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V. Das Café chantant.

Was für ein seltener, gewissenhafter Arbeiter dieser neue Commis des Hauses Fromont war!

Jeden Tag war seine Lampe die erste, die hinter den Scheiben der Fabrik aufflammte, und die letzte, die erlosch. Man hatte ihm oben unter dem Dache ein kleines Zimmer eingerichtet, das genau dem Stübchen glich, welches er mit Franz zusammen bewohnt hatte, eine wahre Trappistenzelle mit einem Feldbett und einem Tisch aus weißem Holze, über welchem das Bild seines Bruders hing. Er führte wieder dasselbe thätige, regelmäßige, zurückgezogene Leben wie zu Anfang.

Er arbeitete beständig und ließ sich das Essen wieder aus der kleinen Milchwirtschaft an der Ecke kommen. Aber ach! die auf immer entschwundene Jugend und die auf immer verlorene Hoffnung nahmen diesen Erinnerungen allen ihren Reiz. Glücklicherweise blieben ihm noch Franz und Madam Schorsch, die beiden einzigen Wesen, an die er ohne Betrübnis denken konnte. Madam Schorsch war immer bemüht, ihn zu pflegen, ihn zu trösten, und Franz schrieb ihm häufig, ohne jedoch – seltsamerweise – jemals Sidonie zu erwähnen. Risler glaubte, es habe jemand den Bruder von der Katastrophe in Kenntnis gesetzt, und auch er vermied in seinen Briefen jede Anspielung auf das Geschehene. »O, wann werde ich ihn zurückkommen lassen können!« Das war sein Ideal, sein einziger Wunsch: die Fabrik wieder in die Höhe zu bringen und seinen Bruder wieder heimzurufen.

Inzwischen flossen die Tage im Geräusch des Geschäfts und in der bittern Einsamkeit seines Schmerzes immer gleichförmig für ihn hin. Jeden Morgen ging er hinunter und machte die Runde durch die Arbeitssäle, in denen die hohe Achtung, die er einflößte, und sein strenges, stilles Gesicht die einen Augenblick gestörte Ordnung völlig wieder hergestellt hatten. In der ersten Zeit hatte man viel geschwatzt und das Verschwinden Sidoniens auf die verschiedenste Weise erklärt. Die einen behaupteten, sie wäre mit einem Liebhaber durchgegangen, die andern, Risler hätte sie fortgejagt. Alle Muthmaßungen aber wurden durch das Benehmen der beiden Associés gegen einander, das ebenso ungezwungen schien wie früher, in die Irre geführt. Zuweilen jedoch, wenn sie im Comptoir allein mit einander sprachen, überkam es Risler wie ein Anfall von wahnsinniger Wuth, wie eine Vision des begangenen Ehebruchs. Dann dachte er daran, daß diese Augen da vor ihm, dieser Mund, dies ganze Gesicht ihn tausendfach belogen hatten.

Dann packte ihn plötzlich das Verlangen, auf diesen Elenden loszustürzen, ihn bei der Kehle zu fassen und ohne Erbarmen zu erwürgen. Aber der Gedanke an Madam Schorsch hielt ihn immer zurück. Sollte er weniger muthig, weniger Herr über sich selbst sein als diese junge Frau? ... Weder Clara, noch Fromont, niemand überhaupt ahnte, was in ihm vorging. Kaum war eine ungewöhnliche Strenge und Unbeugsamkeit in seinem Benehmen zu bemerken. Jetzt imponirte Risler senior den Arbeitern, und diejenigen, welche nicht vor seinen in einer Nacht ergrauten Haaren, vor seinem eingefallenen, gealterten Gesichte Ehrfurcht empfanden, diese zitterten unter seinem eigenthümlichen Blicke, einem Blick, der in tiefem Blau erglänzte wie der Stahl einer Stichwaffe. Immer noch gut und freundlich gegen die Arbeiter, war er jetzt gegen jedes Vergehen gegen die Fabrikordnung unerbittlich geworden. Es schien, als räche er sich für eine frühere blinde, strafbare Nachsicht, deren er sich anklagte.

Gewiß, es war ein merkwürdiger Commis, dieser neue Commis des Hauses Fromont.

Dank ihm hatte die Glocke der Fabrik trotz ihrer altersschwachen Stimme sehr schnell ihr Ansehen wiedergewonnen. Der aber, der das Ganze leitete, versagte sich selbst die geringste Erleichterung. Genügsam wie ein Lehrling, überließ er drei Viertel seines Gehalts dem alten Planus zur Auszahlung an die Chèbes, nach denen er sich jedoch nie erkundigte. Der kleine Mann erschien pünktlich am letzten Tage jeden Monats, um die kleine Pension abzuholen, Sigismund gegenüber kühl und majestätisch, wie es einem Manne zukommt, der von seinen Geldern lebt. Frau Chèbe hatte zwar versucht, bis zu ihrem Schwiegersohn zu gelangen, den sie herzlich liebte und beklagte, aber schon das Auftauchen ihres Palmenshawltuchs unter dem Thore hatte Sidoniens Gatten zur Flucht veranlaßt.

