F. M. Dostojewski
Erniedrigte und Beleidigte
F. M. Dostojewski

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Viertes Kapitel

Mehrere Minuten lang sprachen wir alle keine Silbe. Natascha saß, in Nachdenken versunken, traurig und niedergeschlagen da. Ihre ganze Energie war ihr plötzlich abhanden gekommen. Sie blickte gerade vor sich hin, ohne etwas zu sehen, und schien sogar vergessen zu haben, daß sie Aljoschas Hand in der ihrigen hielt. Dieser weinte still seinen Kummer aus und richtete mitunter in ängstlicher Spannung seinen Blick auf sie.

Endlich begann er schüchtern, sie zu trösten; er flehte sie an, nicht böse zu sein; er beschuldigte sich selbst; es war klar, daß er lebhaft wünschte, seinen Vater zu rechtfertigen, und daß ihm dies besonders am Herzen lag; mehrere Male fing er an davon zu sprechen, wagte aber nicht, sich deutlich auszudrücken, da er fürchtete, aufs neue Nataschas Zorn zu erregen. Er schwur ihr ewige, unveränderliche Liebe und verteidigte mit Wärme seine Anhänglichkeit an Katja; fortwährend wiederholte er, er liebe Katja nur wie eine Schwester, wie eine liebe, gute Schwester, die er doch nicht ganz verlassen könne; dies würde sogar roh und grausam von seiner Seite sein; und er versicherte immerzu, wenn Natascha Katja kennenlerne, würden sie beide sogleich so gute Freundinnen werden, daß sie sich nie mehr voneinander würden trennen wollen, und dann werde es keinerlei Mißverständnisse mehr geben. Dieser Gedanke gefiel ihm ganz besonders. Der arme Junge sagte wirklich nichts, was er nicht selbst glaubte. Er hatte kein Verständnis für Nataschas Befürchtungen und hatte überhaupt nicht recht verstanden, was sie vorher zu seinem Vater gesagt hatte. Er verstand nur, daß sie sich entzweit hatten, und das lag ihm wie ein Stein auf dem Herzen.

»Bist du mir wegen deines Vaters böse?« fragte Natascha.

»Kann ich ihn anklagen«, antwortete er traurig, »wenn ich doch selbst die Ursache von allem bin und alles verschuldet habe? Ich habe dich so erzürnt, und da hast du in deinem Zorn auch ihn beschuldigt, weil du mich rechtfertigen wolltest: du suchst mich immer zu rechtfertigen, und ich verdiene das gar nicht. Es mußte ein Schuldiger gefunden werden, und da hast du gemeint, er sei es. Aber wahrhaftig, er ist nicht schuldig, wahrhaftig nicht!« rief Aljoscha in lebhafter Erregung. »Ist er etwa in solcher Gesinnung hergekommen? Hatte er das erwartet?«

Aber als er sah, daß ihn Natascha traurig und vorwurfsvoll anblickte, wurde er sofort ängstlich.

»Nun, ich werde es nicht wieder sagen, ich werde es nicht wieder sagen; verzeih mir«, stammelte er; »ich bin an allem schuld!«

»Ja, Aljoscha«, sagte sie schwermütig, »jetzt ist er zwischen uns getreten und hat uns unsern Frieden fürs ganze Leben zerstört. Du hast immer zu mir mehr Vertrauen gehabt als zu allen andern; aber jetzt hat er in dein Herz Argwohn und Mißtrauen gegen mich hineingeträufelt; du klagst mich an; er hat mir die Hälfte deines Herzens genommen. Eine schwarze Katze ist zwischen uns hindurchgelaufen.«Eine Redensart im Sinne von: Unsere Freundschaft hat ein Loch bekommen.

»Sprich nicht so, Natascha! Warum sagst du: ›eine schwarze Katze‹?«

Er fühlte sich durch diesen Ausdruck gekränkt.

