F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Zehntes Kapitel

»Wissen Sie was?« sagte der Fürst zu mir, als er sich mit mir in den Wagen setzte, »wie wär's, wenn wir jetzt soupierten? Wie denken Sie darüber?«

»Ich weiß wirklich nicht, Fürst«, antwortete ich unentschlossen. »Ich esse nie zu Abend . . .«

»Nun, selbstverständlich wollen wir beim Abendessen auch miteinander reden«, fügte er hinzu, indem er mir unverwandt und listig gerade in die Augen sah.

Das war nicht mißzuverstehen! »Er will sich mit mir aussprechen« dachte ich; »und mir ist das gerade sehr erwünschte.« Ich willigte ein.

»Also abgemacht. Nach der Großen Morskaja zu B.!«

»Ein Restaurant?« fragte ich, etwas unangenehm berührt.

»Ja. Was ist dabei? Ich soupiere nur selten zu Hause. Erlauben Sie mir denn nicht, Sie einzuladen?«

»Aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich nie zu Abend esse.«

»Nun, einmal können Sie schon eine Ausnahme machen. Überdies lade ich Sie ja ein . . .«

Das hieß: ›Ich werde für dich bezahlen‹; ich war überzeugt, daß er das absichtlich hinzufügte. Ich ließ mich von ihm mitnehmen, nahm mir aber vor, im Restaurant für mich selbst zu bezahlen. Wir kamen hin. Der Fürst nahm ein besonderes Zimmer und wählte mit Geschmack und Sachkenntnis zwei, drei Gerichte aus. Diese Gerichte waren teuer, ebenso wie die Flasche feinen Tischweines, die er bringen ließ. All das paßte nicht für mein Portemonnaie. Ich warf einen Blick auf die Karte und bestellte mir ein halbes Haselhuhn und ein Glas Lafitte. Der Fürst war entrüstet.

»Sie wollen nicht mit mir soupieren! Das ist ja geradezu lächerlich. Pardon, mon ami; aber das ist . . . eine empörende Pedanterie. Das ist eine ganz kleinliche Eigenliebe. Es scheint fast, als ob da die Standesinteressen ins Spiel kämen; ich möchte darauf wetten, daß es der Fall ist. Ich versichere Ihnen, daß Sie mich beleidigen.«

Aber ich bestand auf meinem Willen.

»Nun, wie Sie wollen«, sagte er. »Ich will Sie nicht nötigen . . . Sagen Sie, Iwan Petrowitsch, kann ich mit Ihnen ganz freundschaftlich reden?«

»Ich bitte darum.«

»Nun also, meiner Ansicht nach schaden Sie durch eine solche Pedanterie sich selbst. In derselben Weise schaden sich auch alle Ihre Berufsgenossen. Sie sind Schriftsteller und müssen dazu die Welt kennen; aber Sie ziehen sich von allem zurück. Ich rede jetzt nicht von Haselhühnern; aber Ihr Streben geht ja dahin, jede Berührung mit unseren Kreisen vollständig zu vermeiden, und das ist entschieden nachteilig. Ganz abgesehen davon, daß Sie in materieller Hinsicht viel verlieren (ich meine die Karriere), ist doch schon zu erwägen, daß Sie das, was Sie schildern wollen, kennenlernen müssen, und in den Novellen kommen doch auch Grafen und Fürsten und Boudoirs vor . . . Aber was rede ich da! Bei euch neueren Schriftstellern ist ja immer nur die Rede von Armut, von verlorenen Mänteln, von Revisoren, von hitzigen Offizieren und Beamten, von alten Zeiten und vom Sektiererwesen, ich weiß, ich weiß . . .«

»Sie irren sich, Fürst; wenn ich mich von Ihren sogenannten höheren Kreisen fernhalte, so tue ich das deswegen, weil es erstens dort langweilig ist und ich zweitens da nichts zu suchen habe! Indessen verkehre ich doch . . .«

»Ich weiß, bei dem Fürsten R., einmal im Jahr; da habe ich Sie ja auch getroffen. Die übrige Zeit hindurch aber versteifen Sie sich auf Ihren demokratischen Stolz und führen ein kümmerliches Dasein in Ihrer Dachstube. Allerdings handeln nicht alle Ihre Kollegen so; es gibt darunter Liebhaber von solchen Abenteuern, daß selbst mir davon übel wird . . .«

»Ich möchte Sie bitten, Fürst, dieses Thema zu verlassen und nicht wieder auf unsere Dachstuben zurückzukommen.«

»Ach, mein Gott, sehen Sie, da fühlen Sie sich schon beleidigt. Übrigens hatten Sie mir doch selbst erlaubt, mit Ihnen freundschaftlich zu reden. Aber Pardon, ich habe Ihre Freundschaft noch durch nichts verdient. Der Wein ist recht trinkbar. Versuchen Sie ihn doch!«

Er goß mir ein halbes Glas aus seiner Flasche ein.

»Sehen Sie wohl, mein lieber Iwan Petrowitsch, ich begreife ja sehr wohl, daß es unschicklich ist, jemandem seine Freundschaft aufzudrängen; wir sind ja nicht alle dreist und unverschämt gegen Sie, wie Sie das von uns glauben. Na, ich begreife ferner sehr wohl, daß Sie hier mit mir zusammen sitzen, nicht weil ich Ihnen sympathisch wäre, sondern weil ich versprochen habe, mich mit Ihnen auszusprechen. Nicht wahr?«

Er lachte.

»Und da Sie die Interessen einer gewissen Person wahrnehmen, so möchten Sie gern hören, was ich Ihnen sagen will. Ist es nicht so?« fügte er mit einem boshaften Lächeln hinzu.

»Sie haben sich nicht geirrt«, unterbrach ich ihn ungeduldig. (Ich merkte, daß er zur Kategorie derjenigen gehörte, die, wenn sie einen Menschen auch nur ein wenig in ihrer Gewalt haben, ihn dies sofort fühlen lassen. Ich aber befand mich in seiner Gewalt; ich konnte nicht weggehen, ehe ich nicht alles gehört hatte, was er mir zu sagen beabsichtigte, und er wußte das recht gut. Sein Ton hatte sich rasch geändert und war immer dreister, familiärer und spöttischer geworden.) »Sie haben sich nicht geirrt, Fürst; eben deswegen bin ich mitgekommen; sonst säße ich wahrhaftig hier nicht . . . noch so spät.«

Ich hatte sagen wollen: »Sonst säße ich wahrhaftig hier nicht mit Ihnen zusammen«; aber ich sagte es nicht und gab dem Satz eine andere Wendung, nicht aus Furcht, sondern infolge meiner verdammten Schwäche und meines nichtswürdigen Zartgefühls. In der Tat, ich bringe es nicht fertig, jemandem eine Grobheit gerade ins Gesicht zu sagen, wenn er es auch verdient und wenn ich auch faktisch beabsichtigt habe, ihm eine Grobheit zu sagen. Ich glaube, der Fürst merkte das am Ausdruck meiner Augen und blickte mich während meiner ganzen letzten Antwort spöttisch an, wie wenn er sich über meine Schwachmütigkeit freute und mich mit seinem Blick reizen wollte: »Siehst du wohl, du hast es nicht gewagt; du hast es mit der Angst bekommen, ja, ja, Freundchen!« So war es sicherlich; denn als ich schloß, fing er an zu kichern und klopfte mir mit gönnerhafter Freundlichkeit auf das Knie.

»Ich muß über dich lachen, Freundchen!« las ich in seinem Blick. – »Warte nur!« dachte ich im stillen.

»Ich bin heute sehr vergnügt!« rief er; »und wirklich, ich weiß nicht, warum. Ja, ja, mein Freund, ja! Gerade über diese Person wollte ich mit Ihnen reden. Man muß sich doch einmal gründlich aussprechen und zu einem Resultat gelangen, und ich hoffe, daß Sie mich diesmal vollständig verstehen werden. Ich begann vorhin, mit Ihnen von diesem Geld und dieser Schlafmütze von Vater, dem sechzigjährigen Säugling, zu reden . . . Na, es ist nicht der Mühe wert, noch einmal davon zu sprechen. Ich habe es ja nur im Scherz gesagt! Hahaha, Sie als Schriftsteller mußten das doch merken . . .«

Ich sah ihn erstaunt an. Betrunken schien er noch nicht zu sein.