Denn all der Muth, den er zeigte, war doch mehr scheinbar als wirklich. Die Erinnerung an seine Frau verließ ihn nie. Was war aus ihr geworden? Was machte sie? Er grollte Planus beinahe, daß derselbe ihm nichts darüber mittheilte. Der Brief besonders, jener Brief, den zu öffnen er nicht den Muth besessen, beunruhigte ihn. Er dachte beständig daran. O, wie schnell würde er ihn von Sigismund zurückgefordert haben, wenn er es gewagt hätte!

Eines Tages war die Versuchung zu stark. Er befand sich allein unten im Comptoir. Der alte Kassirer war zum Frühstück gegangen und hatte ausnahmsweise den Schlüssel in seinem Schreibtisch stecken lassen. Risler konnte nicht widerstehen. Er öffnete das geheime Fach, suchte, stöberte in den Papieren. Der Brief war nicht mehr da. Sigismund mußte ihn noch sicherer verwahrt haben – vielleicht in Voraussicht dessen, was in diesem Augenblicke geschah. Im Grunde war Risler über diesen Fehlschlag nicht gerade erzürnt, denn er fühlte, hätte er den Brief gefunden, so würde es mit dieser thätigen Resignation, zu der er sich zwang, zu Ende gewesen sein.

Die Woche hindurch ging noch alles gut. Das von tausend Geschäftssorgen in Anspruch genommene Dasein war erträglich und so ermüdend, daß Risler abends wie eine bewußtlose Masse auf sein Bett sank. Der Sonntag aber war endlos lang und peinlich für ihn. Die Stille auf den Höfen und in den öden Arbeitssälen eröffnete seinen Gedanken ein weites Feld. Er versuchte zu arbeiten, aber die Ermuthigung, welche die Arbeit der andern giebt, fehlte ihm. Er allein war beschäftigt in dieser großen, ruhenden Fabrik, deren Athem sogar still stand. Die vorgeschobenen Riegel, die geschlossenen Jalousien, die sonore Stimme des alten Achille, der in den verlassenen Höfen mit seinem Hunde spielte, das alles erweckte das Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Und auch das Viertel machte diesen Eindruck auf ihn. In den breiten Straßen, wo nur wenige Spaziergänger still ihres Weges zogen, klang das Geläut der Vesperglocken so tief melancholisch, und ein zuweilen herüberhallendes Echo des wogenden Pariser Lebens, Wagengerassel, eine einsame Drehorgel, der Ruf einer Kuchenverkäuferin unterbrachen diese Stille so zu sagen nur, um sie noch zu vermehren.

Risler suchte Blumen- und Blattzusammenstellungen, und während er seinen Zeichenstift handhabte, schweifte sein Geist, der dabei keine genügende Beschäftigung fand, in die Ferne, zurück zum verlorenen Glück, zu der unvergeßlichen Katastrophe, zu seinem Martyrium, um dann den armen Träumer, der noch immer an seinem Tische saß, bei der Rückkehr zu fragen: »Was hast du während meiner Abwesenheit geschafft?« Ach Gott, er hatte nichts geschafft.

O diese langen, traurigen, entsetzlichen Sonntage! Man bedenke nur, daß zu alledem bei ihm noch die abergläubische Liebe kam, wie sie das Volk für die Festtage, für jene vierundzwanzigstündige Ruhe hegt, während der man frischen Muth und frische Kräfte sammelt. Wäre er ausgegangen, so hätte ihm der Anblick eines von einer Frau und einem Kinde begleiteten Arbeiters vielleicht Thränen entlockt, aber seine trappistenmäßige Abgeschlossenheit überlieferte ihn andern, nicht geringern Leiden: der Verzweiflung der Einsamen, ihren furchtbaren Seelenkämpfen, wenn der Gott, dem sie sich geweiht haben, ihre Opfer verschmäht. Rislers Gott aber war die Arbeit, und da er bei ihr keine Beruhigung, keine Heiterkeit mehr fand, so glaubte er nicht mehr an sie und verfluchte sie.

Oft öffnete sich während dieser Stunden innern Kampfes die Thür des Zeichensaales leise, und Clara Fromont erschien. Die Einsamkeit des armen Mannes an den langen Sonntag-Nachmittagen flößte ihr Mitleid ein, und so kam sie denn sammt ihrem kleinen Töchterchen, um ihm Gesellschaft zu leisten, denn sie wußte aus Erfahrung, wie wohlthuend Kinderzärtlichkeit wirkt. Die Kleine, die jetzt bereits allein gehen konnte, glitt dann vom Arme der Mutter herab und eilte auf ihren Freund zu. Risler hörte ihre kleinen, eiligen Schritte. Er fühlte den leichten Athem hinter sich und empfand sogleich den verjüngenden, beruhigenden Einfluß desselben. Sie schlang so herzlich ihre kleinen, dicken Ärmchen um seinen Hals und lachte dabei so naiv, so ohne Grund und küßte ihn mit ihrem reizenden Munde, der noch nie gelogen hatte. Clara Fromont stand währenddem lächelnd an der Thür und betrachtete die beiden.

