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VI. Sie hat versprochen, es nicht wieder zu thun.

Nein, sie wird es nicht wieder thun. Der Herr Commissar mag ruhig sein. Es hat keine Gefahr, daß sie es wieder thut. Wie sollte sie es auch jetzt anfangen, um bis zum Flusse zu kommen, jetzt, wo sie nicht einmal mehr aus ihrem Bette kann? Wenn der Herr Commissar sie jetzt sähe, würde er nicht mehr an ihrem Worte zweifeln. Das Verlangen, die Sehnsucht nach dem Tode, die sich an jenem Morgen so schaurig auf dem bleichen Gesichte ausprägten, sind allerdings auch jetzt noch an ihrer ganzen Erscheinung sichtbar, nur sind sie milder, leidenschaftsloser. Die *** Delobelle weiß, daß sie, wenn sie nur noch ein wenig, ein ganz klein wenig wartet, nichts mehr zu wünschen haben wird.

Die Ärzte behaupten, sie sterbe an einer Lungenentzündung, die sie sich in den nassen Kleidern geholt habe. Die Ärzte täuschen sich: es ist keine Lungenentzündung. Dann stirbt sie also an ihrer Liebe? ... Nein. Seit jener schrecklichen Nacht denkt sie nicht mehr an Franz, fühlt sie sich nicht mehr würdig, zu lieben und geliebt zu werden. Es giebt jetzt einen Flecken, einen Makel in ihrem reinen Leben, und eben daran stirbt sie.

Jede der unvorhergesehenen Lösungen des schrecklichen Dramas ist in ihren Augen ein Schmutzfleck: ihr Herauskommen aus dem Wasser angesichts so vieler Männer, ihr ohnmachtähnlicher Schlaf auf der Wache, die unsaubern Lieder, die sie dort gehört hat, die Wahnsinnige, die sich am Ofen wärmte, alles was ihr Lasterhaftes, Ungesundes, Verletzendes auf der Treppe des Commissariats begegnete, und dann die Verachtung, die sich in gewissen Blicken malte, die Frechheit anderer, die Scherze ihres Retters, die Galanterien des Polizeiagenten, die auf immer verlorene weibliche Schüchternheit, die Angabe ihres Namens, endlich noch ihr Gebrechen, das sie wie ein Hohn, wie eine Vergrößerung der Lächerlichkeit ihres Selbstmordversuchs aus Liebe in allen Phasen ihres langen Martyriums begleitete – – –

Sie stirbt vor Scham, sage ich euch. In ihren nächtlichen Fieberphantasien wiederholt sie's ohne Unterlaß: »Ich schäme mich ... ich schäme mich« ... Und in den Momenten der Ruhe hüllt sie sich fest in die Decken und zieht dieselben sogar übers Gesicht, als ob sie sich verstecken, sich vergraben möchte.

Dicht neben dem Bett, am Fenster, sitzt Mama Delobelle mit ihrer Arbeit und giebt auf ihre Tochter Acht. Von Zeit zu Zeit schaut sie auf, um diese stumme Verzweiflung, diese unerklärliche Krankheit zu belauschen, dann aber greift sie schnell wieder zu ihrer Arbeit, denn es ist eins der größten Leiden des Armen, daß er sich seinem Schmerze nicht nach Belieben hingeben darf. Er muß arbeiten und selbst angesichts des Todes an die dringenden Erfordernisse und die Sorgen des Lebens denken.

Der Reiche kann sich völlig seinem Schmerze hingeben: er kann sich in denselben versenken, kann ihm leben und braucht nur zweierlei zu thun: leiden und weinen.

Der Arme hat weder die Mittel noch das Recht dazu. Bei mir zu Hause, auf dem Lande, war eine alte Frau, die im nämlichen Jahre ihren Mann und ihre Tochter verloren hatte, zwei furchtbare Prüfungen, die schnell auf einander folgten. Aber sie hatte noch Knaben zu erziehen und ein Pachtgut zu bewirthschaften. Da mußte sie von Tagesanbruch an thätig sein, allen Anforderungen gerecht werden, die verschiedensten Arbeiten auf dem Felde an oft weit von einander entfernten Stellen beaufsichtigen. Diese Witwe sagte mir: »In der Woche bleibt mir nicht eine Minute zum Weinen, sonntags aber, o, sonntags, da hole ich es nach« ... Und während die Kinder draußen spielten oder umhersprangen, schloß sie sich an diesem Tage in der That zu Hause ein und verbrachte den Nachmittag damit, zu weinen, zu schluchzen und im öden Hause nach ihrem Gatten und ihrer Tochter zu rufen.