»Nun, aber was dieses Mädchen anbelangt, so habe ich wirklich vor ihr alle Hochachtung; ich liebe sie sogar, versichere ich Sie. Sie ist ein bißchen launisch; aber »keine Rose ohne Dornen«, wie man vor fünfzig Jahren zu sagen pflegte, und das ist ein schöner Spruch: die Dornen stechen zwar, aber gerade das ist das Reizvolle; und obgleich mein Aljoscha ein Dummkopf ist, habe ich ihm doch schon teilweise verziehen – wegen seines guten Geschmacks. Kurz, solche Mädchen gefallen mir, und ich habe« (er kniff vielsagend die Lippen zusammen) »sogar meine besonderen Absichten . . . Nun, davon später! . . .«

»Fürst, hören Sie, Fürst!« rief ich. »Ich verstehe diesen raschen Wechsel Ihrer Anschauungen nicht; aber . . . verlassen Sie dieses Thema; ich bitte Sie darum.«

»Sie werden wieder hitzig! Nun gut . . . ich werde dieses Thema verlassen! Nur eins möchte ich Sie fragen, mein lieber Freund: schätzen Sie sie sehr hoch?«

»Selbstverständlich!« antwortete ich in grobem, ungeduldigem Ton.

»Na, und lieben Sie sie auch?« fuhr er fort; er fletschte in widerwärtiger Weise die Zähne und kniff die Augen zusammen.

»Sie vergessen sich!« rief ich.

»Nun, nun, ich werde es nicht wieder tun! Beruhigen Sie sich! Ich bin heute in wunderbar guter Laune. Ich bin so vergnügt wie lange nicht. Wollen wir nicht Champagner trinken? Wie denken Sie darüber, mein lieber Poet?«

»Ich werde nicht mittrinken; ich will nicht!«

»Ach was, reden Sie nicht! Sie müssen mir heute unbedingt Gesellschaft leisten. Ich fühle mich sehr wohl, und da ich ein bis zur Sentimentalität gutherziger Mensch bin, so kann ich nicht allein glücklich sein. Wer weiß, wir kommen vielleicht noch dahin, miteinander Brüderschaft zu trinken, hahaha! Nein, mein junger Freund, Sie kennen mich noch nicht! Ich bin davon überzeugt, daß Sie mich liebgewinnen werden. Ich will, daß Sie heute Leid und Freude, Frohsinn und Tränen mit mir teilen, wiewohl ich hoffe, daß wenigstens ich für meine Person nicht weinen werde. Nun, wie ist's, Iwan Petrowitsch? Bedenken Sie nur, daß, wenn Sie mir nicht den Willen tun, meine ganze gehobene Stimmung vergeht, verschwindet, verfliegt und Sie nichts zu hören bekommen; na, und Sie sind doch einzig und allein zu dem Zweck hier, um etwas zu hören. Nicht wahr?« fügte er hinzu und blinzelte mir dabei wieder unverschämt zu. »Nun, dann wählen Sie also!«

Die Drohung war schwerwiegend. Ich willigte ein. »Ob er mich betrunken machen will?« dachte ich. Hier dürfte es am Platze sein, ein Gerücht über den Fürsten zu erwähnen, das mir schon vor längerer Zeit zu Ohren gekommen war. Es hieß von ihm, er, der in Gesellschaft immer so fein und elegant auftrat, liebe es, sich manchmal nachts zu betrinken, sich stierartig zu betrinken und dann geheime Orgien zu feiern, garstige geheime Orgien . . . Ich hatte schändliche Dinge über ihn gehört. Aljoscha wußte, wie man sagte, davon, daß sein Vater manchmal trinke, bemühte sich aber, dies vor allen und namentlich vor Natascha geheimzuhalten. Einmal verplapperte er sich im Gespräch mit mir, brach aber sofort ab und gab auf meine Fragen keine Antwort. Übrigens hatte ich vorher das, was ich von anderen gehört hatte, offen gestanden, nicht geglaubt. Jetzt nun wartete ich, was da kommen werde.

Der Wein wurde gebracht; der Fürst goß zwei Gläser ein, für sich und für mich.

»Ein reizendes, ganz reizendes Mädchen, wenn sie mich auch ausgescholten hat!« fuhr er fort und kostete mit Genuß den Wein; »aber gerade dann, in solchen Augenblicken, sind diese reizenden Geschöpfe besonders reizend . . . Sie hat gewiß gedacht, sie hätte mich dazu gebracht, mich zu schämen, Sie erinnern sich, an jenem Abend, und sie hätte mich in Grund und Boden geschmettert. Hahaha! Und wie gut ihr das Erröten steht! Sind Sie Weiberkenner? Manchmal steht ein plötzliches Erröten blassen Wangen ausgezeichnet; haben Sie das schon bemerkt? Ach, mein Gott! Es scheint, Sie ärgern sich schon wieder?«

»Ja, ich ärgere mich!« rief ich, ohne mir länger Zwang aufzuerlegen; »und ich will nicht, daß Sie jetzt von Natalja Nikolajewna sprechen . . . Das heißt, nicht in diesem Ton. Ich . . . ich erlaube Ihnen das nicht!«

»Oho! Nun, meinetwegen, ich werde Ihnen das Vergnügen machen und das Thema wechseln. Ich bin ja nachgiebig und weich wie Teig. Wir wollen von Ihnen reden. Ich habe Sie sehr gern, Iwan Petrowitsch; wenn Sie wüßten, wie freundschaftlich und aufrichtig ich mich für Sie interessiere!«

»Fürst, wäre es nicht besser, wenn Sie sachlich redeten?« unterbrach ich ihn.

»Das heißt von unserer Sache, wollen Sie sagen. Ich verstehe Sie auf eine bloße Andeutung hin, mon ami; aber Sie ahnen gar nicht, wie nahe wir die Sache berühren, wenn wir jetzt von Ihnen sprechen, und selbstverständlich, wenn Sie mich nicht unterbrechen. Also, ich fahre fort: ich wollte Ihnen sagen, mein wertester Iwan Petrowitsch, daß ein Leben, wie Sie es führen, einfach Selbstmord ist. Gestatten Sie mir, diesen delikaten Gegenstand zu berühren; ich tue es aus Freundschaft. Sie sind arm; Sie lassen sich von Ihrem Verleger Vorschüsse geben, bezahlen davon Ihre kleinen Schulden, nähren sich für den Rest ein halbes Jahr lang nur von Tee und frieren in Ihrer Dachstube, bis Ihr Roman in dem Journal Ihres Verlegers erscheint. Ist's nicht so?«

»Mag es auch so sein, so ist das doch . . .«

»Ehrenwerter als zu stehlen, Bücklinge zu machen, sich bestechen zu lassen, zu intrigieren und so weiter und so weiter. Ich weiß, ich weiß, was Sie sagen wollen; das ist alles schon längst gedruckt.«

»Folglich haben Sie gar keinen Anlaß, über meine Lebensweise zu reden. Muß ich Sie wirklich erst taktvolles Benehmen lehren, Fürst?«

»Nun, Sie, lieber Freund, brauchen das allerdings nicht zu tun. Aber was ist zu machen, wenn wir gerade diese zarte Saite berühren müssen? Umgehen läßt es sich nicht. Na, dann wollen wir die Dachstuben in Ruhe lassen. Ich bin auch selbst kein Liebhaber von Dachstuben, außer in gewissen Fällen« (er kicherte in widerwärtiger Weise). »Aber über eines muß ich mich wundern: was haben Sie für eine wunderliche Passion, die zweite Rolle zu spielen? Es hat ja freilich ein Schriftsteller, ein Berufsgenosse von Ihnen, irgendwo, wie ich mich erinnere, gesagt, es sei vielleicht die größte Tat, die ein Mensch vollbringen könne, wenn er es verstehe, sich im Leben mit der zweiten Rolle zu begnügen. So ungefähr lautete es. Ich habe denselben Gedanken auch schon irgendwo gesprächsweise erörtern gehört. Aljoscha hat Ihnen doch die Braut abspenstig gemacht, das weiß ich; aber Sie quälen sich wie so ein Schiller für die beiden ab und leisten ihnen alle möglichen Dienste und machen bei ihnen fast den Laufburschen . . . Nehmen Sie es mir nicht übel, mein Lieber; aber das ist doch ein garstiges Spiel mit hochherzigen Gefühlen . . . Daß Ihnen das nicht widerwärtig wird, wirklich! Sie sollten sich geradezu schämen! Ich glaube, ich würde mich an Ihrer Stelle totärgern, besonders aber mich schämen, schämen!«

»Fürst! Es scheint, Sie haben mich absichtlich hierhergeführt, um mich zu beleidigen!« rief ich, außer mir vor Wut.