»Risler, lieber Freund,« sagte sie, »Sie müssen ein wenig in den Garten gehen ... Sie arbeiten zu viel. Sie werden krank werden.«

»Nein, nein, Madame ... im Gegentheil, die Arbeit erhält mich ... Sie hindert mich am Denken« ...

Nach einer langen Pause hob sie dann von neuem an:

»Vorwärts, lieber Risler, Sie müssen zu vergessen suchen.«

Risler schüttelte den Kopf.

»Vergessen? ... ist das möglich? ... Es giebt Dinge, die unsere Kraft übersteigen. Man verzeiht, aber man vergißt nicht.«

Beinahe immer aber gelang es schließlich dem Kinde, ihn in den Garten zu entführen. Er mußte wohl oder übel mit ihm Ball oder auch im Sande spielen. Aber die Unbeholfenheit, der geringe Eifer des Spielkameraden fielen der Kleinen bald genug auf. Dann verhielt sie sich ruhig und begnügte sich, ernsthaft an der Hand ihres Freundes die mit Buchsbaum eingefaßten Wege entlang zu schreiten. Nach wenigen Minuten dachte Risler schon gar nicht mehr daran, daß sie da war, aber ohne daß er darauf Acht gab, übte doch die Wärme dieser kleinen Hand, die in der seinen ruhte, einen magnetisch besänftigenden Einfluß auf seine wunde Seele.

Man verzeiht, aber man vergißt nicht! ...

Auch die arme Clara wußte etwas davon, denn auch sie hatte nichts vergessen, trotz ihres großen Muthes und der hohen Vorstellung, die sie sich von ihrer Pflicht machte. Für sie wie für Risler war die Umgebung, in der sie lebte, eine beständige Erinnerung an ihre Leiden. Unbarmherzig rissen die Dinge, die sie umgaben, die dem Verharschen nahe Wunde wieder auf. Die Treppe, der Garten, der Hof, alle diese stummen Zeugen und Mitschuldigen des Ehebruchs hatten an gewissen Tagen eine unversöhnlich herbe Physiognomie. Sogar die Sorge und Rücksicht, mit der ihr Gatte ihr jede peinliche Erinnerung zu ersparen suchte, die Art und Weise, in der er abends auszugehen vermied, und in der er ihr von den Gängen erzählte, die er gemacht hatte, dienten nur dazu, ihr das Verbrechen lebhafter ins Gedächtnis zurückzurufen. Zuweilen hätte sie ihn um Schonung bitten, ihm sagen mögen: »Thu' nicht zuviel« ... Ihr Glaube war vernichtet, und in ihrem bittern Lächeln, ihrer kalten, stummen Güte und Milde verrieth sich die furchtbare Qual des Priesters, der an seinem Glauben zweifelt und doch seinem Gelübde treu bleiben will.

Georges war sehr unglücklich. Er liebte seine Frau jetzt. Ihre Seelengröße hatte ihn besiegt. In dieser Liebe lag tiefe Bewunderung, und außerdem – warum es nicht gestehen? – Claras Leid vertrat bei ihr die Stelle einer Koketterie, die nicht in ihrem Charakter lag und ihr in den Augen ihres Gatten stets gemangelt hatte. Er gehörte zu jener eigenthümlichen Klasse von Männern, die gern Eroberungen machen. Die kalte, launenhafte Sidonie paßte ganz zu dieser Herzensverkehrtheit. Nachdem er sie nach einem überströmend zärtlichen Abschiede verlassen, fand er sie am nächsten Tage gleichgiltig und zerstreut, und diese stete Nothwendigkeit, sie immer wieder von neuem zu gewinnen, ersetzte bei ihm die wahre Leidenschaft. Das stille Glück der Liebe langweilte ihn, wie die Seeleute eine sturmlose Überfahrt. Diesmal war er mit seiner Frau dem Schiffbruche ganz nahe gewesen, und noch in diesem Augenblicke war nicht alle Gefahr vorüber. Er wußte, daß Clara sich von ihm abgewandt und ihre ganze Liebe auf das Kind übertragen hatte, das jetzt das einzige Band zwischen ihnen war. Diese Entfremdung ließ sie ihm schöner, begehrenswerther erscheinen, und er bot seine ganze Verführungskunst auf, um sie wieder zu gewinnen. Er fühlte, wie schwer das sein würde, und daß er es mit keiner alltäglichen Seele zu thun habe. Dennoch verzweifelte er nicht. Zuweilen leuchtete in der Tiefe dieses sanften und anscheinend unempfindlichen Blicks, der seinen Anstrengungen folgte, ein undeutlicher Schimmer auf, der ihn hoffen hieß.