Mama Delobelle hatte nicht einmal ihren Sonntag. Man bedenke nur, daß sie jetzt allein arbeitete, daß ihre Finger nicht die wunderbare Gewandtheit der kleinen Hände Désirées besaßen, daß die Arzneien theuer waren, und daß sie um nichts auf der Welt dem »Vater« eine seiner theuern Gewohnheiten hätte entziehen mögen. Zu welcher Stunde daher auch die Kranke die Augen aufschlug, immer sah sie ihre Mutter im bleichen Lichte des Morgens oder beim Schimmer der nächtigen Lampe unablässig bei der Arbeit sitzen.

Wenn die Bettvorhänge geschlossen waren, hörte sie das leise, trockene, metallische Klirren der auf den Tisch gelegten Scheere.

Diese Anstrengung ihrer Mutter, diese Schlaflosigkeit, die ein beständiger Gefährte ihres Fiebers war, schmerzten sie sehr. Zuweilen überstieg dies Leid alles andere.

»Bitte, gieb mir ein wenig meine Arbeit her,« sagte sie dann, indem sie sich im Bette aufzurichten suchte. Das war ein Lichtstrahl in diesem Dunkel, das mit jedem Tage dichter wurde. Mama Delobelle, die in diesem Verlangen der Kranken ein Wiedererwachen der Lust am Leben sah, setzte sie so gut als möglich im Bett zurecht und rückte den Tisch näher. Aber die Nadel war zu schwer, die Augen zu schwach, und das geringste Wagengerassel unten auf dem Pflaster, die Rufe, die bis zum Fenster heraufschollen, erinnerten Désirée daran, daß die Straße, die abscheuliche Straße, ganz in ihrer Nähe sei. Nein, es fehlte ihr entschieden die Kraft zum Leben. Ja, wenn sie erst hätte sterben können und dann wieder von neuem geboren werden ... Inzwischen siechte sie hin und sagte sich nach und nach völlig von allem los. Zuweilen sah die Mutter, bevor sie einen neuen Faden nahm, zu ihrem immer bleicher werdenden Kinde herüber:

»Wie geht es dir?«

»Sehr gut« ... erwiderte die Kranke mit einem leichten, schmerzlichen Lächeln, das einen Moment lang ihr leidendes Gesicht erhellte und nur um so deutlicher die Verwüstung zeigte, die der Schmerz auf demselben angerichtet hatte, gerade wie ein Sonnenstrahl, der in eine ärmliche Wohnung fällt, nur deren ganze Trübseligkeit und Ärmlichkeit hervorhebt, anstatt ihr einen heitern Anstrich zu geben. Dann schwiegen beide lange, die Mutter, weil sie in Thränen auszubrechen fürchtete, die Tochter, weil das Fieber sie umfangen hielt und sie bereits jene unsichtbaren Schleier umhüllten, mit denen der Tod mitleidsvoll die Sterbenden umwindet, um dadurch ihre letzten Kräfte zu lähmen und sie sanfter, ohne Kampf und Widerstand, hinüberzutragen.

Der berühmte Delobelle war nie zugegen. Er hatte an seiner Lebensweise als stellenloser Künstler nichts geändert. Und doch wußte er, daß seine Tochter im Sterben lag – der Arzt hatte es ihm gesagt. Diese Nachricht hatte ihn sogar heftig erschüttert, denn im Grunde genommen liebte er sein Kind innig, aber bei dieser seltsamen Natur nahmen sogar die wahrsten und tiefsten Gefühle eine falsche, unnatürliche Haltung an, ganz jenem Gesetze gemäß, dem zufolge kein Gegenstand, der auf eine schief stehende Fläche gestellt wird, gerade zu stehen scheint.

Delobelle ließ es sich vor allem angelegen sein, seinen Schmerz spazieren zu führen und zur Schau zu stellen. Er spielte den unglücklichen Vater von einem Ende des Boulevard bis zum andern. Man traf ihn an den Eingängen der Theater und in den Schauspieler-Cafés mit gerötheten Augen und bleichem Antlitz. Er ließ sich mit Vorliebe fragen: »Nun, armer Junge, wie geht's bei dir zu Hause?« Dann schüttelte er mit einer nervösen Bewegung den Kopf, schnitt ein Gesicht, als ob er Thränen zurückhalte und einen Fluch unterdrücke und durchbohrte den Himmel mit einem stummen, zornigen Blick, gerade wie wenn er den »Kinderarzt« spielte. Das alles hinderte ihn übrigens nicht, seiner Tochter die zarteste Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit zu bezeigen.