»O nein, mein Freund, nein; ich bin in diesem Augenblick ganz einfach ein ruhig denkender Mensch und wünsche Ihr Bestes. Kurz gesagt, ich möchte die ganze Sache in Ordnung bringen. Aber lassen wir vorläufig die ›ganze Sache‹, und hören Sie mich bis zu Ende an; geben Sie sich Mühe, nicht hitzig zu werden, wenn auch nur für zwei Minuten. Nun, was meinen Sie, wie wär's, wenn Sie sich verheirateten? Sehen Sie, ich rede jetzt von einem vollständig abseits liegenden Gegenstand; warum sehen Sie mich denn so erstaunt an?«

»Ich warte, bis Sie ganz ausgesprochen haben werden«, antwortete ich; ich sah ihn allerdings sehr verwundert an.

»Es ist eigentlich weiter nichts zu sagen. Ich wollte nur wissen, was Sie sagen würden, wenn einer Ihrer Freunde, der Ihnen ein dauerhaftes, wahres Glück wünscht, nicht so ein flüchtiges, Ihnen ein junges, hübsches Mädchen vorschlüge, das aber . . . schon seine Erfahrungen gemacht hat; ich rede nur ganz im allgemeinen, aber Sie werden mich verstehen, ein Mädchen in der Art von Natalja Nikolajewna, selbstverständlich mit einer anständigen Kompensation . . . (beachten Sie wohl: ich rede von etwas Abseitsliegendem, nicht von unserer Angelegenheit); nun, was würden Sie dann sagen?«

»Ich antworte Ihnen, daß Sie . . . verrückt geworden sind.«

»Hahaha! Holla! Sie wollen mich wohl gar prügeln?«

Ich war in der Tat nahe daran, mich auf ihn zu stürzen. Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Er machte mir den Eindruck eines ekelhaften Reptils, einer riesigen Spinne, und ich hatte die größte Lust, das garstige Geschöpf zu zertreten. Er fand sein Vergnügen daran, mich zu verspotten; er spielte mit mir wie die Katze mit der Maus, in der Voraussetzung, daß ich ganz in seiner Gewalt sei. Es schien mir (und ich hatte Verständnis dafür), daß er eine Art von Genuß, vielleicht sogar eine Art von Wollust bei seiner Frechheit, bei dieser Unverschämtheit, bei diesem Zynismus empfand, mit dem er sich endlich vor meinen Augen die Maske abriß. Er wollte sich an meinem Erstaunen, an meinem Schrecken werden. Er verachtete mich aufrichtig und machte sich über mich lustig.

Ich hatte schon von vornherein vermutet, daß dies alles vorher überlegt sei und er ein bestimmtes Ziel verfolge; aber ich befand mich in einer solchen Lage, daß ich ihn wohl oder übel bis zu Ende anhören mußte. Das lag in Nataschas Interesse, und ich mußte mich entschließen, alles zu ertragen, weil sich in diesem Augenblick vielleicht die ganze Sache entschied. Aber wie konnte ich diese zynischen, gemeinen Äußerungen über sie anhören, wie konnte ich sie kaltblütig ertragen? Überdies wußte er selbst sehr wohl, daß ich genötigt war, ihn anzuhören, und dadurch wurde die Beleidigung noch verschärft. ›Übrigens hat auch er mich nötig‹, dachte ich bei mir und begann, ihm in schroffem, feindseligem Ton zu antworten. Er verstand das.

»Hören Sie mal, mein junger Freund«, begann er, mich ernst anblickend, »so können wir beide nicht fortfahren, und daher tun wir besser, einen Vertrag miteinander abzuschließen. Sehen Sie, ich beabsichtige, Ihnen etwas mitzuteilen; na, da müssen Sie denn aber so liebenswürdig sein, ruhig alles anzuhören, was ich zu sagen habe. Ich möchte gern so reden, wie ich will und wie es mir gefällt, und eigentlich ist das ja auch das Richtige. Nun also, wie ist es, mein junger Freund, werden Sie Geduld haben?«

Ich überwand mich und schwieg, obwohl er mich mit einer solchen Miene höhnischen Spottes ansah, als ob er mich selbst zum schärfsten Protest herausfordern wollte. Aber er begriff, daß ich einwilligte dazubleiben, und fuhr fort:

»Ärgern Sie sich nicht über mich, mein Freund! Worüber sind Sie denn so böse geworden? Wegen einer Äußerlichkeit, nicht wahr? Sie haben ja doch, was den Kern der Sache anlangt, von mir nichts anderes erwartet, mochte ich nun so oder so mit Ihnen reden, mit parfümierter Höflichkeit oder so wie jetzt; der Inhalt würde doch immer derselbe sein. Sie verachten mich, nicht wahr? Aber sehen Sie, wieviel liebenswürdige Schlichtheit, Offenherzigkeit und Bonhomie in mir steckt! Ich bekenne Ihnen alles, sogar meine kindischen Launen. Ja, mon cher, ja, etwas mehr Bonhomie auch von Ihrer Seite, und wir werden uns in allen Punkten einigen und schließlich einander vollständig verstehen. Über mich aber wundern Sie sich, bitte, nicht! All diese Unschuldsspiele, diese ganze Idylle Aljoschas, diese ganze Schwärmerei à la Schiller, diese ganze Verstiegenheit bei dieser verdammten Liaison mit dieser Natascha (die übrigens ein sehr liebenswürdiges Mädchen ist) sind mir schließlich dermaßen zum Ekel geworden, daß ich mich sozusagen auf eine Gelegenheit freute, wo ich über all das mal ein kräftiges Wort würde sagen können. Na, diese Gelegenheit ist nun gekommen. Und überdies wollte ich Ihnen sowieso mein Herz ausschütten. Hahaha!«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Fürst, und ich erkenne Sie gar nicht wieder. Sie verfallen in den Ton eines Hanswurstes; diese unerwartete Offenherzigkeit . . .«

»Hahaha! Das ist zum Teil richtig! Ein allerliebster Vergleich! Hahaha! Ich zeche heute, mein Freund, ich zeche heute; na, und da müssen Sie, mein lieber Poet, mir gegenüber schon eine weitgehende Nachsicht üben. Aber lassen Sie uns trinken!« rief er in höchst selbstzufriedenem Ton und füllte die Gläser nach. »Sehen Sie, mein Freund, schon allein jener dumme Abend bei Natascha (Sie erinnern sich) hat mich aufs äußerste aufgebracht. Allerdings, sie selbst war sehr liebenswürdig; aber ich verließ die Wohnung in einer schrecklichen Wut und will das nicht vergessen. Weder vergessen noch verbergen. Sicherlich wird auch meine Zeit einmal kommen, und sie rückt sogar schon rasch näher; aber wir wollen das jetzt lassen. Unter anderem wollte ich Ihnen mitteilen, daß ich einen Charakterzug besitze, den Sie noch nicht kennen: nämlich einen Haß gegen all diese abgeschmackten, wertlosen Tändeleien und Schäferspiele; und einer der pikantesten Genüsse ist es für mich immer gewesen, zunächst selbst in diesen Ton einzustimmen, so einen ewig-jungen Schillerianer liebenswürdig zu behandeln und zu ermutigen und ihm dann plötzlich auf einmal einen Keulenschlag zu versetzen, plötzlich vor seinen Augen die Maske abzunehmen und statt des bisherigen entzückten Gesichtes ihm eine Grimasse zu schneiden, ihm die Zunge herauszustrecken, gerade in dem Augenblick, wo er auf eine solche Überraschung am wenigsten gefaßt ist. Wie? Sie haben dafür kein Verständnis? Das scheint Ihnen vielleicht garstig, absurd, gemein? Ja?«

