigen Fieber.

»Was ist mit ihr, Doktor?« fragte ich, halbtot vor Angst.

»Geduld!« antwortete er; »wir müssen uns die Krankheit erst näher ansehen; dann erst können wir uns eine Meinung darüber bilden . . . aber im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Sache recht übel aussieht. Es kann sich sogar ein Nervenfieber daraus entwickeln . . . Übrigens werden wir unsere Maßnahmen ergreifen . . .«

Aber in meinem Kopf war bereits ein anderer Gedanke aufgeblitzt. Ich bat den Arzt, noch zwei oder drei Stunden bei Natascha zu bleiben, und ließ mir von ihm versprechen, daß er sich auch nicht für eine Minute von ihr entfernen werde. Er gab mir sein Wort, und ich lief nach Hause.

Nelly saß finster und aufgeregt in einer Ecke und sah mich seltsam an. Gewiß bot ich selbst einen seltsamen Anblick.

Ich faßte sie bei den Händen, setzte mich auf das Sofa, nahm sie auf meinen Schoß und küßte sie herzlich. Sie wurde dunkelrot.

»Nelly, mein Engel!« sagte ich; »willst du unsere Retterin sein? Willst du uns alle retten?«

Sie sah mich erstaunt an.

»Nelly, unsere ganze Hoffnung beruht jetzt auf dir! Da ist ein Vater: du hast ihn gesehen und kennst ihn; er hat seine Tochter verflucht und ist gestern hergekommen mit der Bitte, du möchtest anstelle der Tochter zu ihm ziehen. Jetzt ist Natascha (und du hast gesagt, daß du sie liebst) von demjenigen verlassen worden, den sie liebte und um dessentwillen sie von ihrem Vater weggegangen war. Er ist der Sohn jenes Fürsten, der, wie du dich erinnern wirst, eines Abends zu mir kam und zunächst dich allein vorfand; und du liefst von ihm weg und wurdest nachher krank . . . Du kennst ihn doch? Er ist ein schlechter Mensch!«

»Ja, ich kenne ihn«, antwortete Nelly, die zusammengezuckt und blaß geworden war.

»Ja, er ist ein schlechter Mensch. Er haßt Natascha dafür, daß sein Sohn Aljoscha sie heiraten wollte. Heute ist Aljoscha abgereist, und eine Stunde darauf war sein Vater schon bei ihr und beleidigte sie und drohte ihr, sie ins Arbeitshaus bringen zu lassen, und verhöhnte sie. Verstehst du mich, Nelly?«

Ihre schwarzen Augen funkelten; aber sie schlug sie sofort zu Boden.

»Ja«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Jetzt ist Natascha allein und krank; ich habe unseren Arzt bei ihr gelassen und bin selbst zu dir gelaufen. Höre, Nelly: wir wollen zu Nataschas Vater gehen; du kannst ihn nicht leiden, du wolltest nicht zu ihm ziehen; aber jetzt wollen wir beide zusammen zu ihm hingehen. Wenn wir eintreten, werde ich sagen, daß du jetzt bereit seist, anstelle der Tochter, anstelle Nataschas, bei ihnen zu leben. Der alte Mann ist jetzt krank, weil er Natascha verflucht hat und weil er von Aljoschas Vater erneut tödlich beleidigt worden ist. Er will jetzt von seiner Tochter überhaupt nichts hören; aber er liebt sie, er liebt sie, Nelly, und möchte sich mit ihr versöhnen; ich weiß das, ich weiß das alles! Es ist so! . . . Hörst du auch, Nelly?«

»Ich höre«, antwortete sie, wieder nur flüsternd.

Während ich zu ihr sprach, strömten mir die Tränen aus den Augen. Sie sah mich schüchtern an.

»Glaubst du es auch?« fragte ich.

»Ja, ich glaube es.«

»Nun, dann werde ich mit dir hinfahren. Sie werden dich freundlich aufnehmen und nach allem befragen. Dann werde ich selbst das Gespräch so lenken, daß sie dich nach deinem früheren Leben fragen: nach deiner Mutter und nach deinem Großvater. Erzähle ihnen alles so, wie du es mir erzählt hast, Nelly! Erzähle ihnen alles, alles, ganz schlicht und ohne etwas zu verbergen! Erzähle ihnen, wie der böse Mensch deine Mutter verlassen hat, wie sie im Kellergeschoß bei der Bubnowa dahingesiecht ist; wie ihr, deine Mutter und du, auf den Straßen umhergegangen seid und gebettelt habt; was sie dir auf ihrem Sterbebett gesagt und um was sie dich gebeten hat. Erzähle dabei auch von deinem Großvater! Erzähle, wie er deiner Mutter nicht verzeihen wollte und wie sie dich in ihrer Todesstunde zu ihm schickte, damit er zu ihr käme und ihr verziehe, und wie er es nicht wollte und wie sie starb. Erzähle alles, alles! Und wenn du das alles erzählst, dann wird der alte Mann das im tiefsten Herzen empfinden. Er weiß ja, daß Aljoscha die arme Natascha heute im Stich gelassen hat und daß sie erniedrigt und beschimpft zurückgeblieben ist, einsam, ohne Schutz und Hilfe, den Schmähungen ihres Feindes preisgegeben. Er weiß das alles . . . Nelly! Rette Natascha! Willst du mit mir hinfahren?«

»Ja«, antwortete sie; sie atmete schwer und sah mich mit einem seltsamen Blick starr und lange an; es lag in diesem Blick eine Art von Vorwurf, und ich fühlte das in meinem Herzen.

Aber ich konnte von meinem Gedanken nicht ablassen. Ich glaubte zu fest an seinen Erfolg. Ich nahm Nelly bei der Hand, und wir gingen hinaus. Es war schon bald drei Uhr nachmittags. Eine dunkle Wolke rückte heran. In der ganzen letzten Zeit war das Wetter heiß und stickig gewesen; aber jetzt ließ sich irgendwo in der Ferne der Donner des ersten Frühlingsgewitters vernehmen. Der Wind fuhr durch die staubigen Straßen.

Wir setzten uns in eine Droschke. Während der ganzen Fahrt schwieg Nelly und sah mich nur von Zeit zu Zeit mit demselben seltsamen, rätselhaften Blick an. Ihre Brust ging heftig auf und nieder, und da ich sie in der Droschke um den Leib faßte, um sie festzuhalten, so fühlte ich, wie ihr kleines Herzchen unter meiner Hand so stark schlug, als ob es hinausspringen wollte.


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