F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Siebentes Kapitel

Sie trug ihren Hut in der Hand und legte ihn beim Eintritt auf das Klavier; dann trat sie auf mich zu und reichte mir schweigend die Hand. Ihre Lippen bewegten sich ein wenig; es schien, daß sie mir etwas sagen wollte, ein Wort der Begrüßung; aber sie brachte keinen Laut heraus.

Drei Wochen waren es, daß wir uns nicht gesehen hatten. Ich betrachtete sie mit Staunen und mit Angst. Wie hatte sie sich in diesen drei Wochen verändert! Mein Herz zog sich vor Kummer zusammen, als ich diese eingefallenen, blassen Wangen, diese fieberhaft trockenen Lippen und diese Augen sah, die hinter den langen, dunklen Wimpern hervor in heißer Glut und leidenschaftlicher Entschlossenheit brannten.

Aber, o Gott, wie schön war sie! Niemals, weder vorher noch später, habe ich sie so gesehen, wie sie an diesem verhängnisvollen Tag aussah. War das jene selbe Natascha, die vor kaum einem Jahr, kein Auge von mir verwendend und ihre Lippen nach den meinigen bewegend, meinen Roman angehört und so heiter und sorglos beim Abendessen mit dem Vater und mir gelacht und gescherzt hatte? War das jene selbe Natascha, die dort in jenem Zimmer mit gesenktem Köpfchen, ganz von roter Glut übergossen, zu mir »ja« gesagt hatte?

Es erscholl das dumpfe Geläut der Glocke, die zur Abendmesse rief. Natascha fuhr zusammen; die Mutter bekreuzigte sich.

»Du wolltest zur Messe gehen, Natascha«, sagte sie; »da wird schon geläutet. Geh hin, Nataschenka, geh hin und bete; das Heil ist nahe! Und mache einen kleinen Spaziergang! Warum sitzt du immer in der Stube! Sieh nur, wie blaß du bist; gerade als ob dich jemand behext hätte.«

»Ich werde . . . vielleicht . . . heute nicht hingehen«, erwiderte Natascha langsam und leise, fast flüsternd. »Ich . . . bin nicht wohl«, fügte sie hinzu und wurde blaß wie Leinwand.

»Du solltest doch lieber hingehen, Natascha; du wolltest es doch vorhin selbst und hast ja deinen Hut mitgebracht. Bete, Nataschenka, bete, daß dir Gott deine Gesundheit wiedergeben möge!« redete Anna Andrejewna ihrer Tochter zu und blickte sie schüchtern an, als ob sie sich vor ihr fürchte.

»Ja, ja, geh hin; da hast du auch gleichzeitig einen Spaziergang«, fügte der Alte hinzu und musterte ebenfalls beunruhigt das Gesicht der Tochter. »Deine Mutter hat recht. Wanja wird dich begleiten.«

Es kam mir so vor, als ob ein bitteres Lächeln über Nataschas Lippen huschte. Sie trat ans Klavier, nahm ihren Hut und setzte ihn auf; die Hände zitterten ihr. Alle ihre Bewegungen vollzogen sich wie bewußtlos, gerade wie wenn sie nicht wüßte, was sie tat. Der Vater und die Mutter beobachteten sie unverwandt.

»Lebt wohl!« sagte sie kaum hörbar.

»Aber, mein Engel«, erwiderte die Mutter, »wozu sollen wir in dieser Weise Abschied nehmen; es ist ja doch kein weiter Weg! Aber wenigstens wird dich der Wind ein bißchen anwehen; sieh nur, wie blaß du bist! Ach, das hatte ich ganz vergessen (ich vergesse aber auch alles!): ich habe dir ja ein Amulett zurechtgemacht; ich habe ein Gebet hineingenäht, mein Engel; eine Nonne aus Kiew hat es mich im vorigen Jahr gelehrt; es ist ein wirksames Gebet; ich habe es erst vorhin hineingenäht. Lege es an, Natascha! Vielleicht macht dich Gott der Herr wieder gesund. Du bist ja unsere Einzige.«

Sie zog aus ihrem Arbeitskörbchen Nataschas goldenes Brustkreuz heraus; an demselben Bändchen, an dem das Kreuz hing, war das soeben genähte Amulett befestigt.

»Trage es mit Gesundheit!« fügte sie hinzu, indem sie der Tochter das Kreuz umhängte und sie bekreuzte: »Früher bekreuzte ich dich jeden Abend so beim Schlafengehen und sprach ein Nachtgebet, und du sprachst es mir nach. Aber jetzt bist du eine andere geworden, und Gott vergönnt dir keine Ruhe des Gemütes. Ach, Natascha, Natascha! Auch meine mütterlichen Gebete vermögen dir nicht zu helfen!«

Die alte Frau fing an zu weinen.

Natascha küßte ihr schweigend die Hand und tat einen Schritt auf die Tür zu; aber plötzlich kehrte sie schnell wieder um und trat zu ihrem Vater. Ihre Brust ging in heftiger Bewegung auf und nieder.

»Papachen, bekreuzen auch Sie Ihre Tochter!« bat sie mit versagender Stimme und ließ sich vor ihm auf die Knie nieder.

Wir standen alle ganz erstaunt da über ihr unerwartetes, allzu feierliches Benehmen. Eine kleine Weile blickte der Vater sie ganz bestürzt an.

»Natascha, mein Kind, mein liebes Töchterchen, was ist dir?« rief er endlich, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. »Worüber grämst du dich? Worüber weinst du Tag und Nacht? Ich sehe es ja alles; in der Nacht schlafe ich nicht; ich stehe auf und horche an deinem Zimmer! Sage mir alles, Natascha; öffne mir altem Manne dein ganzes Herz, und wir . . .«

Er sprach nicht zu Ende, hob sie auf und schloß sie innig in seine Arme. Sie drückte sich krampfhaft gegen seine Brust und verbarg ihren Kopf an seiner Schulter.

»Es ist nichts, es ist nichts, es hat keine Ursache . . . ich bin nicht wohl«, versicherte sie, beinah erstickend an innerlichen, unterdrückten Tränen.

»Gott segne dich, wie ich dich segne, mein liebes Kind, mein teures Kind!« sagte der Vater. »Er verleihe dir für alle Zeit den Frieden der Seele und halte alles Leid von dir fern! Bitte Gott, mein Kind, daß mein sündiges Gebet zu ihm dringen möge!«

»Nimm auch meinen Segen, auch meinen Segen!« fügte die Mutter, in Tränen zerfließend, hinzu.

»Lebt wohl!« flüsterte Natascha.

An der Tür blieb sie stehen, blickte noch einmal alle an, wollte noch etwas sagen, konnte es aber nicht und verließ schnell das Zimmer. Ich eilte ihr, Schlimmes ahnend, nach.


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