»Selbstverständlich.«

»Sie sind offenherzig. Na, aber was soll ich anfangen, wenn diese Leute mich durch ihr Benehmen peinigen? Dummerweise bin auch ich offenherzig; aber das liegt nun einmal in meinem Charakter. Übrigens möchte ich Ihnen ein paar Geschichtchen aus meinem Leben erzählen. Sie werden dadurch ein besseres Verständnis für mich gewinnen, und sie werden Sie interessieren. Ja, ich habe heute vielleicht wirklich Ähnlichkeit mit einem Hanswurst; und ein Hanswurst ist ja offenherzig, nicht wahr?«

»Hören Sie mal, Fürst, es ist jetzt schon spät, und ich möchte wirklich . . .«

»Was? Mein Gott, welche Ungeduld! Wohin haben Sie es denn so eilig? Lassen Sie uns doch noch ein Weilchen sitzen und freundschaftlich reden, ganz aufrichtig, wissen Sie, so beim Glase Wein, wie gute Freunde! Sie meinen, ich sei betrunken; nun, das würde ja nichts schaden; um so besser für Sie. Hahaha! Wirklich, diese freundschaftlichen Zusammenkünfte bleiben einem nachher immer lange im Gedächtnis, und man erinnert sich ihrer mit großem Genuß. Sie sind kein guter Mensch, Iwan Petrowitsch! Sie sind nicht empfindsam und gefühlvoll genug. Na, wie kann es Ihnen darauf ankommen, einem solchen Freund wie mir ein oder ein paar Stündchen zum Opfer zu bringen? Und außerdem hängt das doch auch mit unserer Angelegenheit zusammen . . . Na, das müssen Sie doch verstehen! Und dazu sind Sie noch Schriftsteller; Sie sollten den Zufall segnen. Sie können mich ja schriftstellerisch als Modell verwerten, hahaha! Mein Gott, von was für einer liebenswürdigen Offenherzigkeit ich heute bin!«

Der Wein stieg ihm offenbar schon in den Kopf. Sein Gesicht veränderte sich und nahm einen boshaften Ausdruck an. Er hatte augenscheinlich Lust, jemandem wehe zu tun, ihn zu stechen, zu beißen, zu verspotten. »In einer Hinsicht ist es gut, daß er betrunken ist«, dachte ich; »ein Betrunkener schwatzt leicht etwas aus.« Aber er war auf seiner Hut.

»Mein Freund«, begann er, und er hörte sich offenbar mit Genuß reden, »ich habe Ihnen soeben ein Geständnis gemacht, das vielleicht sogar deplaciert war, das Geständnis, daß sich manchmal in mir der unüberwindliche Wunsch regt, jemandem in einem bestimmten Fall die Zunge herauszustrecken. Zum Dank für diese meine naive, harmlose Offenheit haben Sie mich mit einem Hanswurst verglichen, was mich zum herzlichen Lachen gebracht hat. Aber wenn Sie mir einen Vorwurf daraus machen wollen oder sich darüber wundern wollen, daß ich mich jetzt gegen Sie grob und vielleicht gar mit bauernhafter Ungeschliffenheit benehme, kurz, daß ich auf einmal den Ton Ihnen gegenüber geändert habe, so tun Sie in diesem Fall durchaus unrecht. Erstens paßt es mir so, und zweitens befinde ich mich nicht bei mir zu Hause, sondern an einem andern Ort mit Ihnen zusammen . . . das heißt, ich will sagen, wir trinken jetzt zusammen als gute Freunde; und drittens liebe ich es sehr, meinen Launen zu folgen. Wissen Sie wohl, daß ich früher einmal aus Laune sogar Philosoph und Philanthrop war und mich beinah in denselben Ideen bewegte wie Sie? Das liegt übrigens schon furchtbar weit zurück, in den goldenen Tagen meiner Jugend. Ich erinnere mich, ich fuhr damals, von humanen Absichten erfüllt, auf mein Gut und langweilte mich dort natürlich gottsjämmerlich; und Sie werden kaum glauben, was mit mir da geschah: aus Langerweile fing ich an, mit hübschen Mädchen Bekanntschaft zu machen . . . Sie schneiden ja schon wieder ein Gesicht? Oh, mein junger Freund! Wir sitzen ja jetzt so freundschaftlich zusammen. Das ist doch die beste Zeit, um zu trinken und sich aufzuknöpfen! Ich bin ja eine russische Natur, eine echt russische Natur, ein Patriot, ich knöpfe mich gern einmal auf, und zudem muß man den Augenblick ergreifen und das Leben genießen. Wir sterben, und was dann? Na, also ich gab mich mit Weibern ab. Ich erinnere mich, da war eine Hirtenfrau, die einen hübschen jungen Mann hatte. Ich verhängte eine schwere Züchtigung über ihn und wollte ihn unter die Soldaten stecken (das sind so Streiche, die der Vergangenheit angehören, mein lieber Poet!); aber ich steckte ihn nicht unter die Soldaten; er starb bei mir im Krankenhaus . . . Ich hatte nämlich damals bei mir im Dorf ein Krankenhaus mit zwölf Betten; vorzüglich eingerichtet; höchst reinlich; Parkettfußboden. Übrigens habe ich es schon längst eingehen lassen; aber damals war ich stolz darauf: ich war eben Philanthrop; na, aber den Hirten ließ ich mit Ruten fast zu Tode peitschen wegen seiner Frau . . . Aber warum schneiden Sie denn wieder eine Grimasse? Ist es Ihnen widerwärtig, so etwas zu hören? Empört sich Ihr edles Gefühl darüber? Nun, nun, beruhigen Sie sich! All das liegt weit zurück. Das tat ich, als ich ein Romantiker war und ein Wohltäter der Menschheit werden und eine philanthropische Gesellschaft gründen wollte . . . ich war damals in eine solche Richtung hineingeraten. Damals ließ ich auch mit Ruten peitschen. Jetzt lasse ich nicht mit Ruten peitschen; jetzt muß man über dergleichen eine Grimasse des Abscheus schneiden; wir alle schneiden jetzt solche Grimassen; es ist nun einmal eine solche Zeit gekommen . . . Aber am allermeisten muß ich jetzt über den Dummkopf, den Ichmenew, lachen. Ich bin überzeugt, er hatte diese ganze Geschichte mit dem Hirten erfahren; und was tat er? Weil er eine so gute Seele hatte, die, wie es scheint, aus Honigseim geschaffen ist, und weil er sich damals in mich verliebt hatte und von mir ganz entzückt war, entschied er sich dafür, nichts davon zu glauben, und glaubte es auch wirklich nicht; das heißt, er glaubte nicht, was doch Tatsache war, und verteidigte mich zwölf Jahre lang aus allen Kräften, bis es ihm selbst an den Kragen ging. Hahaha! Nun, das ist alles Unsinn! Trinken wir, mein junger Freund. Hören Sie mal: sind Sie ein Weiberfreund?«

Ich gab ihm keine Antwort. Ich hörte ihm nur zu. Er hatte schon die zweite Flasche begonnen.