An Sidonie dachte er nicht mehr. Und man braucht über diesen plötzlichen moralischen Bruch nicht zu staunen. Diese beiden oberflächlichen Naturen besaßen nichts, was sie tiefer hätte an einander fesseln können. Georges war unfähig, dauernde Eindrücke zu empfinden, wenigstens wenn dieselben nicht beständig erneuert wurden, und Sidonie ihrerseits konnte kein nachhaltiges, großes Gefühl einflößen. Ihr Verhältnis gehörte zur Klasse jener Liebschaften zwischen Stutzern und Cocotten, die aus Eitelkeit und gekränkter Eigenliebe entspringen, weder Hingebung noch Beständigkeit erzeugen, sondern nur zu tragischen Abenteuern, Duellen und Selbstmorden führen, und von denen man beinahe immer und immer geheilt zurückkommt. Vielleicht würde er, hätte er sie wiedergesehen, wieder von seinem Übel ergriffen worden sein, aber der Windstoß der Flucht hatte Sidonie zu schnell und zu weit entführt, als daß eine Rückkehr möglich gewesen wäre. Auf jeden Fall war es eine Erleichterung für ihn, ohne Lüge leben zu können, und das neue Dasein, das er jetzt führte, ein Dasein voller Arbeit und Entbehrung mit einer Aussicht auf Glück in weiter Ferne, widerstrebte ihm nicht. Zum Glück – denn es bedurfte des ganzen Muthes und der ganzen Willenskraft der beiden Associés, um das Haus wieder emporzubringen.

Es war auf allen Seiten leck, das arme Haus Fromont. Auch verbrachte der alte Planus noch viele schlaflose Nächte, in denen er vom Alp des Zahltages und der niederträchtigen Erscheinung des blauen Männchens gequält wurde. Durch unausgesetzte, strengste Sparsamkeit jedoch gelang es, immer zur rechten Zeit zu zahlen.

Bald waren in der Fabrik vier Risler'sche Druckpressen definitiv eingeführt und in Thätigkeit. Man begann bereits im Tapetenhandel darauf aufmerksam zu werden. Lyon, Caen und Rixheim, die großen Centralpunkte der Industrie, geriethen in große Unruhe über das »rotirende, zwölfeckige Ding«. Dann stellten sich sogar eines Tages die Prochassons ein und boten dreimalhunderttausend Franken für das Recht der Mitbenutzung des Patents.

»Was ist da zu thun?« ... fragte Fromont junior Risler senior.

Dieser zuckte gleichgiltig die Achseln:

»Entscheiden Sie selbst ... Mich geht das nicht an. Ich bin nur Commis.«

Diese kalt und ohne Zorn gesprochenen Worte dämpften die unbesonnene Freude Fromonts und riefen ihm den Ernst einer Lage ins Gedächtnis zurück, die er stets zu vergessen geneigt war.

Als er jedoch einmal mit seiner lieben Madam Schorsch allein war, rieth Risler derselben, das Anerbieten der Prochassons abzulehnen.

»Warten Sie ... Übereilen Sie sich nicht. Später werden Sie theurer verkaufen.«

Er sprach nur von ihnen bei dieser Angelegenheit, bei der er doch so glorreich betheiligt war. Man spürte, daß er sich im voraus von ihrer Zukunft lossagte.

*

Inzwischen häuften sich die Bestellungen. Die Qualität des Papiers und der in Folge der erleichterten Herstellung äußerst niedrige Preis machten jede Concurrenz unmöglich. Kein Zweifel mehr, den Fromonts winkte ein ungeheures Vermögen. Die Fabrik hatte ihr ehemaliges blühendes Aussehen wiedergewonnen und summte wieder wie ein Bienenkorb. Sie schaffte mit allen ihren Gebäuden und den Hunderten von Arbeitern, die dieselben füllten. Der alte Planus steckte kaum noch die Nase aus dem Comptoir. Von dem kleinen Garten aus sah man ihn über die schweren Einnahmebücher gebeugt sitzen und in schön geschwungenen Ziffern die Erträge der Druckpresse buchen.

Auch Risler arbeitete noch immer, ohne sich Zerstreuung oder Ruhe zu gönnen. Das rückkehrende Glück änderte nichts an seinen Klausnergewohnheiten: noch immer hörte er das rührige Geräusch seiner Maschinen vom höchsten Fenster der obersten Etage des ehemaligen Palastes aus an und war nicht weniger düster, nicht weniger schweigsam. Eines Tages jedoch erfuhr man in der Fabrik, daß die Druckpresse, von der man ein Exemplar zur großen Ausstellung nach Manchester geschickt hatte, dort die goldene Medaille und somit die endgiltige Bestätigung ihres Werthes erhalten hatte. Frau Georges rief Risler zur Frühstücksstunde in den Garten: sie wollte ihm persönlich die gute Nachricht mittheilen.