»Durch heuchlerische Güte, durch erlogene Hochherzigkeit hat er dich für sich gewonnen«, fuhr Natascha fort, »und jetzt wird er dich immer mehr gegen mich aufreizen.«

»Ich schwöre dir, daß es nicht so ist!« rief Aljoscha mit noch größerer Wärme. »Er war gereizt, als er sagte: ›Wir haben uns übereilt.‹ Du wirst das selbst sehen: gleich morgen oder in den nächsten Tagen wird er sich besinnen, und sollte er so zornig geworden sein, daß er unsere Ehe wirklich nicht mehr will, so werde ich ihm nicht gehorchen; das schwöre ich dir. Vielleicht wird meine Kraft dazu ausreichen . . . Und weißt du, wer uns helfen wird?« rief er auf einmal, ganz entzückt über seine Idee. »Katja wird uns helfen! Und du wirst sehen, du wirst sehen, was für ein prächtiges Geschöpf sie ist! Du wirst sehen, ob sie deine Nebenbuhlerin sein und uns voneinander trennen will! Und wie ungerecht bist du vorhin gewesen, als du sagtest, ich sei einer von denen, deren Liebe am Tage nach der Hochzeit erkalten könne! Es ist mir äußerst schmerzlich gewesen, das zu hören! Nein, ich bin nicht so, und wenn ich Katja häufig besucht habe . . .«

»Laß gut sein, Aljoscha; besuche sie, sooft du magst! So habe ich es vorhin nicht gemeint. Du hast nicht alles verstanden. Sei glücklich, mit wem du willst! Ich kann doch von deinem Herzen nicht mehr fordern, als es mir zu geben vermag . . .«

Mawra trat ins Zimmer.

»Wie ist's? Soll ich den Tee hereinbringen, ja? Es ist zu ärgerlich: zwei Stunden lang kocht der Samowar schon; es ist elf Uhr.«

Sie fragte in grobem, verdrießlichem Ton; offenbar war sie sehr schlechter Laune und über Natascha aufgebracht. Die Sache war die: Sie war die ganzen Tage her, seit Dienstag, in einem solchen Freudenrausch über die bevorstehende Heirat ihrer jungen Herrin (der sie außerordentlich zugetan war) gewesen, daß sie diese Nachricht schon im ganzen Haus, in der Nachbarschaft, beim Kaufmann und beim Hausknecht verkündigt hatte. Sie hatte geprahlt und triumphierend erzählt, der Fürst, ein vornehmer Herr, ein General, und furchtbar reich, sei selbst hergekommen, um ihr Fräulein um ihre Einwilligung zu bitten; das habe sie, Mawra, mit eigenen Ohren gehört. Und nun war auf einmal alles in die Brüche gegangen. Der Fürst war zornig weggefahren, und der Tee war nicht serviert worden, und an allem war natürlich das Fräulein schuld. Mawra hatte gehört, wie respektlos sie mit dem Fürsten gesprochen hatte.

»Nun gut; bring ihn herein!« antwortete Natascha.

»Soll ich auch den Imbiß bringen?«

»Ja, bring auch den!«

Natascha lachte.

»Da habe ich nun mühsam alles zurechtgemacht«, fuhr Mawra fort. »Seit gestern fühle ich meine Beine nicht mehr. Wegen des Weines bin ich nach dem Newskiprospekt gelaufen, und nun . . .«

Sie ging hinaus und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu.

Natascha errötete und sah mich mit einem eigentümlichen Blick an.

Der Tee wurde gebracht, auch der Imbiß; es war kalter Wildbraten und Fisch da sowie zwei Flaschen guten Weines von Jelisejew. ›Wozu ist denn das alles vorbereitet?‹ dachte ich.

»Ja, siehst du, Wanja, so bin ich nun!« sagte Natascha, indem sie an den Tisch trat; sie war sogar vor mir verlegen geworden. »Ich ahnte ja, daß alles heute den Verlauf nehmen würde, den es wirklich genommen hat; aber doch dachte ich: ›Wer weiß, vielleicht endet es auch nicht so! Aljoscha wird kommen, und wir werden uns versöhnen; mein ganzer Argwohn wird sich als unbegründet herausstellen; ich werde eines Besseren belehrt werden‹, und da bereitete ich für jeden Fall einen Imbiß vor. ›Kann sein‹, dachte ich, ›daß wir länger zusammensitzen und miteinander plaudern . . .‹«

Die arme Natascha! Sie wurde ganz rot, als sie das sagte. Aljoscha geriet in Entzücken.