»Ich rede beim Abendessen gern von Weibern. Soll ich Sie nachher mit einer gewissen Mademoiselle Philiberte bekannt machen, ja? Wie denken Sie darüber? Aber was ist Ihnen? Sie wollen mich nicht einmal ansehen . . . hm!«

Er wurde nachdenklich. Aber auf einmal hob er den Kopf in die Höhe, blickte mich bedeutsam an und fuhr fort:

»Sehen Sie, mein lieber Poet, ich will Ihnen ein Geheimnis der Natur enthüllen, das Ihnen anscheinend noch ganz unbekannt ist. Ich bin überzeugt, daß Sie mich in diesem Augenblick einen Sünder, vielleicht sogar einen Schurken, ein Monstrum von Ausschweifung und Lasterhaftigkeit nennen. Aber ich will Ihnen etwas sagen! Wenn es möglich wäre (was allerdings nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur niemals möglich sein wird), wenn es möglich wäre, daß ein jeder von uns sein ganzes geheimes Inneres schilderte und dabei ohne jede Scheu alles darlegte, was er sich sonst scheut, den Menschen zu sagen und ihnen um keinen Preis sagen würde, und alles, was er sich sonst scheut, seinen besten Freunden zu sagen, ja sogar das, was er sich mitunter scheut, sich selbst zu gestehen: dann würde sich in der Welt ein solcher Gestank erheben, daß wir alle ersticken müßten. Darum sind unsere konventionellen Verkehrsformen und Anstandsregeln so gut und nützlich. Es liegt in ihnen ein tiefer Sinn; ich will nicht gerade sagen, daß sie moralisch wären, aber sie wirken vorbeugend und tragen zur Behaglichkeit des Lebens bei, was natürlich noch besser ist, da auch die Moralität in Wirklichkeit nur auf die Behaglichkeit abzielt, das heißt einzig und allein zum Zweck der Behaglichkeit erfunden ist. Aber von den Anstandsregeln will ich nachher noch reden; ich schweife jetzt immer ab; erinnern Sie mich nachher an sie. Was ich meine, ist dies: Sie beschuldigen mich der Lasterhaftigkeit, der Ausschweifung, der Sittenlosigkeit; aber mein ganzes Vergehen besteht jetzt vielleicht nur darin, daß ich aufrichtiger bin als andere, weiter nichts; daß ich das nicht verheimliche, was andere sogar vor sich selbst verbergen, wie ich soeben gesagt habe . . . Daran handle ich ja verdreht; aber ich will einmal jetzt so handeln. Beunruhigen Sie sich übrigens nicht«, fuhr er mit einem spöttischen Lächeln fort; »ich habe gesagt ›Vergehen‹; aber ich bitte durchaus nicht um Verzeihung. Beachten Sie auch dies noch: Ich setze Sie nicht durch die Frage in Verlegenheit, ob auch Sie derartige Geheimnisse haben, um dann mich selbst mit Ihren Geheimnissen zu rechtfertigen. Ich handle anständig und vornehm. Überhaupt handle ich immer . . .«

»Sie sind einfach ins Schwatzen hineingeraten«, sagte ich, indem ich ihn verächtlich ansah.

»Ich bin ins Schwatzen hineingeraten, hahaha! Soll ich aber sagen, was Sie jetzt denken? Sie denken: ›Warum hat er mich, mir nichts, dir nichts, hergeschleppt und entblößt sich nun so vor mir?‹ Ist es so?«

»Ja.«

»Nun, den Grund werden Sie nachher erfahren.«

»Die einfachste Erklärung für Ihre Offenherzigkeit ist, daß Sie beinah schon zwei Flaschen getrunken haben und . . . angeregt sind.«

»Das soll einfach heißen: betrunken. Auch das ist möglich. ›Angeregt!‹ Das ist ein zarterer Ausdruck für »betrunken«. O Sie Muster von einem zartfühlenden Menschen! Aber es scheint, wir fangen wieder an, uns zu zanken, und begannen doch gerade von einem so interessanten Gegenstand zu sprechen. Ja, mein lieber Poet, wenn es noch auf der Welt etwas Angenehmes, Genußreiches gibt, so sind es die Weiber.«

»Wissen Sie, Fürst, ich begreife nur nicht, wie Sie auf den Einfall gekommen sind, gerade mich zum Vertrauten Ihrer Geheimnisse und erotischen Neigungen zu erwählen.«

»Hm! . . . Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie das nachher erfahren werden. Beunruhigen Sie sich darüber nicht; meinetwegen mögen Sie übrigens auch glauben, daß ich Sie nur so zufällig, ohne jeden Grund hergebracht habe; Sie sind ein Poet und imstande, mich zu verstehen; darüber habe ich ja schon mit Ihnen gesprochen. Es liegt ein besonderer Genuß in diesem plötzlichen Abreißen der Maske, in diesem Zynismus, mit dem jemand sich auf einmal vor einem anderen in einer solchen Weise ausspricht, als halte er ihn nicht einmal für wert, daß man sich vor ihm schäme. Ich werde Ihnen da ein Geschichtchen erzählen. Es lebte in Paris ein verrückter Beamter; er wurde nachher ins Irrenhaus gebracht, als man die volle Überzeugung gewonnen hatte, daß er geisteskrank war. Nun also, zu der Zeit, als er verrückt wurde, hatte er sich ein besonderes Vergnügen ersonnen: Er entkleidete sich zu Hause vollständig, wie Adam, behielt nur die Stiefel an, warf einen weiten, bis auf die Fersen reichenden Mantel um, hüllte sich in ihn ein und ging mit ernster, würdiger Miene auf die Straße hinaus. Na, wenn man ihn von der Seite sah, mußte man denken, das sei ein Mensch wie alle und er gehe zu seinem Vergnügen in einem weiten Mantel spazieren. Aber sobald ihm ein Passant an einer einsamen Stelle begegnete, wo weiter niemand ringsum zu sehen war, ging er, schweigend mit der ernstesten, tiefsinnigsten Miene auf ihn zu, blieb plötzlich vor ihm stehen, schlug seinen Mantel auseinander und präsentierte sich in seiner ganzen Nacktheit. Das dauerte nur einen Augenblick; dann wandte er sich schweigend, ohne mit einem Gesichtsmuskel zu zucken, ab und ging ruhig und würdevoll wie der Geist im »Hamlet« an dem vor Erstaunen starren Zuschauer vorüber. So verfuhr er mit allen, mit Männern, Frauen und Kindern, und darin bestand sein ganzes Vergnügen. Nun, sehen Sie: einen Teil eben dieses Vergnügens kann man auch empfinden, wenn man plötzlich so einem Schillerianer einen Keulenschlag versetzt und ihm die Zunge herausstreckt in einem Moment, wo er es am allerwenigsten erwartet. »Einen Keulenschlag versetzen« – wie gefällt Ihnen dieser Ausdruck? Ich habe ihn irgendwo in der modernen Literatur gelesen.«

»Nun, das war ein Irrsinniger; aber Sie . . .«

»Sie meinen: ich sei bei Verstand?«

»Ja.«

Der Fürst lachte auf.

»Sie urteilen ganz richtig, mein Lieber«, fügte er mit einem überaus frechen Gesichtsausdruck hinzu.

»Fürst«, sagte ich, aufgebracht über seine Unverschämtheit, »Sie hassen uns, und darunter auch mich, und rächen sich jetzt an mir für alles und für alle. Alles das geht bei Ihnen aus der kleinlichsten Eigenliebe hervor. Sie sind boshaft, in kleinlicher Weise boshaft. Wir haben Sie geärgert, und vielleicht ärgern Sie sich am allermeisten über jenen Abend. Natürlich konnten Sie es mir durch nichts so gut heimzahlen als dadurch, daß Sie mir so gründlich Ihre Verachtung bezeigen; Sie dispensieren sich sogar von der gewöhnlichen Höflichkeit, zu der wir alle im Verkehr miteinander verpflichtet sind. Dadurch, daß Sie sich so offen und unerwartet vor meinen Augen Ihre widerwärtige Maske abreißen und sich in Ihrem moralischen Zynismus präsentieren, wollen Sie mir deutlich zum Ausdruck bringen, ich sei nach Ihrem Urteil nicht einmal wert, daß man sich vor mir schäme . . .«

»Wozu sagen Sie mir das alles?« fragte er in grobem Ton, indem er mich boshaft anblickte. »Um mir Ihren Scharfsinn zu beweisen?«

»Um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie durchschaue, und Ihnen das auszusprechen.«