So hatte er, seitdem sie krank lag, die Gewohnheit angenommen, ihr von seinen Streifereien durch Paris Blumen mitzubringen. Dabei begnügte er sich nicht mit gewöhnlichen Blumen, mit den bescheidenen Veilchen, die an allen Straßenecken für die magern Börsen blühen, sondern er mußte trotz der trüben Herbsttage Rosen und Nelken haben, besonders aber weißen Flieder, jenen in den Gewächshäusern gezogenen Flieder, dessen Blüten sammt dem Schaft und den Blättern von dem nämlichen Grünweiß sind, als ob die Natur in der Eile sich auf eine einzige Farbe beschränkt hätte.

»O, das ist zu viel ... viel zu viel ... ich werde böse,« sagte die kranke Kleine jedesmal, wenn sie ihn mit dem Strauße in der Hand triumphirend ins Zimmer treten sah. Er nahm aber eine so großspurige Miene an, wenn er antwortete: »Laß doch ... laß doch« ... daß sie nicht weiter auf ihrem Willen zu bestehen wagte.

Und doch war das eine große Ausgabe, und die Mutter hatte ihre Noth, um für alle den Unterhalt zu verdienen ...

Aber anstatt sich zu beklagen, fand Mama Delobelle das sehr schön von ihrem großen Manne.

Diese Geringschätzung des Geldes, diese erhabene Sorglosigkeit erfüllten sie mit Bewunderung, und mehr als je glaubte sie an das Genie und die theatralische Zukunft ihres Gatten.

Auch er bewahrte während aller dieser Begebenheiten ein unerschütterliches Vertrauen. Indessen fehlte nur wenig, so hätten seine Augen sich endlich der Wahrheit erschlossen. Nur wenig fehlte, und eine kleine, fieberheiße Hand, die sich auf diesen stolzen, eingebildeten Schädel legte, hätte endlich den Wahn verjagt, der schon so lange in demselben spukte. Das kam folgendermaßen:

Eines Nachts erwachte Désirée plötzlich in einem ganz eigentümlichen Zustande. Es muß vorausgeschickt werden, daß der Arzt bei seinem Besuche am Tage zuvor sehr erstaunt gewesen war, sie plötzlich ruhiger und von Fieber frei zu finden. Ohne sich die Ursache dieser unverhofften Besserung erklären zu können, hatte er sich mit den Worten verabschiedet: »Warten wir ab«, indem er diesem Wiederaufschnellen der Jugendkraft vertraute, jener Kraft, die oft sogar noch auf die Anzeichen des Todes ein neues Leben pfropft. Wenn er aber unter Désirées Kopfkissen nachgesehen hätte, so würde er dort einen Brief mit dem Poststempel »Cairo« gefunden haben, der das Geheimnis dieses glücklichen Umschwungs erklärte: vier Seiten mit der Unterschrift »Franz«, der seiner theuren kleinen Zizi alles bekannte und erklärte.

Das war der Brief, den die Kranke in ihren Träumen ersehnt hatte. Ja, wenn sie ihn selbst dictirt hätte, so würden all die Worte, die ihr Herz rühren, all die zarten Entschuldigungen, die ihre Wunden heilen sollten, nicht so völlig zum Ausdruck gekommen sein wie jetzt. Franz bereute, bat um Verzeihung und erzählte seiner treuen Freundin, ohne ihr etwas zu versprechen und namentlich ohne etwas von ihr zu erbitten, von seinen Kämpfen, seinen Gewissensbissen, seinen Leiden. Er drückte sich mit der äußersten Entrüstung über Sidonie aus, bat Désirée dringend, ihr nicht zu trauen und sprach dann mit einer Empfindlichkeit, welche die einstige Liebe scharfsichtig und furchtbar machte, von dieser flachen, verderbten Natur, von dieser hellen Stimme, die sich so gut zum Lügen eignete und nie durch einen Herzton verrathen wurde, weil sie aus dem Kopfe kam wie alle Leidenschaftsergüsse dieser Pariser Puppe.

Welches Unglück, daß dieser Brief nicht einige Tage früher gekommen war! Jetzt glichen alle diese lieben Worte in Bezug auf Désirée den köstlichen Gerichten, die einem vor Hunger Sterbenden zu spät vorgesetzt werden. Er athmet den Duft ein, er verlangt nach ihnen, aber er hat nicht mehr die Kraft, davon zu kosten. Während des ganzen Tages las die Kranke den Brief immer wieder von neuem. Sie zog ihn aus dem Couvert, faltete ihn dann zierlich und sorgsam wieder zusammen und sah ihn, sogar wenn sie die Augen schloß, immer noch vor sich mit allen Einzelheiten bis auf die Farbe der Postmarke. Franz hatte ihrer gedacht! Das reichte hin, um sie in süße Ruhe zu wiegen, und so schlummerte sie schließlich ein, mit dem Eindruck als ob ihr schwaches Haupt von starkem Freundesarm gestützt würde.