Im ersten Augenblick flog ein Lächeln befriedigten Stolzes über sein gealtertes, düsteres Gesicht. Seine Erfindereitelkeit, der Stolz auf seinen Ruhm, besonders aber der Gedanke, daß er das Unheil, welches seine Frau über die Firma gebracht hatte, auf so glänzende Weise wieder gut gemacht habe, machten ihn für einen Augenblick wirklich glücklich. Er drückte Clara die Hände und murmelte wie in früheren, glücklichen Tagen:

»Ich bin zufrieden ... Ich bin zufrieden« ...

Aber welcher Unterschied in der Betonung! Er sagte das ohne Schwung, ohne Hoffnungsfreudigkeit, mit der Genugthuung über eine erfüllte Pflicht, und weiter nichts.

Die Glocke rief die Arbeiter zu ihrer Thätigkeit zurück, und Risler stieg ruhig hinauf und machte sich wieder an die Arbeit wie sonst.

Nach einem Augenblicke kam er jedoch wieder herab. Die Nachricht hatte ihn trotz alledem mehr erregt, als er wollte sehen lassen. Er irrte im Garten umher, strich um die Kasse herum und lächelte dabei dem alten Planus durch die Scheiben trüb und traurig zu.

»Was hat er denn nur?« fragte sich der Biedermann. »Was mag er von mir wollen?«

Als es endlich Abend geworden und das Comptoir geschlossen werden sollte, entschloß sich Risler, einzutreten und ihn anzureden.

»Planus, alter Freund, ich möchte« – – –

Er zögerte ein wenig.

»Ich möchte den Brief – du weißt ja – und das kleine Paquet wiederhaben.«

Sigismund sah ihn verdutzt an. Er hatte sich naiver Weise eingebildet, Risler denke nicht mehr an Sidonie, habe sie völlig vergessen.

»Wie? ... Du willst – – –?«

»Ach, höre, ich habe es wohl verdient. Ich kann jetzt wohl ein wenig an mich denken. Ich habe lange genug an die andern gedacht.«

»Du hast Recht,« entgegnete Planus. »Höre, was wir thun wollen. Der Brief und das Paquet liegen bei mir zu Hause in Montrouge. Wenn du willst, diniren wir nun beide wie in der guten, alten Zeit – du erinnerst dich doch noch? – im Palais-Royal. Ich spendire ... Wir wollen deine Medaille mit Gesiegeltem, mit etwas Feinem anfeuchten! ... Dann steigen wir zusammen nach Hause. Du nimmst deinen Kram, und wenn es zur Rückkehr zu spät ist, so wird Fräulein Planus, meine Schwester, dir ein Bett zurecht machen, und du wirst bei uns schlafen ... Man wohnt da ganz gut ... auf dem Lande ... Morgen früh um sieben Uhr kehren wir dann zusammen mit dem ersten Omnibus zur Fabrik zurück ... Komm, Landsmann, mach' mir das Vergnügen. Sonst muß ich glauben, daß du deinem Sigismund noch immer grollst« ...

Risler nahm die Einladung an. Er dachte weniger daran, seine Medaille zu ehren, als vielmehr daran, den kleinen Brief, den zu lesen er endlich das Recht erworben, einige Stunden früher öffnen zu können.

Er mußte sich ankleiden. Das war eine schwere Arbeit, da er fast ein halbes Jahr nur im Arbeitsanzug gegangen war. Und welch' ein Ereignis für die Fabrik! Man benachrichtigte auf der Stelle Frau Fromont:

»Madame, Madame ... Sehen Sie doch, Herr Risler geht aus.«

Clara betrachtete ihn vom Fenster aus, und diese große, vom Kummer gebeugte Gestalt, die sich auf Planus' Arm stützte, verursachte ihr eine seltsame, tiefe Erregung, deren sie sich seitdem stets erinnerte.

Auf der Straße wurde Risler theilnahmsvoll gegrüßt. Schon diese Höflichkeit that ihm unendlich wohl. Er hatte ja soviel Wohlwollen nöthig! Aber das Wagengerassel betäubte ihn ein wenig.

»Mir schwindelt« ... sagte er zu Planus.

»Stütze dich nur fest auf mich, alter Freund ... sei unbesorgt.«

Und der brave Planus reckte sich energisch in die Höhe und führte seinen Freund mit dem naiven, fanatischen Stolze eines Bauern, der den Heiligen seines Dorfes trägt.

Endlich gelangten sie ins Palais-Royal.

Der Garten war voller Menschen. Man kam der Musik wegen, und jeder suchte unter dem Klappen der Stühle und im aufwirbelnden Staube einen Platz zu finden. Die beiden Freunde traten schnell in das Restaurant, um diesem Gewühl zu entkommen. Sie nahmen in einem der großen Salons im ersten Stockwerk Platz, von wo man das Grün der Bäume, die Spaziergänger und den Strahl des Springbrunnens zwischen den beiden melancholischen Blumenbeeten erblickt. Für Sigismund war dieser Restaurations-Saal mit seinen Vergoldungen an allen Ecken und Enden, an den Spiegeln, am Kronleuchter und sogar auf der Tapete, der Inbegriff aller Pracht. Das weiße Tischtuch, das Brötchen, die Speisekarte für das Diner zu festem Preise erfüllten ihn mit Vergnügen.