»Da siehst du's, Natascha!« rief er. »Du bist selbst deiner Sache nicht sicher gewesen; noch vor zwei Stunden hast du deinen Verdacht nicht für wahr gehalten! Nein, das muß alles wieder in Ordnung gebracht werden; ich bin schuld daran, ich bin die Ursache dieses ganzen Mißverständnisses, und ich werde auch alles wieder in Ordnung bringen. Natascha, erlaube mir, daß ich gleich zu meinem Vater gehe! Ich muß mit ihm sprechen; er ist gekränkt und beleidigt; ich muß ihn beruhigen; ich will ihm alles sagen, von mir aus, alles nur von mir aus; dich will ich dabei gar nicht hineinziehen. Und ich werde alles glücklich zurechtbringen . . . Sei mir nicht böse, als ob es mich so zu ihm hinzöge und ich dich verlassen wollte. Es steht ganz anders: er tut mir leid; er wird sich vor dir rechtfertigen; du wirst es sehen . . . Morgen in aller Frühe werde ich wieder zu dir kommen und den ganzen Tag bei dir sein und nicht zu Katja fahren.«

Natascha hielt ihn nicht zurück; sie riet ihm sogar selbst, sich zu seinem Vater zu begeben. Sie fürchtete sehr, Aljoscha werde sich jetzt absichtlich den Zwang antun, ganze Tage bei ihr zu sitzen, und werde sich bei ihr langweilen. Sie bat ihn nur, er möchte nichts in ihrem Namen sagen, und bemühte sich, ihm beim Abschied möglichst heiter zuzulächeln. Er war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er plötzlich noch einmal an sie herantrat, sie an beiden Händen ergriff und sich neben sie setzte. Er blickte sie mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an.

»Natascha, meine Geliebte, mein guter Engel, sei mir nicht böse, und wir wollen uns niemals miteinander streiten. Und gib mir dein Wort darauf, daß du mir immer in allen Stücken vertrauen wirst, so wie ich dir. Es ist mir etwas eingefallen, mein Engel, was ich dir jetzt noch erzählen will. Wir hatten uns einmal gestritten; ich erinnere mich nicht mehr, weswegen; aber ich hatte schuld. Wir redeten nicht miteinander. Ich mochte nicht der erste sein, der um Verzeihung bat; aber ich war furchtbar traurig. Ich wanderte durch die Stadt, trieb mich überall umher, ging zu Freunden; aber im Herzen war mir so weh, so weh! Und da kam mir in den Sinn: wenn du nun krank würdest und stürbest? Und als ich mir das vorstellte, da überkam mich auf einmal eine solche Verzweiflung, als ob ich dich wirklich für immer verloren hätte. Meine Gedanken wurden immer schmerzlicher, immer schrecklicher. Und allmählich stellte ich mir vor, ich käme zu deinem Grabhügel, fiele besinnungslos auf ihn nieder, umfinge ihn mit meinen Armen und stürbe beinahe vor Gram. Ich stellte mir vor, daß ich diesen Grabhügel küßte, dich riefe, aus ihm herauszukommen, wenn auch nur für einen Augenblick, und Gott anflehte, er möchte ein Wunder tun und dich wenigstens für einen einzigen Augenblick vor meinen Augen auferstehen lassen; ich stellte mir vor, wie ich dann auf dich zustürzen würde, um dich zu umarmen, wie ich dich küssen und wohl sterben würde vor Seligkeit darüber, daß ich dich, wenn auch nur für einen Augenblick, noch einmal hatte wie früher umarmen können. Und als ich mir das vorstellte, mußte ich plötzlich denken: da bitte ich nun Gott um dich für einen Augenblick, und dabei bist du sechs Monate mit mir zusammen gewesen, und wie oft haben wir uns in diesen sechs Monaten gezankt, wie viele Tage lang haben wir nicht miteinander geredet! Ganze Tage lang haben wir gegrollt und unser Glück verabsäumt, und nun rufe ich dich nur für einen einzigen Augenblick aus dem Grab und bin bereit, diesen einzigen Augenblick mit meinem ganzen Leben zu erkaufen! . . . Als ich mir das alles vorstellte, da konnte ich es nicht mehr aushalten und eilte so schnell wie möglich zu dir und stürzte hier ins Zimmer; du erwartetest mich schon, und als wir uns nun nach unserem Streit umarmten, da drückte ich dich (daran erinnere ich mich noch) so fest an meine Brust, als ob ich dich wirklich verloren gehabt hätte, Natascha. Wir wollen uns niemals streiten! Mir ist dann immer so schwer ums Herz! Und ist es denn überhaupt denkbar, o Gott, daß ich dich jemals verlassen könnte?«

Natascha weinte. Sie hielten sich fest umschlungen, und Aljoscha schwur ihr noch einmal, sie nie zu verlassen. Dann eilte er zu seinem Vater. Er war fest überzeugt, daß es ihm gelingen werde, alles wieder auszugleichen und in Ordnung zu bringen.