Plötzlich erwachte sie und zwar, wie wir bereits sagten, in einem eigentümlichen Zustande. Eine Schwäche, eine Angst bemächtigte sich ihres ganzen Wesens – es war etwas Unbeschreibliches. Es kam ihr vor, als hinge sie mit dem Leben nur noch durch einen straff gespannten, bis zum Reißen straff gespannten Faden zusammen, dessen nervöses Vibriren allen ihren Sinnen eine übernatürliche Feinheit und Schärfe verlieh. Es war Nacht. Das Zimmer, in welchem sie schlief – man hatte ihr das Zimmer der Eltern eingeräumt, das luftiger und geräumiger war als ihr kleiner Alkoven – lag halb im Dunkel. An der Decke drehten sich kreisrunde Lichtscheiben, die Reflexe der Nachtlampe, des melancholischen Gestirns, zu dem die Kranken während ihrer schlaflosen Nächte aufschauen, während die Lampe auf dem Arbeitstische, deren Schein der Lichtschirm auf bestimmte Grenzen beschränkte, nur die auf dem Tisch ausgebreitete Arbeit und die Silhouette der Mama Delobelle beleuchtete, die in ihrem Sessel eingeschlafen war.

In Désirées Köpfchen, das ihr nicht mehr so schwer schien wie sonst, entstand jetzt plötzlich ein hastiges Hin und Her von Gedanken und Erinnerungen. Die ganze Vergangenheit schien nochmals an ihr vorüberzuziehen. Die geringfügigsten Begebenheiten aus ihren Kinderjahren, Scenen, die sie damals nicht begriffen, Worte, die sie wie im Traume gehört hatte, kamen ihr jetzt wieder ins Gedächtnis.

Das Kind wunderte sich darüber, ohne zu erschrecken. Sie wußte nicht, daß der großen Zerstörungsarbeit des Todes oft ein Moment seltsamer Überreizung vorausgeht, gerade als ob das Sein seine Kräfte und Fähigkeiten zu einem letzten Kampfe zusammenraffe.

Von ihrem Bette aus erblickte sie ihren Vater und ihre Mutter, die letztere ganz in ihrer Nähe, den erstern im Arbeitszimmer, dessen Thür offen stand. Mama Delobelle lag mit der Ungezwungenheit endlich befriedigter Müdigkeit in ihrem Sessel ausgestreckt, und in dieser Zwanglosigkeit während des Schlummers traten alle Falten auf ihrem Antlitz, jene Schwerthiebe, mit denen Zeit und Leiden die alten Gesichter zeichnen, herzzerreißend und unauslöschlich hervor. Am Tage ziehen der Wille und die Sorgen so zu sagen eine Maske über den wahren Ausdruck des Gesichts, nachts aber zeigt sich dieses selbst. Die tiefen Falten auf dem Gesichte der wackern Frau, die gerötheten Augenlider, das dünne und an den Schläfen weiße Haar, die in Folge der Arbeit verschrumpften Hände – das alles wurde jetzt sichtbar, und Désirée sah alles. Sie wünschte sich in diesem Augenblicke sehnlichst Kräfte genug, um aufstehen und diese schöne, ruhige Stirn küssen zu können, die die Runzeln durchfurchten, ohne sie zu entstellen.

Im Gegensatze dazu zeigte sich der berühmte Delobelle seiner Tochter durch die halb geöffnete Thür in einer seiner Lieblingsstellungen. Er saß, zu drei Vierteln ihr zugewendet, vor dem kleinen, weißen Tischtuch, auf dem sein Souper prangte, und aß, indem er dabei eine Broschüre durchflog, die ihm gegenüber an der Karaffe lehnte. Der große Mann war soeben heimgekommen – das Geräusch seiner Schritte mochte sogar die Kranke geweckt haben – und noch ganz erregt vom Gehen und dem Schwung einer guten Vorstellung speiste er nun allein, gravitätisch, feierlich zu Abend, mit der Serviette unter dem Kinn, im neuen Überrock und mit gebrannten Haaren.