»Hier sitzen wir gut, nicht wahr?« ... sagte er zu Risler.

Dann erging er sich bei jedem Gerichte dieses lucullischen Mahls zu zwei und einem halben Franken in enthusiastischen Bemerkungen und füllte mit Gewalt den Teller seines Freundes.

»Iß das ... es ist ausgezeichnet.«

Der andere schien trotz des besten Willens, dem Feste Ehre zu erweisen, sehr in Gedanken versunken und schaute beständig aus dem Fenster.

»Erinnerst du dich noch, Sigismund?« ... bemerkte er nach einer Pause.

Der alte Kassirer, der in Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, an den Eintritt Rislers in die Fabrik schwelgte, erwiderte hastig:

»Das wollt' ich meinen ... Gewiß! Das erste Mal, wo wir im Palais-Royal zusammen dinirten, das war im Februar sechsundvierzig, in demselben Jahre, in welchem in der Fabrik die neuen Walzen eingeführt wurden.«

Risler schüttelte den Kopf:

»Nein, nein ... Ich spreche von vor drei Jahren ... Dort, da drüben, haben wir an jenem herrlichen Abend zusammen dinirt.«

Und dabei deutete er auf die großen Fenster des Véfourschen Salons, den die untergehende Sonne wie die Kronleuchter eines Hochzeitsmahles in Glut tauchte.

»Richtig! das ist ja wahr« ... murmelte Sigismund ein wenig verwirrt. Was für eine unglückliche Idee war es doch von ihm gewesen, den Freund an einen Ort zu führen, der so peinliche Erinnerungen in ihm wachrief!

Risler wollte dem Mahle keinen traurigen Anstrich geben und griff ungestüm nach seinem Glase.

»Wohlan! Auf deine Gesundheit, alter Kamerad!«

Er suchte dem Gespräche eine andere Wendung zu geben. Aber eine Minute später brachte er selbst es wieder auf diesen Gegenstand zurück und fragte Sigismund leise, als ob er sich schäme:

»Hast du sie gesehen?«

»Deine Frau? ... Nein, nie.«

»Sie hat auch nicht wieder geschrieben?«

»Nein ... nie wieder.«

»Aber du mußt doch Nachrichten haben. Was hat sie während dieser sechs Monate gemacht? Lebt sie bei ihren Eltern?«

»Nein.«

Risler erbleichte.

Er hatte gehofft, sie würde zu ihren Eltern zurückgekehrt sein, würde gearbeitet haben wie er, um zu vergessen und zu büßen. Er hatte oft überlegt, daß er sein künftiges Leben nach dem regeln wolle, was er über sie hören würde, wenn er erst wieder von ihr reden dürfe, und hatte sich zuweilen in einem jener Zukunftsbilder, welche unbestimmt sind wie Träume, mit den Chèbes in ein unbekanntes Land übersiedeln sehen, wo nichts ihn an die frühere Schmach mahnen würde. Das war kein Entwurf, kein Plan, gewiß nicht – aber das lebte im Grunde seiner Seele wie eine Hoffnung, wie jenes Bedürfnis des Glücks, das in allen Wesen wohnt.

»Ist sie in Paris?« ... fragte er, nachdem er einige Augenblicke nachgedacht hatte.

»Nein ... Sie ist vor drei Monaten verschwunden. Kein Mensch weiß, wohin sie gegangen ist.«

Sigismund verschwieg, daß sie mit ihrem Casaboni abgereist war, dessen Namen sie jetzt führte, daß beide zusammen die Städte in der Provinz bereisten, daß ihre Mutter in Verzweiflung sei, sie nicht mehr sah und nur durch Delobelle Nachrichten über sie erhielt. Sigismund glaubte nichts von alledem sagen zu dürfen, und nach seinen letzten Worten: »Sie ist verschwunden« schwieg er.

Risler seinerseits wagte nicht mehr weiter zu fragen.

Während sie so, ziemlich verlegen über dies lange Schweigen, einander gegenüber saßen, begann unter den Bäumen die Militärmusik zu spielen. Man executirte eine jener italienischen Opern-Ouvertüren, die eigens für den freien Himmel der öffentlichen Promenaden componirt zu sein, und deren zahllose Töne im Aufsteigen mit dem Gezwitscher der Schwalben und dem perlenden Geplätscher des Springbrunnens zu verschmelzen scheinen. Die schmetternden Blasinstrumente heben die laue Milde der in Paris so langen Sommerabende hervor – man scheint nur sie allein zu hören. Das ferne Rollen der Räder, das Geschrei der spielenden Kinder, die Schritte der Spaziergänger werden von diesen sprudelnden, erfrischenden, sonoren Tonwellen verschlungen, die den Parisern ebenso dienlich sind wie das tägliche Besprengen ihrer Promenaden. Die müden Blumen rings umher, die staubweißen Bäume, die Gesichter, welche die Hitze bleich und blaß macht, all die Trauer, all das Elend einer großen Stadt, das gekrümmt und träumerisch auf den Bänken des Gartens hockt, empfangen einen erleichternden, stärkenden Eindruck von dieser Musik. Die Luft wird bewegt und erneuert durch diese Accorde, die sie durchschneiden und dabei mit Wohllaut erfüllen.