»Quelle idée, mon cher«, fuhr er fort; aber er hatte seinen Ton plötzlich geändert und war zu dem früheren heiteren, gutmütigen Plauderton zurückgekehrt. »Sie haben mich jetzt nur von meinem Gegenstand abgelenkt. Buvons, mon ami; gestatten Sie, daß ich Ihnen eingieße! Ich war eben im Begriff, Ihnen ein reizendes, höchst interessantes Abenteuer zu erzählen. Ich erzähle es Ihnen nur in allgemeinen Zügen. Ich war einmal mit einer Dame bekannt; sie stand nicht mehr in der Blüte der Jugend, sondern mochte etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt sein; eine erstklassige Schönheit; welch eine Büste, welch eine Haltung, welch ein Gang! Sie hatte einen scharfen, adlerartigen Blick, der immer ernst und streng war; ihr Benehmen war majestätisch und unnahbar. Sie galt für so kalt wie der Winter in seiner kältesten Zeit und erschreckte alle durch ihre unerreichbare, grausame Tugend. Ja, ›grausam‹, das ist der richtige Ausdruck. Es gab in der ganzen Gegend keine so unnachsichtige Richterin wie sie. Sie verdammte an anderen Frauen nicht nur das Laster, sondern sogar die geringste Schwäche, und dieses Verdammungsurteil war unwiderruflich, und es gab von ihm keine Appellation. In ihrem Kreise besaß sie ein gewaltiges Ansehen. Die stolzesten und wegen ihrer Tugend am meisten gefürchteten alten Damen hatten den größten Respekt vor ihr und suchten sich sogar bei ihr einzuschmeicheln. Sie blickte auf alle kühl und streng herab wie die Äbtissin eines mittelalterlichen Klosters. Die jungen Frauen zitterten vor ihrem Blick und ihrem Urteilsspruch. Eine Bemerkung, eine Andeutung von ihr genügte, um einen Ruf zu vernichten; eine solche Position hatte sie sich in der besseren Gesellschaft erworben; sogar die Männer hatten vor ihr Furcht. Schließlich warf sie sich auf eine Art von beschaulichem Mystizismus, der aber ebenfalls einen ruhigen, erhabenen Charakter trug. Und sollte man es glauben? Es gab auf der ganzen Welt kein Weib, das wollüstiger gewesen wäre als sie, und ich hatte das Glück, ihr volles Vertrauen zu genießen. Kurz, ich war ihr heimlicher Geliebter. Für unseren Verkehr hatte sie mit so meisterhafter Geschicklichkeit alle Einrichtungen getroffen, daß nicht einmal jemand von ihren Hausgenossen den geringsten Verdacht hegen konnte; nur ihre hübsche Zofe, eine Französin, war in das Geheimnis eingeweiht; aber auf diese Zofe konnten wir uns vollständig verlassen; sie war ebenfalls an der Sache beteiligt; wie, das will ich jetzt nicht erörtern. Meine Dame war derartig wollüstig, daß selbst der Marquis de Sade viel von ihr hätte lernen können. Aber das stärkste, die Nerven am meisten reizende und aufrüttelnde Moment bei diesem Genußleben war seine Heimlichkeit und die Unverschämtheit des Betruges. Diese Verhöhnung alles dessen, was die Gräfin in der Gesellschaft als etwas Hohes, Unantastbares, Unverletzliches predigte, dieses innerliche, teuflische Lachen, dieses bewußte Mit-Füßen-Treten aller Gesetze, die heiliggehalten werden sollen, und all das in ganz maßloser Weise, bis zum äußersten Grade, bis zu einem Grade, den sich auch die wildeste Einbildungskraft nicht vorzustellen wagen würde – gerade das bildete den allergrößten Reiz dieses Genusses. Ja, dieses Weib war eine Inkarnation des Teufels; aber sie hatte etwas unwiderstehlich Bezauberndes. Auch jetzt kann ich nicht ohne Entzücken an sie zurückdenken. Mitten in der Glut des heißesten Genusses lachte sie auf einmal los wie eine Irrsinnige, und ich verstand dieses Lachen, verstand es vollkommen und lachte selbst mit. Auch jetzt noch stockt mir der Atem bei der bloßen Erinnerung, obwohl es schon viele Jahre zurückliegt. Nach einem Jahr schaffte sie mich ab und gab mir einen Nachfolger. Wenn ich es auch gewollt hätte, so hätte ich ihr doch nicht schaden können. Wer hätte mir geglaubt? Wie finden Sie einen solchen Charakter? Was sagen Sie dazu, mein junger Freund?«

»Pfui, welche Gemeinheit!« antwortete ich; ich hatte dieses Bekenntnis mit einem Gefühl steigenden Ekels angehört.

»Sie wären sich selbst untreu geworden, mein junger Freund, wenn Sie anders geantwortet hätten! Ich wußte im voraus, daß Sie das sagen würden. Hahaha! Warten Sie, mon ami; wenn Sie länger leben, werden Sie Verständnis dafür gewinnen; jetzt ist Ihr Appetit noch auf Kinderkonfekt gerichtet. Nein, als Dichter haben Sie sich hier nicht erwiesen; aber diese Frau verstand das Leben und wußte es zu genießen.«

»Aber welchen Zweck hatte es, sich so zum Tier zu erniedrigen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, diese Frau erniedrigte sich doch zum Tier und Sie sich mit ihr.«

»Ah, Sie nennen das Erniedrigung zum Tier – ein Anzeichen dafür, daß Sie noch in den Kinderschuhen stecken und am Gängelband gehen. Gewiß, ich gebe zu, daß jemand auch bei einer Anschauungsweise, die der meinigen völlig entgegengesetzt ist, Selbständigkeit an den Tag legen kann; aber . . . wir wollen einfach und klar reden, mon ami . . . Sie werden selbst zugeben müssen, daß das alles Unsinn ist!«

»Was ist denn kein Unsinn?«

»Kein Unsinn ist die Persönlichkeit, mein eigenes Ich. Alles ist für mich da, und die ganze Welt ist für mich geschaffen. Hören Sie, mein Freund, ich glaube noch daran, daß man auf der Welt gut leben kann. Und das ist der allerbeste Glaube; denn ohne ihn könnte man nicht einmal schlecht leben: man müßte sich vergiften. Wie man sagt, hat es auch einen Dummkopf gegeben, der das tat. Er ging in seinem Philosophieren so weit, daß er alles negierte, alles, sogar die Gesetzmäßigkeit aller normalen und natürlichen menschlichen Pflichten; so gelangte er dahin, daß ihm nichts übrigblieb; das Resultat war Null; und da verkündete er denn, das Beste im Leben sei die Blausäure. Sie werden sagen, das sei ein Hamlet, eine schreckliche Verzweiflung, mit einem Wort, etwas so Großartiges, daß es uns auch nicht einmal im Traum beikommen könne. Aber Sie sind ein Dichter und ich ein einfacher Mensch, und daher sage ich Ihnen, daß man die Sache vom einfachen, praktischen Gesichtspunkt aus ansehen muß. Ich zum Beispiel habe mich schon längst von allen Fesseln und sogar von allen Pflichten frei gemacht. Ich halte mich nur dann für verpflichtet, wenn etwas mir irgendwelchen Vorteil bringt. Sie können die Dinge natürlich nicht so ansehen; Ihre Füße sind gefesselt, und Ihr Geschmack ist krank. Sie legen bei Ihrem Räsonnement das Ideal und die Tugenden zugrunde. Indessen, mein Freund, ich bin ja selbst gern bereit, alles zuzugeben, was Sie wünschen; aber was soll ich tun, wenn ich bestimmt weiß, daß die Grundlage aller menschlichen Tugenden der größte Egoismus bildet? Und je tugendhafter eine Handlung ist, um so mehr Egoismus steckt dahinter. Liebe dich selbst! Das ist die einzige Maxime, die ich anerkenne. Das Leben ist ein Handelsgeschäft; werfen Sie Ihr Geld nicht umsonst weg; aber bezahlen Sie meinetwegen für die genossene Bewirtung; damit erfüllen Sie alle Ihre Pflichten gegen Ihren Nächsten. Das ist mein Moralkodex, wenn Sie ihn durchaus kennenlernen wollen, obwohl ich Ihnen gestehe, daß es meiner Ansicht nach noch besser ist, seinem Nächsten nichts zu bezahlen, sondern ihn mit Klugheit dahin zu bringen, daß er einem seine Dienste umsonst leistet. Ideale habe ich keine, und ich wünsche auch keine zu haben; Sehnsucht nach ihnen habe ich nie verspürt. Auch ohne Ideale kann man auf der Welt so nett und vergnügt leben . . . und, en somme, ich bin recht froh, daß ich ohne Blausäure auskommen kann. Wäre ich ein bißchen tugendhafter, so würde ich vielleicht nicht ohne sie auskommen können, wie jener Dummkopf von Philosoph (es wird gewiß ein Deutscher gewesen sein). Nein, es gibt im Leben noch so viele gute Dinge! Ich liebe eine einflußreiche Stellung, einen hohen Rang, ein elegantes Restaurant, hohes Kartenspiel (ich spiele schrecklich gern Karten). Aber die Hauptsache, die Hauptsache bleiben doch die Frauen . . . und Frauen von aller Art; ich liebe sogar geheime, versteckte Wollust, so eine, die ein bißchen seltsam und originell ist, sogar zur Abwechslung mit etwas Schmutz . . . Hahaha! Ich sehe Ihr Gesicht an: mit welcher Verachtung blicken Sie jetzt auf mich herab!«

»Da haben Sie recht«, erwiderte ich.