Zum ersten Male in ihrem Leben ward da Désirée den auffallenden Gegensatz zwischen ihrer abgezehrten Mutter, die in ihren dürftigen, schwarzen Kleidern noch magerer und hinfälliger erschien, und ihrem glücklichen, wohlgenährten, müßigen, ruhigen, sorglosen Vater gewahr. Mit einem einzigen Blick durchschaute sie jetzt den Unterschied zwischen diesen beiden Existenzen. Der Kreis des gewohnten Lebens, in welchem die Kinder schließlich nicht mehr deutlich sehen, weil ihre Augen sich seinem besondern Lichte gemäß gebildet haben, war plötzlich für sie verschwunden. Sie beurtheilte jetzt ihre Eltern aus der Ferne, als ob sie sich unmerklich von ihnen entferne. Und auch dies Hellsehen der letzten Stunde war eine Marter für sie. Was sollte aus den beiden werden, wenn sie nicht mehr da war? Entweder würde ihre Mutter zu viel arbeiten und an der Überanstrengung sterben, oder die arme Frau würde gezwungen sein, auf jede Arbeit zu verzichten, und ihr egoistischer, immer nur mit seinem theatralischen Ehrgeiz beschäftigter Lebensgefährte würde beide allmählich ins Elend kommen lassen, in jenen düstern Schlund, der sich erweitert und vertieft, je weiter man hinabsinkt.

Und doch war er kein schlechter Mensch. Das hatte er oftmals bewiesen. Nur befand er sich in einem Zustande unbegreiflicher Verblendung, die bis jetzt nichts hatte zerstören können ... Wie, wenn sie es nun versuchte? Wenn sie, bevor sie aus dem Leben schied – eine innere Stimme sagte ihr, daß das bald geschehen würde – wenn sie jetzt die dichte Binde zerrisse, die der arme Mann sich absichtlich und mit Gewalt um die Augen schlang?

Nur eine leichte, liebe Hand wie die ihre durfte diese Operation wagen.

Nur sie allein hatte das Recht, zu ihrem Vater zu sagen:

»Verdiene dein Brot ... entsage der Bühne.«

Da die Zeit drängte, raffte Désirée Delobelle all ihren Muth zusammen und rief leise:

»Papa ... Papa« ...

Der große Mann eilte auf den ersten Ruf seiner Tochter hastig herbei. Im Ambigu war an jenem Abend eine Novität gegeben worden, und er war begeistert, elektrisirt nach Hause gekommen. Die Kronleuchter, die Beifallsrufe, die Unterhaltungen in den Gängen, alle diese aufregenden Einzelheiten, mit denen er seine Thorheit nährte, hatten ihn mehr verblendet denn je.

Stolz und strahlend trat er kerzengerade mit der Lampe in der Hand und einer Camelie im Knopfloch in Désirées Zimmer.

»Guten Abend, Zizi. Du schläfst also nicht?«

Seine Worte hatten einen heitern Klang, der in dieser traurigen Umgebung seltsam widerhallte.

Désirée gab ihm mit der Hand ein Zeichen, er möge schweigen, indem sie auf die schlafende Mama Delobelle zeigte.

»Stell' die Lampe hin ... Ich habe mit dir zu reden.«

Ihre vor Erregung stockende Stimme und der durchdringende Blick ihrer weit geöffneten Augen machten ihn betroffen.

Ein wenig befangen trat er näher, die Camelie in der Hand, um sie ihr anzubieten. Dabei spitzte er zierlich den Mund, und seine neuen Stiefel knarrten, denn er fand das aristokratisch. Seine Haltung war sichtlich gezwungen, und das war ohne Zweifel eine Folge des zu großen Contrastes zwischen dem hellerleuchteten, geräuschvollen Theatersaal, den er eben verlassen hatte, und diesem kleinen Krankenzimmer, in dessen Fieberatmosphäre Geräusch und Licht erstarken.

»Was willst du denn, Kätzchen? ... Fühlst du dich schlechter?«

Eine Bewegung des kleinen, bleichen Kopfes sagte ihm, daß sie sich in der That schlecht fühle, und daß sie ihn daher beim Reden nahe, ganz nahe bei sich haben möchte. Als er dann an ihrem Kopfkissen stand, legte sie ihre fieberglühende Hand auf den Arm des großen Mannes und flüsterte ihm leise ins Ohr ... Sie befand sich sehr schlecht, ganz schlecht. Sie spürte deutlich, daß sie nicht mehr lange zu leben habe.