Der arme Risler empfand ein Nachlassen in der Spannung aller seiner Nerven.

»Das thut wohl, so ein wenig Musik« ... sagte er mit glänzenden Augen. Und mit heiserer Stimme fügte er hinzu:

»Das Herz ist mir schwer, alter Freund ... Wenn du wüßtest« – – –

Während man ihnen den Kaffee servirte, blieben beide, ohne zu sprechen, am Fenster lehnen.

Dann hörte die Musik auf, der Garten wurde leer. Das Sonnenlicht, das noch an den vorspringenden Ecken haftete, stieg langsam zu den Dächern empor und warf seine letzten Strahlen auf die Fenster der höchsten Mansarden, während die Vögel, die Schwalben, von der Dachrinne aus, auf der sie dicht zusammengedrängt hockten, den scheidenden Tag mit einem letzten Zwitschern grüßten.

»Nun ... wohin jetzt?« fragte Planus, als sie das Restaurant verließen.

»Wohin du willst.«

Da ganz in der Nähe, in einer Bel-Etage der Rue Montpensier, befand sich ein Café chantant, in das viele Leute eintraten.

»Wie wär's, wenn wir hinaufgingen?« ... fragte Planus, der um jeden Preis die Traurigkeit seines Freundes bannen wollte. »Das Bier ist ausgezeichnet.«

Risler ließ sich fortziehen. Seit sechs Monaten hatte er kein Bier getrunken ...

Das Café war ein ehemaliges Restaurant, das man in einen Concertsaal umgewandelt hatte. Drei große Zimmer, deren Scheidewände entfernt worden waren, folgten auf einander, gestützt und getrennt durch vergoldete Säulen. Die Dekoration war im maurischen Stile ausgeführt: feuriges Roth und mildes Blau mit kleinen Halbmonden und zusammengerollten Turbanen als Ornamenten.

Obgleich es noch nicht spät war, war alles bereits überfüllt, und man erstickte schon, noch bevor man eintrat, beim bloßen Anblick der um die Tische gruppirten Menschenmasse und der weißgekleideten Frauen, die in der Hitze und dem blendenden Lichte des Gases in langer Reihe auf einer von den Säulen halbverdeckten Estrade im Hintergrunde saßen.

Es kostete unsern beiden Freunden viel Mühe, einen Platz zu erobern. Sie kamen noch dazu hinter eine Säule zu sitzen, die ihnen den Anblick der halben Estrade entzog, auf der eben ein prächtig frisirter, pomadisirter, geschniegelter und gebügelter Herr im schwarzen Frack und gelben Handschuhen mit vibrirender Stimme sang:

»Ihr Löwen in goldner Mähnenpracht,
Befleckt vom Blut der Heerden,
Zurück! Ich halte treue Wacht!« ...

Das Publikum – Kleinkrämer aus dem Viertel mit ihren Frauen und Töchtern – schien sehr begeistert, besonders die Damen. Dieser herrliche Wüstenhirt, der die Löwen mit solcher Autorität anredete und im Gesellschaftsanzuge seine Schafe hütete, war so recht das Ideal aller Ladenjungfern-Träume. Daher streckten auch alle diese Damen trotz ihres bürgerlich zimperlichen Benehmens, ihrer bescheidenen Toiletten und der Banalität ihres Ladentisch-Lächelns begierig ihre kleinen Schnäbel nach diesem Gefühlsköder aus und warfen dem Sänger schmachtende Blicke zu. Das Komische dabei war, wie dieser Blick, der der Estrade galt, sich plötzlich veränderte und bitter und verächtlich ward, sobald er auf den Gatten fiel, den armen Gatten, der da eben seiner Frau gegenüber ruhig seinen Schoppen trank: »Ja, du, du wärest nicht im Stande, den Löwen vor der Nase treue Wacht zu halten, und noch dazu im schwarzen Frack und gelben Handschuhen« ...

Und das Auge des Gatten schien wahrhaftig darauf zu erwidern:

»Ei ja, gewiß, das ist ein Teufelskerl, der da.«

Ziemlich gleichgiltig gegen einen derartigen Heroismus, schlürften Risler und Sigismund ihr Bier, ohne viel auf die Musik zu achten. Nach Beendigung der Romanze aber und während des nun folgenden Applauses, Geschreis und Getöses rief der alte Planus Plötzlich aus:

»Sieh doch! Das ist doch seltsam ... man sollte meinen ... aber gewiß, ich täusche mich nicht ... Er ist's, es ist Delobelle!«

Er war es in der That, der berühmte Schauspieler, den er eben da hinten in der ersten Reihe dicht an der Estrade entdeckt hatte. Sein ergrauendes Haupt zeigte sich im Profil. Nachlässig lehnte er mit dem Hute in der Hand an einer Säule, und zwar in seiner Galatoilette für die ersten Vorstellungen: in blendend weißer Wäsche, gebranntem Haar und schwarzem Frack mit einer Camelie im Knopfloch, die wie ein Orden aussah. Von Zeit zu Zeit betrachtete er mit sehr überlegener Miene die Menge im Saale, am häufigsten aber wandte er sich zur Estrade und zwar mit liebenswürdigem Gesichte, einem ermuthigenden Lächeln auf den Lippen und scherzhaften Beifallsäußerungen, die an jemand gerichtet waren, den Planus von seinem Platze aus nicht sehen konnte.