»Alles ist zu Ende! Alles ist verloren!« sagte Natascha und drückte mir krampfhaft die Hand. »Er liebt mich und wird nie aufhören, mich zu lieben; aber er liebt auch Katja und wird sie nach einiger Zeit mehr lieben als mich. Diese Schlange aber, der Fürst, wird nicht ruhen, und dann . . .«

»Natascha, ich glaube selbst, daß der Fürst nicht ehrlich handelt; aber . . .«

»Du glaubst nicht alles, was ich zu ihm gesagt habe! Ich habe es an deinem Gesicht gemerkt. Aber warte nur; du wirst selbst sehen, ob ich recht habe oder nicht. Ich habe ja nur das Allgemeinste gesagt; aber Gott weiß, was er sonst noch alles im Schilde führt! Er ist ein schrecklicher Mensch. Ich bin diese vier Tage über hier im Zimmer hin und her gegangen und habe alles enträtselt. Was er wollte, war eben dies: Aljoschas Herz sollte die Traurigkeit loswerden, die ihn hinderte, wahrhaft zu leben; es sollte frei werden von der Pflicht, mich zu lieben. Er hat diese Verlobung auch zu dem Zweck ausgesonnen, um sich mit seinem Einfluß zwischen uns zu drängen und Aljoscha durch seinen Edelmut und seine Hochherzigkeit zu bezaubern. Das ist die Wahrheit, Wanja, die Wahrheit! Gerade einen solchen Charakter hat Aljoscha. Er sollte sich hinsichtlich meiner Person beruhigen; seine Besorgnisse um mich sollten schwinden. Er sollte denken: ›Jetzt ist sie schon so gut wie meine Frau und wird lebenslänglich mit mir zusammen sein‹, und sollte unwillkürlich Katja mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Der Fürst hat offenbar den Charakter dieser Katja genau studiert und herausgefunden, daß sie zu ihm paßt und ihn stärker fesseln kann als ich. Ach, Wanja! Auf dir beruht jetzt meine ganze Hoffnung: er will zu irgendwelchem Zweck mit dir zusammenkommen, mit dir bekannt werden. Weise das nicht zurück, liebster Freund, und bemühe dich, recht bald zur Gräfin zu kommen. Mache die Bekanntschaft dieser Katja, sieh sie dir genau an und sage mir, was sie für ein Wesen ist! Es liegt mir viel daran, daß du sie siehst und mir dein Urteil sagst. Niemand versteht mich so gut wie du, und du weißt, was ich gern wissen möchte. Achte auch darauf, in welchem Grad sie miteinander befreundet sind, was für ein Verhältnis zwischen ihnen besteht, worüber sie reden; und vor allen Dingen sieh dir Katja selbst an! Beweise mir noch diesmal, liebster, bester Wanja, beweise mir noch dieses eine Mal deine Freundschaft! Auf dich, nur auf dich setze ich jetzt meine Hoffnung! . . .«


Als ich nach Hause zurückkehrte, war schon Mitternacht vorüber. Nelly öffnete mir mit verschlafenem Gesicht. Sie lächelte und blickte mich erfreut an. Das arme Kind war sehr ärgerlich auf sich selbst, weil sie eingeschlafen war. Sie hatte mich durchaus wachend erwarten wollen. Sie sagte, es habe jemand nach mir gefragt, sich zu ihr gesetzt und einen Zettel für mich auf dem Tisch hinterlassen. Der Zettel war von Masslobojew. Er ersuchte mich darin, morgen mittag zwischen zwölf und eins zu ihm zu kommen. Ich hätte Nelly gern weiter ausgefragt, verschob es aber auf den nächsten Tag und bestand darauf, sie solle sich unverzüglich schlafen legen; das arme Kind war ohnehin schon müde, da sie auf mich gewartet hatte und erst eine halbe Stunde vor meiner Ankunft eingeschlafen war.


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