»Dann wirst du mit Mama ganz allein sein, Vater ... Zittre doch nicht so ... Du wußtest ja, daß das kommen mußte, sehr bald kommen mußte ... Nur möchte ich dir sagen ... Ich fürchte, wenn ich nicht mehr da bin, hat Mama nicht die Kraft, die Wirtschaft im Stande zu erhalten ... Sieh nur, wie bleich und abgespannt sie aussieht.«

Der Schauspieler betrachtete das »heilige Weib« und schien sehr erstaunt, daß sie wirklich ein so elendes Aussehn hatte. Dann aber tröstete er sich mit der egoistischen Bemerkung:

»Sie ist nie sehr stark gewesen« ...

Diese Bemerkung und namentlich der Ton, in welchem sie gemacht wurde, empörten Désirée und bestärkten sie in ihrem Entschlusse. Ohne eine Spur von Erbarmen für die Illusionen des Schauspielers fuhr sie daher fort:

»Was soll nun aus euch beiden werden, wenn ich nicht mehr da bin? ... Gewiß, ich weiß, daß du große Hoffnungen hast, aber bis zu deren Verwirklichung ist's noch lange hin. Die Erfolge, auf die du schon so lange wartest, können noch ebenso lange ausbleiben – und was gedenkst du bis dahin anzufangen? ... Sieh, lieber Vater, ich möchte dir nicht weh thun, aber mir scheint, bei deinem Alter und bei deinem Verstande müßte es dir leicht sein – – – Ich bin überzeugt, Herr Risler senior sähe nichts lieber« – – –

Sie sprach langsam, mit Anstrengung, indem sie ihre Worte sorgfältig auswählte und die Sätze durch lange Pausen von einander trennte, immer in der Hoffnung, daß ihr Vater eine dieser Pausen durch eine Geberde oder einen Ausruf ausfüllen werde. Aber der Schauspieler verstand sie nicht. Er hörte ihr zu und sah sie mit seinen großen, runden Augen an. Dabei fühlte er dunkel, daß von diesem unschuldigen und unbestechlichen Kindergewissen eine Anklage gegen ihn erhoben werde, aber er wußte noch nicht, was für eine.

»Ich glaube, du würdest besser thun,« hub Désirée schüchtern von neuem an, »ich meine, es wäre besser – – – entsage« – – –

»He? ... Was? ... Wie?« ...

Sie hielt inne, als sie die Wirkung ihrer Worte sah. Das bewegliche Gesicht des alten Schauspielers hatte sich unter dem Einfluß einer heftigen Verzweiflung plötzlich krampfhaft verzerrt, und Thränen, wirkliche Thränen, die er nicht einmal, wie man das auf der Bühne zu thun pflegt, mit der Hand zu verbergen strebte, standen ihm in den Augen, ohne herabzufließen, so schnürte ihm die Seelenangst die Kehle zu. Der Unglückliche begann zu verstehen ... Von den beiden einzigen Wesen also, die der Bewunderung für ihn treu geblieben waren, wandte sich jetzt noch eins von ihm ab. Seine Tochter glaubte nicht mehr an ihn! Aber das war unmöglich! Er hatte schlecht verstanden, falsch gehört ... Wem sollte er entsagen? wem? wem? ... Aber angesichts dieses Blicks, der sie in stummer Angst um Gnade anzuflehen schien, gebrach es Désirée an Muth, zu vollenden. Überdies war es mit der Kraft und dem Leben des armen Kindes zu Ende.

Zwei- oder dreimal murmelte sie noch:

»Entsage – – – entsage« – – –

Dann fiel der kleine Kopf auf das Kissen zurück, und sie starb, ohne ihm gesagt zu haben, wem er entsagen, auf was er verzichten solle ...

*

Die *** Delobelle ist todt, Herr Commissar. Ich sagte Ihnen ja, sie würde es nicht wieder thun. Diesmal hat der Tod ihr den Weg und die Mühe erspart – er hat sie selber abgeholt. Und nun, Sie Ungläubiger, bürgen Ihnen vier feste, gut vernagelte Bretter für jenes Kinderwort. Sie hatte versprochen, es nicht wieder zu thun – sie wird es nicht wieder thun.

Die kleine Lahme ist todt. Das ist das Neueste im Stadtviertel, welches durch dies traurige Ereignis geradezu in Aufruhr gebracht wurde. Nicht daß Désirée, sie, die niemals ausging und nur von Zeit zu Zeit ihr bleiches Klausnergesicht und ihre in Folge der unablässigen Arbeit scharf umränderten Augen am Fenster zeigte – also nicht daß Désirée so sehr beliebt und bekannt gewesen wäre, aber bei der Beerdigung der Tochter des berühmten Delobelle mußten sich voraussichtlich viele Schauspieler einfinden, und Paris betet diese Menschen an. Es sieht diese Idole gar zu gern bei hellem Tage auf der Straße und liebt es, ihre wahre Physiognomie, losgelöst von der Übernatur der Scene, kennen zu lernen. Daher sammelte sich auch an dem betreffenden Morgen, während man mit lauten Hammerschlägen die weißen Draperien unter der engen Thür in der Rue de Braque befestigte, eine große Anzahl von Neugierigen auf dem Trottoir und dem Fahrdamme an.