»Nun, angenommen auch, daß Sie recht hätten, so ist doch jedenfalls ein bißchen Schmutz besser als Blausäure. Nicht wahr?«

»Nein; da ist doch die Blausäure besser.«

»Ich hatte Sie absichtlich gefragt: ›Nicht wahr?‹, um mich an Ihrer Antwort zu ergötzen, die ich schon vorher wußte. Nein, mein Freund, wenn Sie ein wahrer Menschenfreund sind, dann müssen Sie allen verständigen Menschen denselben Geschmack wünschen, den ich habe, sogar mit ein bißchen Schmutz; sonst haben ja die verständigen Menschen bald nichts mehr auf der Welt zu suchen, und es bleiben nur die Dummköpfe auf ihr übrig. Da hätten die einmal Glück! Es gibt ja auch jetzt schon ein Sprichwort: die Dummen haben das Glück. Und wissen Sie, es gibt nichts Angenehmeres als mit Dummköpfen zusammen zu leben und sich bei ihnen einzuschmeicheln; das ist sehr profitabel! Wundern Sie sich nicht darüber, daß ich auf gewisse hergebrachte Anschauungen Wert lege, an manchen konventionellen Formen festhalte, nach einer einflußreichen Stellung trachte; ich sehe ja, daß ich in einer hohlen Gesellschaft lebe; aber in dieser Gesellschaft sitze ich vorläufig weich und warm, und darum schmeichle ich mich bei diesen Leuten ein und spiele mich als ihr eifriger Verteidiger auf, würde aber im gegebenen Fall der erste sein, der sie verläßt. Ich kenne ja alle Ihre neuen Ideen, obgleich ich nie für sie gelitten habe; ich habe auch keinen Anlaß, das zu tun. Gewissensbisse habe ich nie über etwas gehabt. Ich bin mit allem einverstanden, wenn es mir nur gut geht. Und solcher Menschen wie mich gibt es eine Legion, und es geht uns tatsächlich gut. Alles in der Welt kann zugrunde gehen; nur uns wird das niemals begegnen. Wir existieren, solange die Welt existiert. Die ganze Welt kann irgendwohin versinken; aber wir kommen immer wieder in die Höhe, wir schwimmen immer obenauf. Apropos, beachten Sie beispielsweise nur den einen Umstand, wie langlebig solche Leute wie wir sind. Wir sind ja von einer phänomenalen Lebenszähigkeit; ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Wir leben bis zu achtzig, neunzig Jahren! Also nimmt uns die Natur selbst unter ihren Schutz, hahaha! Ich will unbedingt neunzig Jahre alt werden. Ich liebe den Tod nicht und fürchte ihn sogar. Weiß der Teufel, auf welche Weise man noch wird sterben müssen! Aber wozu sollen wir davon reden! Dazu hat mich nur dieser Philosoph, der sich vergiftete, verleitet. Zum Teufel mit der Philosophie! Buvons, mon cher! Wir fingen ja an, von hübschen Mädchen zu reden . . . Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich gehe, und auch für Sie dürfte es Zeit sein . . .«

»Nicht doch, nicht doch! Ich habe Ihnen sozusagen mein ganzes Herz erschlossen, und Sie scheinen einen so deutlichen Beweis von Freundschaft nicht einmal recht zu würdigen. Hahaha! Sie haben kein liebevolles Herz, mein lieber Poet. Aber warten Sie, ich will noch eine Flasche . . .«

»Die dritte?«

»Ja, die dritte. Über die Tugend, meine junger Zögling (gestatten Sie, daß ich Sie mit dieser freundlichen Benennung bezeichne; wer weiß, vielleicht trägt mein Unterricht noch Früchte) – also, mein Zögling, über die Tugend habe ich Ihnen schön gesagt: je tugendhafter eine Tugend ist, um so mehr Egoismus steckt in ihr drin. Ich möchte Ihnen über dieses Thema ein allerliebstes Geschichtchen erzählen. Ich liebte einmal ein Mädchen und liebte sie beinahe aufrichtig. Sie brachte mir sogar vieles zum Opfer . . .«

»Ist das die, die Sie bestohlen haben?« fragte ich grob, da ich keine Lust mehr hatte, mich zurückzuhalten.

Der Fürst fuhr zusammen; sein Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an, und er richtete seine heißen Augen starr auf mich; in seinem Blick lag Erstaunen und Wut.

»Warten Sie«, sagte er, als ob er vor sich hin spräche; »warten Sie; lassen Sie mich nachdenken! Ich bin wirklich betrunken, und es fällt mir schwer, meine Gedanken zu sammeln . . .«

Er verstummte und sah mich forschend mit demselben grimmigen Blick an, wobei er meine Hand in der seinigen hielt, wie wenn er fürchtete, ich könnte fortgehen. Ich bin überzeugt, daß er in diesem Augenblick überlegte und herauszubekommen suchte, woher ich diese fast niemandem bekannte Tatsache wohl wissen könne und ob sich darin irgendwelche Gefahr für ihn verberge. Das dauerte ungefähr eine Minute; aber dann ging mit seinem Gesicht plötzlich eine schnelle Veränderung vor; der frühere Ausdruck von Spott und trunkener Heiterkeit erschien von neuem in seinen Augen. Er lachte auf.

»Hahaha! Sie sind ja der reine Talleyrand! Nun ja, ich stand wirklich wie ein Schuljunge vor ihr, als sie mir den Vorwurf ins Gesicht schleuderte, ich hätte sie bestohlen! Wie sie damals kreischte und schimpfte! Sie war wütend und . . . hatte alle Selbstbeherrschung verloren. Aber urteilen Sie selbst: erstens hatte ich sie überhaupt nicht bestohlen, wie Sie sich soeben ausdrückten. Sie hatte mir ihr Geld selbst geschenkt, und es gehörte also mir. Na, nehmen wir an, Sie schenken mir Ihren besten Frack« (bei diesen Worten warf er einen Blick auf meinen einzigen, recht unschönen Frack, den mir vor drei Jahren der Schneider Iwan Skornjagin gemacht hatte); »ich bin Ihnen dafür dankbar und trage ihn; ein Jahr darauf überwerfen Sie sich plötzlich mit mir und fordern ihn zurück; ich habe ihn aber inzwischen schon abgetragen . . . Das ist nicht anständig von Ihnen gehandelt; warum haben Sie ihn mir denn zuerst geschenkt? Zweitens hätte ich ihr das Geld, obwohl es mir gehörte, unfehlbar zurückgegeben; aber sagen Sie selbst: wo hätte ich denn eine solche Summe so plötzlich hernehmen sollen? Die Hauptsache aber war: ich kann, wie ich Ihnen schon gesagt habe, Hirtenidyllen und Schillerianer nicht leiden; na, und gerade das war die Ursache des ganzen Zerwürfnisses. Sie glauben gar nicht, was sie vor mir für eine Pose annahm und wie sie schrie, sie schenke mir das Geld (das doch mir gehörte). Da wurde auch ich ärgerlich, und da mich meine Geistesgegenwart nie verläßt, so stellte ich klugerweise sogleich eine durchaus richtige Erwägung an: ich sagte mir, daß ich sie durch die Rückgabe des Geldes vielleicht sogar unglücklich machen würde. Ich hätte ihr den Genuß geraubt, sich durch mich völlig unglücklich zu fühlen und mich ihr ganzes Leben lang zu verfluchen. Glauben Sie mir, mein Freund, solches Unglück ist sogar die Quelle eines Entzückens höherer Art, welches darin besteht, daß man sich bewußt ist, vollkommen im Recht zu sein und großmütig gehandelt zu haben und den Gegner mit vollem Recht einen Schurken nennen zu dürfen. Dieses Entzücken des Ingrimms findet sich natürlich nur bei solchen Schillernaturen; vielleicht hatte sie später nichts zu essen; aber ich bin überzeugt, daß sie glücklich war. Ich wollte sie dieses Glückes nicht berauben und schickte ihr das Geld nicht zurück. Auf diese Weise hat auch mein Lehrsatz seine volle Bestätigung gefunden: daß, je stärker und bedeutender die Großmut eines Menschen ist, ein um so größeres Quantum des widerwärtigsten Egoismus darin steckt . . . Ist Ihnen das wirklich nicht klar? . . . Aber . . . Sie wollten mich ja nur fangen, hahaha! . . . Na, gestehen Sie es nur, Sie wollten mich fangen? . . . Oh, Sie Talleyrand!«

»Leben Sie wohl!« sagte ich und stand auf.