Die Anwesenheit des berühmten Delobelle in einem Café chantant war an sich nichts Seltsames, da er ja alle seine Abende außer dem Hause zubrachte, dessen ungeachtet aber empfand der alte Kassirer doch eine gewisse Unruhe, besonders als er in derselben Zuschauerreihe eine blaue Kapuze und stahlblaue Augen entdeckte. Das war Frau Dobson, die sentimentale Gesanglehrerin. Im Tabaksqualm und dem Gewühl der Menge machten diese beiden Gesichter auf Sigismund den Eindruck zweier Geistererscheinungen, wie solche die Zufälle eines bösen Traums heraufbeschwören. Er fürchtete für seinen Freund, ohne genau zu wissen, weshalb, und sogleich kam ihm auch die Idee, denselben fortzuführen.

»Laß uns gehen, Risler ... Man kommt hier um vor Hitze.«

In dem Augenblicke, wo sie aufstanden – denn Risler ging ebenso gern, wie er blieb – stimmte das aus einem Klavier und mehreren Geigen bestehende Orchester ein bizarres Ritornell an. Im Saale entstand eine neugierige Bewegung. Man rief: »St! ... Ruhe! ... Setzen!«

Sie waren also genöthigt, ihre Plätze wieder einzunehmen. Übrigens begann Risler unruhig zu werden.

»Ich kenne diese Melodie,« sagte er zu sich selbst. »Wo habe ich sie nur schon gehört?«

Ein donnernder Beifallssturm und ein gleichzeitiger Ausruf Sigismunds veranlaßten ihn, aufzublicken.

»Komm, komm ... laß uns gehen« ... sagte der alte Kassirer, indem er ihn fortzuziehen suchte.

Aber es war zu spät.

Risler hatte bereits seine Frau an den Rand der Estrade treten und sich mit dem Lächeln einer Tänzerin vor dem Publikum verbeugen sehen.

Sie trug ein weißes Kleid wie in jener Ballnacht. Aber ihre ganze Toilette war jetzt weniger reich und ihr Benehmen von verletzender Zwanglosigkeit.

Das Kleid bedeckte kaum die Schultern, ihr Haar hing wie ein blonder Nebel über die Stirn herab, und um den Hals schlang sich eine Kette von Perlen, die viel zu groß waren, als daß sie hätten ächt sein können. Delobelle hatte recht: sie bedurfte des Zigeunerlebens. Ihre Schönheit hatte dabei einen gewissen sorglosen Ausdruck gewonnen, der sie charakterisirte und aus ihr den Typus der dem Gatten entlaufenen Frau machte, die, allen Zufällen preisgegeben, von Stufe zu Stufe bis zum tiefsten Grunde der Pariser Hölle hinabsinkt, ohne daß irgend etwas in der Welt stark genug wäre, sie der reinen Luft und dem Lichte wiederzugeben.

Und wie wohl schien sie sich bei ihrem Komödiantenthum zu fühlen! Mit welcher Sicherheit sie auf dieser Estrade vortrat! Ach, hätte sie den verzweiflungsstarren, entsetzlichen Blick sehen können, der hinter einer Säule hervor auf sie gerichtet wurde, ihr Lächeln würde nicht so schamlos ruhig gewesen sein, ihre Stimme würde nicht diese schmeichelnden, schmachtenden Töne gefunden haben, mit denen sie jetzt die einzige Romanze girrte, die Frau Dobson ihr je hatte beibringen können:

»Arme kleine Mamsell Zizi –
Die Liebe, die Liebe
Hat ihr den Kopf verdreht.«

Risler hatte sich trotz aller Anstrengungen Sigismunds erhoben.

»Setzen! ... Setzen!« ... schrie man ihm zu.

Der Unglückliche hörte nichts.

Er starrte seine Frau an.

»Die Liebe, die Liebe
Hat ihr den Kopf verdreht«

wiederholte Sidonie mit Affectirtheit.

Eine Minute lang fragte er sich, ob er nicht auf die Estrade stürzen und alles tödten solle. Ein rother Nebel legte sich vor seine Augen, er war blind vor Wuth.

Dann aber ergriffen ihn plötzlich Scham und Abscheu, und er stürzte hinaus, Tische und Stühle umwerfend und verfolgt von der Bestürzung und den Schmähungen der entrüsteten Spießbürger.


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