Das muß man den Schauspielern lassen: sie lieben einander oder werden zum wenigsten bei allen Gelegenheiten zu äußerlichen Kundgebungen, bei Bällen, Concerten, Festdiners, Beerdigungen u. s. w. durch eine gewisse Solidarität, ein collegialisches Band zusammengeführt und zusammengehalten.

Obgleich der berühmte Delobelle dem Theater nicht mehr angehörte, obgleich seine Name bereits seit mehr als fünfzehn Jahren völlig aus den Berichten und von den Anschlagzetteln verschwunden war, genügte doch eine kleine, zwei Zeilen umfassende Notiz in einer obscuren Theaterzeitung: »Herr Delobelle, ehemaliger erster Held an den Theatern zu Metz und Alençon, hat den Schmerz erfahren« u. s. w. ... »Die Beerdigung erfolgt« u. s. w. ... um die Schauspieler aus allen Winkeln von Paris und der Umgegend in Menge herbeizurufen.

Berühmt oder nicht berühmt, bekannt oder unbekannt, sie waren alle da, sowohl die, welche mit Delobelle in der Provinz zusammengespielt hatten, als auch die, welche ihn in den Theatercafés trafen, wo er zu jenen immer bemerkten Gesichtern gehörte, die man nur schwer mit einem Namen in Zusammenhang bringen kann, deren man sich aber wegen der Umgebung erinnert, in der man sie beständig sieht, und von der sie einen Theil auszumachen scheinen; endlich auch auf der Durchreise befindliche Schauspieler aus der Provinz, die nach Paris kamen, um dort einen Director »aufzugabeln«, ein gutes Engagement zu finden.

Und alle, die Berühmten wie die Unberühmten, die Pariser wie die Provinzialen hatten nur die eine Sorge, ihren Namen von irgend einem Journal in dem Berichte über die Beerdigung genannt zu sehen. Denn diesen eitlen Naturen scheint jede Art, sich dem Publikum ins Gedächtnis zu rufen, begehrenswerth. Sie haben eine solche Furcht, das Publikum könne sie vergessen, daß sie in den Augenblicken, wo sie sich nicht auf der Bühne zeigen, das Bedürfnis empfinden, von sich reden zu machen und sich durch alle möglichen Mittel bei der schwankenden, schnell wechselnden Pariser Mode im Gedächtnis zu erhalten.

Von neun Uhr ab harrte das gesammte Kleinbürgerthum des Marais, dieser cancantanzenden Provinz, an den Fenstern, den Thüren und auf der Straße der Ankunft der »Künstler«. Ganze Werkstätten lauerten an ihren bestaubten Scheiben, Spießbürger spähten hinter ihren gestreiften Gardinen hervor, Wirtschafterinnen standen mit dem Korb am Arme, Lehrlinge mit einem Packet auf dem Kopfe.

Endlich kamen sie an, zu Fuß oder zu Wagen, einzeln oder truppweise. Man erkannte sie an den glattrasirten, am Kinn und auf den Wangen bläulich schimmernden Gesichtern, an den wenig natürlichen, zu emphatischen oder zu einfachen Mienen, an den herkömmlichen Gesten und besonders an der überströmenden Sentimentalität, eine Folge der Übertreibung, wie sie die Optik der Bühne nöthig macht. Die Art und Weise, in der diese braven Leute bei diesem schmerzlichen Anlaß ihre Gemüthserschütterung kundgaben, war für den Beobachter wirklich interessant. Jeder betrat den dunkeln, gepflasterten, kleinen Hof des Sterbehauses, als ob er die die Welt bedeutenden Bretter beträte, immer seinem Rollenfache gemäß. Die ersten Helden, mit düsterer Miene und gerunzelter Stirn, begannen sämmtlich damit, daß sie bei der Ankunft mit der Spitze des Handschuhs eine Thräne aus dem Auge wischten, die sie nicht mehr unterdrücken konnten; dann seufzten sie, schauten zum Himmel empor und blieben mitten auf der Bühne, d. h. auf dem Hofe stehen, indem sie den Hut auf die Hüfte stemmten und, um ihren Schmerz zu bezähmen, ein wenig mit dem linken Fuße stampften: »Schweig', mein Herz, schweige!« Die Komiker dagegen »machten« in Einfachheit. Sie redeten einander mit biedermännischer und kläglicher Miene an, nannten sich gegenseitig »armer, alter Junge« und drückten sich die Hände mit einem matten Zittern im untern Theile der Backen und einem Herabziehen der Augenwimpern und der Mundwinkel, das ihrer Rührung einen trivialen, possenhaften Anstrich gab.