»Noch ein Augenblickchen! Nur noch ein paar Worte zum Schluß!« rief er, indem er seinen widerlichen Ton plötzlich mit einem ernsten vertauschte. »Hören Sie das Letzte, was ich Ihnen sagen möchte! Aus allem, was ich Ihnen gesagt habe, ergibt sich klar und deutlich (ich meine, das werden auch Sie selbst bemerkt haben), daß ich niemals und um niemandes willen meinen Vorteil aufgeben will. Ich liebe das Geld und brauche Geld. Katerina Fjodorowna besitzt viel Geld; ihr Vater ist zehn Jahre lang Branntweinpächter gewesen. Sie hat drei Millionen, und diese drei Millionen werden mir sehr zustatten kommen. Aljoscha und Katja passen vorzüglich zueinander; beide sind Dummköpfe erster Klasse; das ist's gerade, was ich brauche. Und darum wünsche und will ich unbedingt, daß ihre Heirat zustande kommt, und zwar möglichst bald. In zwei, drei Wochen werden die Gräfin und Katja aufs Land reisen. Aljoscha soll sie begleiten. Benachrichtigen Sie doch Natalja Nikolajewna vorher davon, damit es keine gefühlvollen Szenen setzt und sich niemand gegen mich auflehnt. Ich bin rachsüchtig und boshaft und bestehe auf meinem Willen. Furcht habe ich vor ihr nicht; es wird zweifellos alles nach meinem Willen geschehen, und wenn ich sie jetzt warnen lasse, so tue ich das fast nur in ihrem eigenen Interesse. Sorgen Sie dafür, daß keine Dummheiten passieren und daß sie sich vernünftig benimmt. Sonst wird es ihr schlecht gehen, sehr schlecht. Sie hat allen Grund, mir schon dafür dankbar zu sein, daß ich nicht mit ihr verfahren bin, wie es sich gehört, nach dem Gesetz. Lassen Sie sich sagen, mein lieber Poet, daß die Gesetze die Ruhe des Familienlebens beschirmen, indem sie dem Vater den Gehorsam des Sohnes gewährleisten, und daß diejenigen, die ein Kind von seinem heiligen Pflichten gegen seine Eltern abbringen, beim Gesetz keinen Schutz finden. Bedenken Sie schließlich noch, daß ich Konnexionen besitze und sie nicht, und . . . begreifen Sie denn wirklich nicht, was ich alles mit ihr tun könnte? Aber ich habe noch nichts getan, weil sie sich bisher vernünftig benommen hat. Seien Sie versichert: während dieses ganzen halben Jahres haben in jedem Augenblick scharfsichtige Augen jede Bewegung der beiden überwacht, und ich habe alles bis auf die geringste Kleinigkeit gewußt. Und darum habe ich ruhig gewartet, bis Aljoscha selbst sich von ihr abwenden würde, was jetzt bereits beginnt; bis dahin mochte es für ihn eine angenehme Zerstreuung sein. Ich aber bin in seinen Augen der humane Vater geblieben; und es liegt in meinem Interesse, daß er so über mich denkt. Hahaha! Ich denke eben daran, daß ich ihr damals, an jenem Abend, beinahe Komplimente deswegen gesagt habe, weil sie so großmütig und uneigennützig gewesen ist, ihn nicht zu heiraten; ich möchte wohl wissen, wie sie das hätte anfangen wollen! Was aber meinen damaligen Besuch bei ihr anlangt, so geschah das alles einzig und allein, weil es nunmehr Zeit war, der Liaison der beiden ein Ende zu machen. Aber ich hielt für nötig, mir alles mit eigenen Augen anzusehen, mich von allem persönlich zu überzeugen . . . Nun, sind Sie jetzt zufrieden? Oder möchten Sie vielleicht noch wissen, warum ich Sie hierhergeschleppt, mich vor Ihnen so eigentümlich benommen und eine solche Offenherzigkeit bewiesen habe, während ich doch das alles ohne jede Offenherzigkeit hätte aussprechen können, ja?«

»Ja.«

Ich überwand mich und horchte begierig auf. Zu antworten hatte ich ihm nichts weiter.

»Einzig deswegen, mein Freund, weil ich bei Ihnen etwas mehr Vernunft und klaren Blick für die Dinge bemerkte als bei unseren beiden Dummköpfen. Allerdings mochten Sie auch schon vorher wissen, wer ich bin, mochten es erraten haben, allerlei über mich kombiniert haben; aber ich wollte Sie dieser Mühe überheben und beschloß, Ihnen anschaulich zu zeigen, mit wem Sie es zu tun haben. Es ist ein großes Ding um so einen tatsächlichen Eindruck. Lernen Sie mich verstehen, mon ami! Sie wissen jetzt, mit wem Sie es zu tun haben; Sie lieben das Mädchen, und daher hoffe ich jetzt, daß Sie all Ihren Einfluß (und Sie besitzen Einfluß auf sie) aufbieten werden, um ihr gewisse Unannehmlichkeiten zu ersparen. Sonst wird sie Unannehmlichkeiten haben, und ich versichere Sie, versichere Sie mit aller Bestimmtheit: solche, über die nicht zu spaßen sein wird. Nun, und endlich der dritte Grund meiner Offenherzigkeit gegen Sie ist der (aber Sie haben ihn ja gewiß schon erraten, mein Lieber): ich wollte wirklich einmal meinem Ekel über diese ganze Angelegenheit Ausdruck geben, und zwar gerade vor Ihren Ohren . . .«

»Und Sie haben Ihre Absicht erreicht«, sagte ich, zitternd vor Erregung. »Ich gebe zu, daß Sie mir Ihren ganzen Ingrimm und Ihre ganze Verachtung für mich und uns alle auf keine Weise besser hätten zum Ausdruck bringen können als gerade durch diese Offenherzigkeit. Sie haben nicht gefürchtet, daß Sie sich durch Ihre Offenherzigkeit einem Menschen wie mir gegenüber kompromittieren könnten; noch mehr: Sie haben sich nicht einmal vor mir geschämt. Sie glichen tatsächlich jenem Irrsinnigen im Mantel. Sie haben mich nicht für einen Menschen erachtet.«

»Sie haben es erraten, mein junger Freund«, erwiderte er, sich erhebend. »Sie haben alles erraten; man sieht, daß Sie Literat sind. Ich hoffe, wir scheiden voneinander in aller Freundschaft. Brüderschaft werden wir aber wohl nicht zusammen trinken?«

»Sie sind betrunken, und nur deshalb antworte ich Ihnen nicht so, wie es sich gehören würde . . .«

»Wieder die Redefigur der Verschweigung eines Gedankens! Sie haben nicht gesagt, wie es sich denn gehören würde zu antworten, hahaha! Für Sie zu bezahlen, erlauben Sie mir wohl nicht?«

»Bemühen Sie sich nicht; ich werde selbst für mich bezahlen.«

»Nun, versteht sich. Wir haben wohl nicht denselben Weg?«

»Ich werde nicht mit Ihnen fahren.«

»Leben Sie wohl, mein lieber Poet! Ich hoffe, Sie haben mich verstanden . . .«

Er ging mit etwas unsicherem Schritt hinaus, ohne sich nach mir weiter umzusehen. Der Diener war ihm beim Einsteigen in die Equipage behilflich. Ich schlug meinen Weg ein. Es war zwischen zwei und drei Uhr. Es regnete; die Nacht war dunkel.


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