Alle manierirt und alle aufrichtig ...

Gleich nach dem Eintreten schieden sich die Herren in zwei Gruppen. Die berühmten, auf der Höhe angekommenen Schauspieler sahen mit Geringschätzung auf die unbekannten, ärmlichen Robricarts herab, deren Neid diese Mißachtung mit tausend hämischen Bemerkungen vergalt: »Haben Sie bemerkt, wie H. gealtert hat, wie er gestempelt ist? ... Der wird das Fach auch nicht mehr lange behalten können.«

Der berühmte Delobelle ging in schwarzem Anzuge und schwarzen Handschuhen mit gerötheten Augen und zusammengepreßten Lippen zwischen diesen beiden Gruppen hin und her und drückte den einzelnen schweigend die Hand. Dem armen Teufel drückten die Thränen fast das Herz ab, aber das hatte ihn nicht gehindert, sich zu diesem Anlaß frisiren und das Haar brennen zu lassen. Seltsames Wesen! Niemand, der in seiner Seele hätte lesen können, würde den Punkt haben angeben können, wo der wahre Schmerz sich von der Pose des Schmerzes schied, so eng waren beide mit einander verschmolzen ... Unter den Schauspielern befanden sich auch mehrere Personen unserer Bekanntschaft: vor allem Herr Chèbe, der gewichtiger that als je und mit geschäftiger Miene um die gerade beliebten Schauspieler herumstrich, während Frau Chèbe oben der armen Mutter Gesellschaft leistete. Sidonie hatte nicht kommen können, aber Risler senior war da, beinahe ebenso ergriffen wie der Vater, der gute Risler, der Freund der letzten Stunde, der alle Kosten der traurigen Feierlichkeit bezahlt hatte. Daher waren denn auch die Trauerwagen prächtig, die Decken und Wandbehänge mit silbernen Fransen besetzt und der Katafalk mit weißen Rosen und Veilchen geschmückt. Dies bescheidene Weiß neben den Wachskerzen und diese bebenden, mit Weihwasser getränkten Blumen in dem engen, düstern Hausflur der Rue de Braque glichen so recht dem Geschick des armen Kindes, dessen leisestes Lächeln immer mit Thränen getränkt war.

Langsam, Schritt für Schritt, machte man sich durch die gewundenen Straßen auf den Weg.

Delobelle ging schluchzend an der Spitze. Seine Rolle als armer Vater, der sein Kind begräbt, rührte ihn fast ebenso sehr wie der Tod dieses Kindes selbst, denn mitten in seinem aufrichtigen Schmerze war seine ewige persönliche Eitelkeit unversehrt geblieben wie ein Stein in der Tiefe eines Bachs, den die wechselnden Wellen nicht zu verändern vermögen. Der Pomp des Leichenzuges, dessen schwarze Linie die Circulation auf den Straßen unterbrach, die schwarz behängten Wagen, die kleine Kutsche der Rislers, die Sidonie geschickt hatte, um Staat zu machen, das alles schmeichelte ihm, regte ihn aus. Einmal konnte er nicht mehr an sich halten: er neigte sich zu Robricart, der an seiner Seite ging:

»Hast du bemerkt?«

»Was denn?«

Der unglückliche Vater trocknete sich die Augen und flüsterte nicht ohne einigen Stolz:

»Es sind zwei Equipagen dabei« ...

Arme, kleine Zizi, du Einfache, du Gute! Für dich war all dieser gemachte Schmerz, dieser Zug von feierlich Trauernden nicht.

Glücklicherweise stand da oben am Fenster der Arbeitsstube hinter den geschlossenen Jalousien die Mama Delobelle, die man nicht hatte davon abhalten können, ihre Kleine scheiden zu sehen.

»Leb' wohl ... Leb' wohl« ... sagte die Mutter ganz leise, beinahe zu sich selbst, und winkte unbewußt mit der Hand wie eine Greisin oder eine Wahnsinnige.

So leise dies Lebewohl auch geflüstert wurde, Désirée Delobelle mußte es vernehmen.

*


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